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„Schützt Humanismus den vor gar nichts? Die Frage ist geeignet, einen in Verzweiflung zu stürzen.“
(Alfred Andersch, Der Vater eines Mörders, Nachwort für Leser)

Alfred Andersch – Der Vater eines Mörders. Eine Schulgeschichte (1980, Diogenes)

Der in München geborene und aufgewachsene Schriftsteller Alfred Andersch verarbeitet in der Erzählung „Der Vater eines Mörders“ ein Jugend-/Schul-Trauma und wirft implizit die Frage auf, ob die Brut eines sadistischen Menschenfeindes aufgrund Erziehung und elterlicher Prägung zwangsläufig wieder zum Sadisten heranwachsen muss.

„… die Roßkastanie auf dem Schulhof filterte das Licht eines schönen Maitags auf die geschlossenen Fensterscheiben des Klassenzimmers, München leuchtete, der Rex leuchtete, und doch dachten alle, was Franz dachte: jetzt sucht er sich ein neues Opfer aus.“
(Alfred Andersch, Der Vater eines Mörders)

In „Der Vater eines Mörders“ erzählt Andersch von einer Altgriechisch-Stunde am Wittelsbacher-Gymnasium in München im Mai 1928, die Geschichte mit autobiografischen Bezügen zum Autor gibt er nicht in der Ich-Perspektive wieder, er transportiert das zu Erzählende über sein Alter Ego, den Schüler Franz Kien, den er in fünf weiteren Erzählungen zur Schilderung von diversen Ereignissen aus seinem Leben verwendete.
Mit Kien als Inbegriff des verträumten, unvorbereiteten Schülers gibt Andersch die besagte Griechisch-Stunde wieder, die der Schuldirektor Gebhard Himmler, Vater des späteren Reichsführers SS und Reichsinnenministers Heinrich Himmler, spontan, geradezu Überfall-artig leitet, um den Wissensstand einzelner Schüler abzuprüfen, dabei zeigt er sich – Überwachungsstaat-gleich – bis ins Detail informiert über die schulischen Leistungen ausgewählter Kandidaten, mittels Wissen über die Schwachstellen der Schüler demütigt er den adligen Konrad von Greiff und Franz Kien vor versammelter Klasse. Der humanistisch hochgebildete Geistesmensch offenbart sich als bösartiger Inquisitor.
Die sadistische Behandlung des Rektors liegt im Falle Franz Kiens in der politischen Einstellung seines Vaters, obwohl beides Veteranen des 1. Weltkriegs, lehnt der katholisch-konservative Himmler die deutschnationalen Ansichten des alten Kien ab, dieser ist Ludendorff-Anhänger wie Heinrich, der Sohn Himmlers, der mit dem Elternhaus aufgrund politischer Differenzen gebrochen hat.

„… weil ihm der junge Himmler, obwohl er ihn nicht kannte, sympathisch war; an einem Sohn, der vor diesem Vater, vor dieser alten, abgespielten und verkratzten Sokrates-Platte stiften gegangen war, mußte ja etwas dran sein. Nur daß er zu diesem antisemitischen Herrn Hitler gelaufen war, als könne der ihm ein neuer Vater sein, gefiel Franz nicht; Franz hatte Fotos von Hitler gesehen – Hitler hatte ein Gesicht, das ihn nicht interessierte. Er sah blöd und mittelmäßig aus.“
(Alfred Andersch, Der Vater eines Mörders)

Die Erzählung Anderschs rief bei Erscheinen überwiegend positive Reaktionen hervor. In der Schullektüre dient sie seither als ein möglicher Erklärungsansatz für die Entstehung des Nationalsozialismus. Das autoritäre Elternhaus Heinrich Himmlers, das nach Anderschs Lesart geprägt war vom sadistischen Zynismus des Altvorderen, förderte demnach eine Entwicklung, die in Auschwitz ihren brutalstmöglichen Ausfluss fand. Ob eine großgedruckte, 120-seitige, schnell und unkompliziert zu lesende, immerhin literarisch ansprechende Erzählung diese Kausalität nachzuweisen vermag, darf bezweifelt werden. Andersch selbst schreibt in seinem ‚Nachwort für Leser‚ zur Erzählung, dass er in Bezug auf mögliche Ursachen und Wirkungen zu dieser Frage keine Antwort parat hat.

Bezüglich des Wahrheitsgehalts der autobiographischen Schrift herrschte bei Zeitzeugen Uneinigkeit, der Jurist Otto Gritschneder, ein ehemaliger Mitschüler Anderschs, widersprach der Darstellung der Vorkommnisse und insbesondere der Person Gebhard Himmlers in der Erzählung in einem Leserbrief an die Süddeutsche Zeitung im Jahr 1980 vehement: „Hier stimmt aber gleich gar nichts. (…) Alfred Andersch ist vielmehr (…) ganz normal durchgefallen, wegen dreier Fünfer, in Latein, Griechisch und Mathematik, wobei sich die Frage eines etwaigen Notenausgleichs schon deshalb nicht stellte, weil er auch im Deutschen nie über einen Dreier hinausgekommen war. Am 29. April 1928, ein Monat nach dem Schlußzeugnis, trat Alfred Andersch aus dem Wittelsbacher-Gymnasium aus. Das ist alles.“
Gebhard Himmler sei ein Mann von „überzeugender pietas bavarica“ gewesen (was immer das in diesem Zusammenhang bedeuten mag), die Himmlers hochanständige Leute, mit Ausnahme des Sohnes Heinrich, dem „schwarzen Schaf“ der Familie.
Der Münchner Publizist, Rechtsanwalt und Historiker Gritschneder protokollierte als Rechtsreferendar und Assessor 1938 den Prozess gegen den Jesuitenpater Rupert Mayer beim Sondergericht München und wurde daraufhin von den Nationalsozialisten wegen seines „gänzlich staatsabträglichen Wesens“ mit einem juristischen Berufsverbot belegt.

Alfred Andersch wurde 1914 in München geboren. Anderschs Vater war seit 1920 Mitglied der NSDAP, er selbst trat 1930 der KPD bei. 1944 desertierte er in Italien vom Kriegsdienst und lief zu den Amerikanern über.
Nach 1945 betätigte er sich als Journalist, von Beginn an war er Mitglied der Literaten-Vereinigung Gruppe 47. Aus Protest gegen die politische und kulturelle Entwicklung in der Bundesrepublik siedelte der zeitkritische Autor 1958 zusammen mit seiner Frau nach Berzona/Tessin in die Schweiz über, wo er 1980 starb und begraben wurde.
Zu seinen bekanntesten Werken gehören die Romane ‚Sansibar oder der letzte Grund‚ (1957), ‚Die Rote‚ (1960), ‚Efraim‚ (1967), ‚Winterspelt‚ (1974) und die Erzählung ‚Die Kirschen der Freiheit‚ (1968).

4 Kommentare

    1. ‚Sansibar‘ hat auf mich von all seinen Sachen den nachhaltigsten Eindruck hinterlassen, nicht nur wegen des Ernst-Barlach-Themas. ‚Winterspelt‘ kann ich als Roman über den 2. Weltkrieg auch empfehlen, seine beiden anderen Romane hab ich vor ewigen Zeiten gelesen, hab aber kaum mehr Erinnerung daran, kann an den Werken selber liegen oder am Abstand der Zeit, müsste ich glatt mal einer Revision unterziehen…
      Liebe Grüße,
      Gerhard

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