Reingelesen (63): Richard Ford – Kanada

„Ich weiß nur, dass man bessere Chancen in seinem Leben hat – bessere Überlebenschancen – wenn man gut mit Verlusten umgehen kann; wenn man es schafft, darüber nicht zum Zyniker zu werden.“
(Richard Ford, Kanada, Teil Drei, Kapitel 68)

Richard Ford – Kanada (2014, Deutscher Taschenbuch Verlag)

„Es gibt Kinder, die kommen ohne Schutzengel auf d‘ Welt, und der Sandmann haut ihnen Reißnägel in d‘ Augen, unterm Christbaum liegt jedes Jahr ein Packerl Tränen als Geschenk, und ein Märchenbuch, wo der Teufel immer gwinnt“ textet der österreichische Song-Poet Ludwig Hirsch auf seinem Debüt-Album „Dunkelgraue Lieder“ im Stück „Der blade Bua“, Down South Bavaria würde man zu derart prekären Lebenslagen kurz und knapp den Spruch „Der Teufel scheißt immer auf den gleichen Haufen“ zum Besten geben, beides bringt damit drastisch und überzeichnet auf den Punkt, wovon auch der Erzähler Dell Parsons im Roman „Kanada“ von Richard Ford ein Lied zu singen weiß.

Das Schicksal meint es nicht gut mit dem 15-jährigen Dell und seiner Zwillingsschwester Berner. 1960 lassen sich die Parsons in Montana nieder, der Altvordere Bev, Südstaatler mit Kopf in den Wolken, ex-Militär und gescheiterter Auto- und Immobilien-Händler, macht krumme Geschäfte mit den Indianern, wird von ihnen massiv bedroht und beschließt zusammen mit seiner Frau, zwecks Schulden-Tilgung eine Bank im Nachbar-Staat zu überfallen. Die Parsons führen eine unglückliche Ehe, Neeva, die Mutter der Zwillinge, entstammt einem jüdischen, intellektuellen Osteuropäer-Haushalt, eine feingeistige Künstler-Natur, da bleiben zwei über viele Jahre zusammen, die nicht zusammenpassen, warum Mrs. Parsons dem Gatten treu bleibt und später den Bankraub trotz besseren Wissens und moralischer Skrupel mitplant und begleitet, bleibt unklar, ein ausgeprägter Hang zum Fatalismus schwingt hier unverholen mit.
Wie nicht anders zu erwarten bei kriminellem Handeln von Dilettanten floppt der Bankraub, kurz nach der Erbeutung einer Handvoll Dollar stehen die Ermittlungsbeamten vor der Haustür, das Paar geht ins Gefängnis und die Familie hat aufgehört zu existieren. Die jugendlichen Zwillinge stehen in ihrer unendlichen Verlorenheit, Desillusionierung und Traurigkeit vor dem Scherbenhaufen ihrer Träume und Zukunftspläne, nach einem letzten Besuch bei den inhaftierten Eltern verschwindet Schwester Berner kurz darauf auf eigene Faust nach Kalifornien und führt ab dann ein unstetes Hippie-Leben inklusive etlichen gescheiterten Beziehungen und Problemen mit diversen Substanzen, man wird im weiteren Verlauf des Romans sporadisch von ihr hören.
Der Erzähler Dell entzieht sich der staatlichen Aufsicht des Staates Montana und wird von einer Freundin der Mutter illegal über die Grenze nach Kanada gebracht, wo sie den Jungen bei ihrem exzentrischen, politisch radikalisierten, wegen diverser Kapitalverbrechen aus den Staaten geflohenen Bruder unterbringt, einem Hotelier mit denkbar zweifelhaftem Ruf, hier fristet der junge Dell sein Dasein in einem Nest auf dem Land, das bessere Zeiten gesehen hat, im Ungefähren ohne jegliche konkreten Zukunftspläne. Er besucht keine Schule, ist der Gesellschaft zwielichtiger Zeitgenossen ausgesetzt und verdingt sich mit einfachen Arbeiten im Hotelbetrieb, ein täglich wiederkehrender, nach Auflösung schreiender Albtraum. Die Kindheit ist endgültig zu Ende, als der Junge Zeuge eines Doppelmordes wird, den der Erzähler bereits auf der ersten Seite des Romans ankündigt: „Zuerst will ich von dem Raubüberfall erzählen, den meine Eltern begangen haben. Dann von den Morden, die sich später ereignet haben.“
Das illusionslose Ankommen in der Realität der Erwachsenen, das Erkennen der Kausalität zwischen Tat und Schuld, es ist eine harte, radikale und schnelle Lektion, die dem ohne jeglichen geistigen und materiellen Halt in den Weiten Kanadas verlorenen Jungen widerfährt – im letzten Teil des Romans geschildert aus der Perspektive des inzwischen 65 Jahre alten, verheirateten Dell Parsons, der am Ende seines Berufslebens als Lehrer für Literatur angekommen ist, und der letztendlich seinen Werdegang und die eigene Bildung in die Hand nahm, aber selbst nach einem halben Jahrhundert nur rudimentär erklären kann, warum ihm das Schicksal in jungen Jahren derart übel mitgespielt hat, eine Metapher über die nicht zu lösenden Grundfragen des Lebens. Der Versuch, das nicht Beeinflussbare in seiner Sinnhaftigkeit zu durchdringen, muss letztendlich für den Romanhelden scheitern, auch wenn er es zu erklären versucht: „Das Vorspiel zu schrecklichen Ereignissen kann lächerlich sein, ganz wie Charley gesagt hatte, aber auch beiläufig und unauffällig. Es lohnt sich, das zu erkennen, den es zeigt den Ursprung vieler schrecklicher Ereignisse an: einen Zentimeter vom Alltag entfernt“. Immerhin gelingt es dem Protagonisten, bedingt durch Verlust und persönliche Rückschläge, die Notwendigkeit für den Blick in die Zukunft und den Drang nach Veränderung zu erkennen, ein Funken Optimismus in einer im Grundton trostlosen und verstörenden Geschichte.

„Es gibt zwei Arten von Menschen auf der Welt, verkündete Mildred. Na ja, eigentlich gibt es ganz viele Arten. Aber mindestens zwei. Erst mal diejenigen, die begreifen, dass man es nie weiß; und dann diejenigen, die meinen, man wüsste es immer. Ich gehöre zur ersten Gruppe. Ist sicherer.“
(Richard Ford, Kanada, Teil 2, Kapitel 39)

Es geht im 460-Seiten-Werk vordergründig um Bankraub und Mord, die beiden einschneidenden Ereignisse in dieser Erzählung, aber „Kanada“ ist weit von einem Spannungs- oder Kriminal-Roman entfernt. Richard Ford erzählt im Stil eines klassischen Entwicklungsromans mit der ihm eigenen, sämtliche Aspekte ausformulierenden, stetig-ruhigen Diktion, mit feingliedrigen Charakterstudien des handelnden Personals, einfach, unverstellt und ohne Schnörkel, das mag dem ungeübten Ford-Leser mitunter ermüdend und langatmig erscheinen und ist doch große Literatur, die den Zeitgeist und vor allem die Hektik der immer schnelllebigeren Entwicklungen im sozialen, politischen und technischen Umfeld völlig ausblendet – eine in Text gegossene Oase der Sorgfalt und ausführliche thematische Erörterung, man möchte es fast eine Meditation über die Sinnhaftigkeit der Fügung nennen.
„Zuweilen werden wir erst dann richtig erwachsen, wenn wir einen einschneidenden Verlust erlitten haben, so dass unser Leben uns gewissermaßen einholt und wie eine Welle über uns hinwegspült und alles mit sich reißt“, hat Richard Ford bereits 1986 in seinem ersten Roman „Der Sportreporter“ aus der Frank-Bascombe-Reihe geschrieben, ein Gedankengang, den er in „Kanada“ in ausführlicher und anregender Form wieder aufnimmt.

Richard Ford wurde 1944 in Jackson/Mississippi geboren, einer breiten Leserschaft bekannt geworden ist er vor allem durch die oben erwähnte Roman-Reihe über den Sportreporter und späteren Immobilienmakler Frank Bascombe. In den sechziger Jahren studierte er an der University of California, wo er unter anderem Vorlesungen der Schriftsteller E. L. Doctorow und Oakley Hall hörte.
Sein Werk wurde mit zahlreichen renommierten Literaturpreisen ausgezeichnet, der Nobelpreis war bisher nicht dabei, aber der ist seit der letztjährigen Lachnummer mit dem Bänkelsänger bis auf weiteres auch nicht mehr erstrebenswert.

19 Kommentare

  1. Lieber Gerhard,
    das ist Frühstückslektüre, wie ich sie schätze! Eine Rezension, die die Figuren so gut illustriert, dass ich sie quasi vor mir sehe.
    Und die zitierte Passage aus „Die Sportreporter“ wird mir noch ein Weilchen nachgehen, die berührt eine Wahrheit, mit der ich auch erst konfrontiert wurde.
    Dir einen schönen Tag und liebe Grüße,
    Natascha

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    1. Liebe Natascha,
      besten Dank. Beim Zitat aus dem „Sportreporter“ musste ich auch an unser kürzlich geführtes Gespräch denken.
      Liebe Grüße, Dir auch einen schönen Tag,
      Gerhard

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  2. Na ja, das mit dem Etikett Zynismus ist halt so eine Sache. Zynismus ist etwas, das uns angetan wird. Es gibt auch Autoren, die geben ihn bloss schreibend zurück.

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      1. Ich kenne von Ford bloss „Ein Frauenheld“. Für mich liest sich das Buch wie ein schlechter Hemingway . Aber vielleicht lässt sich diese Ein-Mann-findet-sich-selbst-Story ja auch als „Satire“ lesen?

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      2. Kenn ich leider nicht, die Kritiken dazu waren durchwachsen. Wie jeder andere Autor auch hat Ford wahrscheinlich nicht nur gute Bücher geschrieben. Hemingway selber war ja viel zu oft schlechter Hemingway… ;-))

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  3. Hab oft gelesen/gehört, Ford schreibe „langatmig“. Zwar kenne ich „Kanada“ noch nicht, aber was Ford generell anbelangt, gehe ich da eher mit Dir konform: Ich seh’s als Sorgfalt, die mir angenehm ist. Manche biedern sich der Hektik an, andere plustern ihre Stories mit Füllstoff auf – Ford erzählt gewissenhaft. (Außerdem hab ich den Ford einfach gern. Ich mag diesen Erzählansatz, den einige der Amerikaner so gut beherrschen: im Kleinen, Versteckten und Prekären zu wühlen, um das Epische darin zu finden.) Lieben Gruß, Sonja

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  4. „Eine in Text gegossene Oase der Sorgfalt“: Eben, das ist der Punkt, manche mögen es langatmig finden, ich sage – da nimmt sich einer Zeit, genau hinzuschauen und sorgfältig zu analysieren. Bei „Kanda“ wie beim Bascombe-Zyklus, den ich mir komplett reingezogen habe – weil das ein gelungenes Experiment ist, eine Figur über Jahrzehnte hinweg auch in ihrer inneren Entwicklung zu begleiten (als ob Bascombe fast ein Eigenleben entwickelt), fein ziseliert und mit Gespür für die ungesagten Dinge, die in der Männerseele toben :-)
    Du dagegen, lieber Gerhard, bist ja fast schon ein offenes Buch: ich dachte, ich trau meinen Augen nicht, dass Du auch in dieser feinen Besprechung noch ein Plätzchen für dein Dylan-Trauma findest :-)

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    1. Besten Dank, Birgit. Und wie wahr, in allen Belangen, auch hinsichtlich Dylan-Trauma ;-))) Verarbeitung hier und wahrscheinlich auch noch öfter in gebotener Schärfe, da spar ich mir wenigstens den Therapeuten… ;-)

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      1. Liebe Birgit, vielen Dank für das Angebot, aber Du glaubst doch hoffentlich nicht im Ernst, dass mir dieser abgehalfterte Nöhl-Zausel schlaflose Nächte bereitet… ??? ;-))))))

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      2. Ach schade. Ich hatte mir das schon so nett mit der Konfrontationstherapie vorgestellt – Gerhard muss sich sämtliche Dylan-Platten am Stück anhören :-) Jetzt aber wieder zurück zum eigentlichen Thema: Hab mir gerade den Sportreporter wieder aus dem Regal geholt. Reden wir lieber über Richard Frank!

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      3. Mit etlichen Dylan-Platten hätte ich da überhaupt kein Problem, alle müssten es aber bei weitem nicht sein, da würde ich dann schon irgendwann Zustände kriegen, ich sag nur aktuelles Sinatra-Gesülze oder „Ich-bin-jetzt-wiedergeborener-Christ“-Singsang aus den Achtzigern! ;-))))))
        Good Old Richard: Wirst lachen, hab mir heute gleich noch „Lage des Landes“ (auf Deine Empfehlung hin) und „Ein Stück meines Herzens“ eingefangen.

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