Reingehört (77)

REINGEHÖRT Psychocandy Live

The Jesus And Mary Chain – Psychocandy Live Barrowlands (2015, Demon)
Der schottischen Band The Jesus And Mary Chain um die Brüder Jim und William Reid gelang mit ihrem Debüt-Album ‚Psychocandy‘ (1985, Blanco Y Negro) vor dreißig Jahren das Kunststück, den experimentellen Drone eines John Cale und die genial-dilettantischen Drei-Akkord-Riffs eines Lou Reed im Geiste der Velvet Underground mit dem jugendlichen Hau-Drauf-Pop-Punk der Ramones und der überbordenden Melodien-Vielfalt der kalifornischen Beach Boys zu kreuzen und en passant die Kreissägen-Gitarre und das Shoegazer-Metier in die Musikwelt einzuführen, der Einfluss dieser Platte auf nachfolgende Bands wie My Bloody Valentine, The House Of Love, Black Rebel Motorcycle Club oder Galaxie 500 war nicht zu überhören, und so nimmt es nicht wunder, dass die britischen C86-Pioniere das Release-Jubiläum des genialen ersten Wurfs mit konzertanten Komplettaufführungen feierten, wie man dies exemplarisch bereits von Patti-Smith- und Wedding-Present-Klassikern kennt.

Der vorliegende Mitschnitt stammt von der erstmalig kompletten Live-Darbietung des Albums im Glasgower Barrowlands Ballroom im November 2014 und überzeugt nur bedingt. All Time Favorites wie „Just Like Honey“, „Never Understand“, „Taste Of Cindy“ und „You Trip Me Up“ erscheinen glattpoliert im Stil des Nachfolgeralbums ‚Darklands‘ (1987, Blanco Y Negro), welches die rohen Ecken und Kanten des Debüts seinerzeit nahezu zur Gänze vermissen lies, der typisch-raue Schmirgelpapier-Sound der Originale fehlt in der konzertanten Darbietung komplett, und so ist es nur folgerichtig, dass sich vermehrt stilistisch passende Titel aus dem ‚Darklands‘-Album auf der Deluxe-Ausgabe dieses Live-Mitschnitts zur Ergänzung tummeln.
Die Zeit scheint stehen geblieben, die Singstimmen der Reid-Brüder wirken dunkler, älter, reifer, ansonsten bietet der Sound des Konzert-Albums kaum Neues für den jahrzehntelangen Jesus-und-Maria-Freund. Im Gegensatz zu früheren Auftritten der Band dokumentiert es kurze Konversation der Brüder mit den anwesenden Fans und das ein oder andere hingenuschelte „Thank You“, ein großer Fortschritt in Punkto Kommunikation, immerhin…

Ich habe die Band vor vielen Jahren in der Münchner Theaterfabrik gesehen, am Nikolaustag im Winter 1989, verbaler Austausch und Interaktion mit dem Publikum waren damals Fremdwörter für die Combo, man musste zu der Zeit froh sein, wenn die Kameraden anstandslos neunzig Minuten bei glasklarem Sound herunterschrubbten, ein „Hello“, „Good Night“ oder „Fuck You Munich“ war verzichtbar, kursierten doch damals Live-Bootlegs der Band mit Titeln wie „Tumulte nach einem JAMC-Konzert“, die mürrischen Brüder waren in den Achtzigern berüchtigt für ihre hinsichtlich Spielzeit extrem knapp gehaltenen Konzerte, die bei entsprechend schlechter Laune der Reids gerne auch mal nach zwanzig Minuten kurzerhand abgebrochen wurden.
Viele Jahre hegte ich den Wunsch, The Jesus And Mary Chain vor dem Gang vor den Schöpfer noch einmal konzertant genießen zu dürfen, nach Durchhören dieser Einspielung bin ich mir ob dieses Begehrens beileibe nicht mehr so sicher…
(***)

13 Kommentare

    1. Die ersten beiden Platten waren/sind schon toll. Ansonsten: „Barbed Wired Kisses“ ist eine sehr gelungene Outtake-/Singles-/B-Seiten-Sammlung aus der Frühphase, ‚Stoned & Dethroned‘ von 1994 mit dem Hope-Sandoval-Duett ist auch noch recht brauchbar.
      Viele Grüße,
      Gerhard

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    1. Ich fand beide sehr ok und ich fand vor allem gut, dass sie mit der zweiten Platte wieder was Eigenständiges produziert haben und nicht versuchten, den Sound der ersten Platte zu kopieren, wie das so viele Bands praktizieren. ‚Darklands‘ ist ohne Zweifel ein mehr als würdiger Nachfolger des Debüt-Albums.
      Viele Grüße,
      Gerhard

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  1. Gott wie ich diese Band liebe…ich wünschte, ich könnte auch sagen, ich hätte sie live gesehen. Auch von mir aus nur für 20 Minuten. Falls du mal in Berlin jemanden mit Parka siehst, wo hinten der „Psychocandy“-Schriftzug mit Liebe raufgemalt wurde, dann sprich die Person an. Das bin dann ich. *lach*

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    1. Alright, beim nächsten Mal in Berlin… ;-) Das Konzert damals war recht ordentlich, sie hatten aktuell die ziemlich schwache ‚Automatic‘-Scheibe raußen, haben aber Gottlob sehr viel aus ‚Psychocandy‘ und ‚Darklands‘ gespielt.

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  2. The Jesus and Mary Chain…das ist lange her. Danke Gerhard, für die Erinnerung. Sie waren damals zur rechten Zeit präsent und ihr Einfluss auf viele Bands und Stile reicht bis heute. Was bleibt sind einige Songs für die Ewigkeit und natürlich ihre ersten beiden Alben.
    Liebe Grüße,
    Stefan

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    1. Lieber Stefan,
      ich denke auch, die ersten beiden Alben haben dem Zahn der Zeit gut standgehalten. 30 Jahre, unglaublich, kann mich noch gut erinnern, als ‚Psychocandy‘ rauskam, ein Kumpel, der damals nur auf Punk und Experimentelles stand, motze permanent rum, das das Zeug zwar nicht grundsätzlich schlecht, aber viel zu melodien-verliebt sei ;-) Ich denke, JAMC haben damals eine gelungene musikalische Gratwanderung hingekriegt.
      Liebe Grüße,
      Gerhard

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