Reingelesen (58): James Lee Burke – Regengötter

burke

Just take a trip to the Land of the Lost
(Wipers, Land of the Lost)

„Ich weiß nicht, woher Sie diese Informationen haben, aber im Grunde ist es mir auch völlig egal. Wissen Sie, warum diese rechten Spinner hier in der Gegend der Regierung nicht trauen?“
„Nein, das weiß ich nicht.“
„Genau das ist das Problem, Sir. Sie wissen es nicht. Darüber sollten Sie vielleicht mal nachdenken.“
(James Lee Burke, Regengötter, Kapitel 27)

James Lee Burke – Regengötter (2014, Heyne)

Kann man auch als leidlich spannenden und – wie es immer so schön heißt – „atmosphärisch dichten“ – Kriminalroman lesen, den 670-Seiten-Wälzer „Regengötter“ des amerikanischen Südstaatlers James Lee Burke, man wäre dabei bestens unterhalten, es würde der umfassenden Komplexität und Vielschichtigkeit des Werks jedoch bei weitem nicht gerecht werden. Zu viel an gesellschaftskritischem Zündstoff, schwergewichtiger Southern-Gothic-Mystik und bildgewaltiger Sprachwucht drängt sich bei der Lektüre des Werks in den Vordergrund, und im Nachgang lässt sich’s sowieso immer gut schlau daherreden, aber das ungute Gefühl mag nicht weichen, dass sich in dem 2009 im Original erschienenen Werk bereits die Option eines Protestwahl-Siegers vom Schlage Trump erahnen ließ. Die im vergangenen US-Wahlkampf von Frau Clinton mit kaum mehr zu überbietender Selbstherrlichkeit und Arroganz als basket of deplorables bezeichneten Abgehängten der amerikanischen Gesellschaft tummeln sich zuhauf auf der Besetzungsliste des Romans, intensiv und realitätsnah zeichnet Burke die Charaktere der Verliererseite des American Way of Life in seinem zweiten Teil der Hackberry-Holland-Serie, das 1971 im Original erschienene Debüt der Reihe, „Lay down my sword and shield“, ist bisher leider nicht in deutscher Übersetzung erschienen.

Hackberry hatte das Gefühl, in einer Zeit zu leben, in der Gangster, die Crack an ihre eigenen Leute verkauften und Drive-bys mit automatischen Waffen verübten, als kulturelle Ikonen gefeiert wurden. Gleichzeitig schmuggelten Outlaw-Biker große Mengen Crystal Meth in die Städte Amerikas und ermordeten sich gegenseitig. Diese Menschen waren wie Figuren aus einem Mad-Max-Drehbuch, und wie jede Form kognitiver Dissonanz in einer Gesellschaft konnten sie nur existieren, weil man sie gewähren ließ und teilweise sogar vergötterte.
(James Lee Burke, Regengötter, Kapitel 28)

Hinter einer verlassenen Kirche im ländlichen Texas nahe der mexikanischen Grenze wird ein Massengrab mit den Leichen asiatischer Prostituierter gefunden, damit beginnt die langwierige und komplizierte Ermittlungsarbeit für Sheriff Hackberry Holland, der alte einsame Wolf hat neben dem Kampf gegen das organisierte Verbrechen seine ureigenen Gefechte mit der altersbedingten Gebrechlichkeit, dem seit den fünfziger Jahren mitgeschleppten Trauma aus der Kriegsgefangenschaft in einem nordkoreanischen Internierungslager und der Tragödie des frühen Verlustes der krebskranken Ehefrau auszufechten. Der Roman zeichnet sich weitaus mehr durch die Entwürfe diverser Lebenslinien und den damit verbundenen Schicksalsschlägen inklusive einhergehender Offenlegung gesellschaftlicher Misstände als durch kriminalistischen Thrill aus, mit Pete Flores, der den Mord an den Thailänderinnen meldet und damit das sprichwörtliche Höllentor öffnet, lernt die Leserschaft einen weiteren vom Krieg traumatisierten und körperlich versehrten Ex-Soldaten kennen, den sein Land nach absolviertem Dienst im Irak mit seiner posttraumatischen Belastungsstörung, seiner Alkoholsucht und der daraus bedingten Arbeitslosigkeit im Stich gelassen hat.
Von den eigenen Obsessionen und persönlichen Dramen wie dem zu rächenden Mord an nächsten Anverwandten getriebene DEA- und FBI-Agenten bevölkern diesen facettenreichen Roman, keiner kann es in Punkto Besessenheit jedoch mit dem eigentlichen Star der Geschichte aufnehmen, was der Serienmörder Jack „Preacher“ Collins an Hybris und religiösem Wahn in seinem Handeln und seiner Vita offenbart, sucht seinesgleichen in der amerikanischen Kriminalliteratur, und diese ist nicht eben arm an derart fehlgeleiteten und verkorksten Konsorten. Um keinen Bibelspruch verlegen, erratisch in seinem Handeln, ständig den Trumpf im Ärmel, der für eine handfeste Überraschung und Wendung im Fortgang der Geschichte sorgt, selten war labil und durchgeknallt so unterhaltsam und anregend wie bei einem Charakter vom Schlage des selbsternannten Predigers Collins.
Daneben tummelt sich allerhand Personal aus dem Groß- und Kleinkriminellen-Milieu, zweifelhafte Anwälte, zwielichtige Strip-Lokal-Betreiber, Auftragskiller, die weitaus lieber Architektur-Studenten wären, und eine junge, hübsche, talentierte Countrysängerin, die einem Angebot der Nitty Gritty Dirt Band nicht nachkommen mag.

Sie vertraten die gleichen fundamentalistischen religiösen Ansichten, waren nach wie vor ergebene Patrioten, trugen immer noch diese undefinierbaren, vagen und egalitären Arbeiterklasseninstinkte in sich, die manchmal an Nativismus grenzten, aber von Außenstehenden sofort und ohne große Mühe als Symptome eines tief verwurzelten Jacksonismus erkannt werden konnten. Es war das Amerika von Whitman und Jack Kerouac, von Wilma Cather und Sinclair Lewis, eine kuriose Kombination von Widersprüchen, die homerische Dimensionen angenommen hatte, ohne dass sich die Beteiligten ihrer eigenen Bedeutung für die Welt bewusst waren.
(James Lee Burke, Regengötter, Kapitel 14)

James Lee Burke beeindruckt in diesem Roman mit dem Seelen-anrührenden Tiefgang der besten Townes-Van-Zandt-Songs, einer thematischen Southern-Gothic-Intensität, eingebettet in einen sozialkritischen Kontext, wie man sie in dieser Kombination allenfalls in Arbeiten von geistesverwandten Könnern wie Donald Ray Pollock oder Jim Thompson findet, und einer beeindruckenden Beschreibung von kargen amerikanischen Südstatten-Landschaften, die der cineastischen überwältigenden Bildsprache des Kino-Klassikers „No Country For Old Men“ der Coen-Brüder gleichkommt.
Jürgen Richter hat in seiner Krimi-Couch-Würdigung des Romans angemerkt, dass der Autor hinsichtlich Spannung und Thrill das ein oder andere taktische Foul reingrätscht, das mag nicht von der Hand zu weisen sein, der literarischen Wucht des Werks kann diese lässliche Sünde nichts anhaben.
Der Heyne-Verlag hat in den letzten Jahren im Rahmen seiner „Hardcore“-Reihe weitere Burke-Romane veröffentlicht, unter anderem die „Regengötter“-Fortsetzung „Glut und Asche“ (2015).

War das Potential der Menschheit, sich in eine Affengesellschaft zurückzuentwickeln, nicht allzu offensichtlich? Hackberry hatte in einem Gefangenenlager südlich des Yalu erlebt, wie amerikanische Soldaten für einen warmen Schlafplatz, einen zusätzlichen Löffel Reis oder eine verlauste Steppjacke ihre Kameraden verrieten, und ein Ausflug in mexikanische Grenzstädte ließ wenig Zweifel daran, dass Hunger das größte Aphrodisiakum überhaupt war.
(James Lee Burke, Regengötter, Kapitel 16)

James Lee Burke wurde wiederholte Male vom Krimi-Kollegen Franz Dobler in höchsten Tönen gelobt, ein Urteil, dem sich weitere VertreterInnen der schreibenden Zunft wie Elizabeth George, Stephen King, Michael Connelly und Oliver Bottini und namhafte Literaturkritiker wie der Kriminalliteratur-Fachmann  Thomas Wörtche uneingeschränkt anschließen.
Burke wurde 1936 in Houston/Texas geboren, er verbrachte Jahre mit diversen Jobs als Lastwagenfahrer, Reporter und Sozialarbeiter und im Kampf gegen seine Alkoholsucht, bevor seine zahlreichen Romane bei einem breiteren Publikum Anklang fanden. Er wurde für den Pulitzer-Preis nominiert und zweimal mit dem „Edgar Award“ für Kriminalliteratur ausgezeichnet.
Neben der Reihe über den Sheriff Hackberry Holland hat er drei weitere, zum Teil umfangreiche Krimi-Serien veröffentlicht, verschiedene Einzel-Romane und einige Kurzgeschichten-Sammlungen.
James Lee Burke sagt in Interviews schöne Sätze wie  „Die wahren Helden unter den Schriftstellern sind diejenigen, die acht Stunden täglich im Büro oder an einer Pipeline arbeiten und danach, wenn sie hundemüde sind, noch an ihren Romanen, Gedichten oder Kurzgeschichten schreiben“ oder „Jeder, der ohne Musik leben kann, ist geistig tot“, und an der Stelle muss ich dann zum Schluss doch noch eine persönliche Anmerkung loswerden: Ein Mann ganz nach meinem Geschmack…

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7 Kommentare

  1. Ich habe erst vor Kurzem „Mississippi Jam“ gelesen und leider ein Problem mit Herrn Burke. Er zeichnet Charaktere anfangs stark aus, um sie dann später sang- und klanglos fallen zu lassen. Schade! Vielleicht muss man ja alle Bücher lesen? Gruß, Andreas

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    1. Ich kenne bisher nur „Regengötter“, da hatte ich das Problem nicht, aber wahrscheinlich wird es bei ihm so sein wie bei jedem anderen Schreiber auch: nicht alles ist vermutlich von gleich guter Qualität, kann mir vorstellen, dass bei seiner Menge an Output auch das ein oder andere nicht so gelungene Werk dabei ist.
      Viele Grüße,
      Gerhard

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  2. Na, das ist ja jetzt schon eine andere Sorte Thriller als gestern auf FB kurz geplänkelt – Deine Besprechung macht mich jedenfalls neugierig: Schon allein durch die Hinweise auf Pollock und „No Country for old men“. Wenn ein Thriller sich auf die gesellschaftlichen Abgründe stützt und zeigt, was in einer Gesellschaft schief läuft – was eben dann auch mit zu Gewalt führt – dann lese ich das gerne. Das ist einfach etwas anderes als die einfallslosen Serienkiller-Produkte, die den aktuellen Krimimarkt überschwemmen. Nach dem Motto: Wenn ich als Autor nimmer weiter weiß, dann übernimmt der Psycho für mich den Scheiß …:-)

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    1. Haha, ja, Du hast ja recht ;-))) War ja auch nur Geplänkel gestern, passt schon. Der Serienkiller in der Kriminalliteratur ist tatsächlich langsam ein totgerittenes Pferd, aber der „Preacher“ kommt in der Nummer trotzdem gut. Da Du Pollock auch schätzt, soviel ich weiß, ist das hier auf alle Fälle ein Tipp.
      Liebe Grüße,
      Gerhard

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