„Eine Woche später kehrte Mrs. Massey zurück. Sie war wieder im Badezimmer, diesmal in einer Wanne. Was Danny nicht überraschte, schließlich war sie in einer gestorben. Diesmal lief er nicht davon. Diesmal ging er hinein und schloss die Tür hinter sich. Lächelnd winkte Mrs. Massey ihn zu sich. Danny gehorchte, ebenfalls lächelnd. Aus dem Nebenzimmer hörte er den Fernseher. Seine Mutter sah ‚Herzbube mit zwei Damen‘.
‚Hallo, Mrs. Massey‘, sagte Danny. ‚Ich habe Ihnen was mitgebracht.‘
Im letzten Augenblick begriff sie und begann zu schreien.“
(Stephen King, Dr. Sleep, Vorbereitung, Schliessfach)
„Say fear’s a man’s best friend
You add it up, it brings you down“
(John Cale)
Stephen King – Doctor Sleep (2013, Heyne)
1977 ist der junge Dan Torrance, zusammen mit seiner Mutter und dem Koch Dick Hallorann, aus dem brennenden Overlook-Hotel flüchtend im winterlichen Colorado am Ende des Stephen-King-Klassikers ‚Shining‘ (1985, Bastei-Lübbe) den Fängen seines manischen Alkoholiker-Vaters Jack entkommen, im Jahr 2013 nimmt der Horror-Großmeister den Faden der Geschichte des Jungen mit den seherischen Fähigkeiten wieder auf, derartige fiktiv-biografische Übungen vollführte er bereits zusammen mit dem amerikanischen Horror-/Fantasy-Schreiber Peter Straub bei ihrer gemeinsamen Saga über den Halbwaisen Jack Sawywer in den an den Dark-Tower-Zyklus angelehnten Romanen ‚Der Talisman‘ (2004, Heyne) und ‚Das schwarze Haus‘ (2004, Heyne).
„Bei einer Signierstunde fragte irgendjemand: ‚Sagen Sie mal, haben Sie vielleicht eine Ahnung, was aus dem Jungen in Shining geworden ist?‘
Das war eine Frage zu diesem alten Buch, die ich mir schon selber oft gestellt hatte, zusammen mit einer anderen: Was wäre wohl aus Dannys krankem Vater geworden, wenn er die Anonymen Alkoholiker entdeckt hätte, statt auf eigene Faust zu versuchen, trocken zu bleiben?“
(Stephen King, Dr. Sleep, Nachbemerkung des Autors)
Anfang der 2010er-Jahre begegnen wir dem erwachsenen Dan Torrance im Fortsetzungs-Roman ‚Doctor Sleep‘ wieder und dürfen miterleben, wie er sich unstet und von der Alkohlsucht geplagt durch’s Leben schlägt, ehe er in der Kleinstadt Frazier/New Hampshire im amerikanischen Alltag inklusive Job und sozialer Bindungen ankert. Die heimelig-beschauliche Welt New Englands, die King wie so oft als Rahmen für seine Erzählungen nutzt, bekommt Risse durch die Auseinandersetzung des Protagonisten mit seiner Alkoholsucht, die Autobiografie des Autors fließt ein in die Geschichte, King selbst kämpfte jahrelang gegen Alkohol- und Drogensucht und nimmt seit 1987 an regelmäßigen Treffen der Anonymen Alkoholiker teil, wie sie auch im Roman thematisiert werden.
Im weiteren Verlauf der Story lernt Dan Torrance die jugendliche Abra kennen, die, wie er mit der Gabe des „Shining“ ausgestattet, das Drama des begabten Kindes durchlebt und auf Grund dessen von einer obskuren Camper-Sekte, die sich „Der wahre Knoten“ nennt, als Opfer auserkoren wurde, ernährt und erhält sich die fiese Bagage doch durch den sogenannten „Steam“, der bei Ableben aus den seherisch begabten Opfern austritt. Der Kampf Gut gegen Böse ist im Wesentlichen der logische weitere Verlauf der Horror-Vision, die Auflösung soll selbstredend hier nicht verraten werden.
„Die Tage waren nicht das Problem. Was die Nächte anging… Die Gedanken waren eine Schultafel. Schnaps war der Schwamm.“
(Stephen King, Dr. Sleep, Abra, Willkommen in Teenytown)
Thrill, Suspense, Erzählstil und der Plot sind grundsolider King, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Gewisse Wendungen der Erzählung sind mitunter vorhersehbar, der eigentliche Horror findet sich in der Schilderung der Auswirkungen und Umstände der Alkoholsucht-Krankheit, auf der Ebene ist King abgründig und schockierend wie lange nicht.
Das Werk ist die Fortsetzung eines der wichtigsten und erfolgreichsten Romane des amerikanischen Schriftstellers, das seinerzeit zudem Vorlage für mehrere Verfilmungen war, unter anderem für die grandiose Kino-Adaption von Stanley Kubrick mit einem herausragenden Jack Nicholson in der Hauptrolle des Jack Torrance aus dem Jahr 1980, allein aus dem Grund wird kein King-Leser, der sein Fan-Dasein mit dem nötigen Ernst versieht, um die Lektüre herumkommen.
„Du meine Scheiße, ich bin Alkoholiker, fuhr es mir durch den Kopf, und es erhob sich kein Widerspruch – immerhin hatte ich es geschafft, Shining zu schreiben, ohne zu merken, dass ich von mir selbst erzählte (…)
Am Ende meiner Abenteuer trank ich einen Kasten Bier am Abend, und ich kann mich kaum daran erinnern, den Roman ‚Cujo‘ geschrieben zu haben. Das sage ich nicht mit Stolz oder Scham, sondern mit einem verschwommenen Gefühl von Trauer und Verlust (…) Ich würde mich gerne daran erinnern, wie ich die guten Stellen niederschrieb.“
(Stephen King, Das Leben und das Schreiben, Lebenslauf)
Auf Seite 368 findet in einem Nebenstrang die an einem Magen-Karzinom erkrankte Patientin Frederika Bimmel Erwähnung, dem Leser stellt sich die Frage, was die gute Frau den amerikanischen Thriller-Schwergewichts-Champions angetan haben mag, bereits 1988 musste sie als erstes Opfer des – auf den einst real existierenden Ed Gein referenzierenden – Serienkillers Jame Gumb/Buffalo Bill in Thomas Harris‘ preisgekröntem Hardcore-Crime-Schocker „Das Schweigen der Lämmer“ herhalten…