Henry Rollins Travel Slideshow @ Muffathalle, München, 2018-12-09

„Wortkrieger, Überzeugungstäter, Provokateur, Humorist, selbst Motivations-Trainer: Was für ein wunderbar enthusiastisches und mitreißendes Geschnatter!“
(The Washington Post)

Man kennt das aus dem Privatleben: Freundeskreis bereist ferne Länder und lädt im Nachgang zum abendfüllenden Dia-Abend, zu dem dann jeder Kaktus und jedes bettelnde Kind zigfach per Foto und verbal bis zum Erbrechen dokumentiert und kommentiert werden, ein Teil der Gäste pennt bereits weit vor dem Finale des 800-Bilder-Marathons weg, ein Teil hält sich am Bier und den gereichten Fressalien schadlos und gibt sporadisch den ein oder anderen sarkastischen Einwurf zum Besten, und der Rest heuchelt bis zum bitteren Ende aufmerksames Interesse.
Dass die Nummer auch anders über die Bühne gehen kann, hat der gute alte Henry Rollins am vergangenen Sonntagabend in der vollbepackten Münchner Muffathalle eindrücklich vorgeführt: Das amerikanische US-Punk-Urgestein, formerly known as the hardest working man in rock and roll business, ehemals berserkernder und nichts weniger als alles gebender, Muskel-bepackter Straight-Edge-Frontmann der legendären kalifornischen Hardcore-Combo Black Flag wie in späteren Jahren seiner eigenen Rollins Band (inklusive zweiter Auflage mit diesen unsäglichen Mother-Superior-Deppen), ließ auch mit seiner „Travel Slideshow“ zu keiner Sekunde Langeweile aufkommen und schwadronierte in einem einzigen, schier endlos dahinfließenden Wortschwall-Stakkato über sage und schreibe zwei Stunden fünfzehn ohne Punkt und Komma, in unseren bajuwarischen Auen und Fluren sagt man über so einen gemeinhin: „Bei dem müassns d’Goschn amoi extra daschlong“.
Als launiges, höchst unterhaltsames Entertainment, im Modus eines frei referierenden Stand-Up-Comedians, ergossen sich unzählige ineinander greifende Geschichten auf die lauschende Zuhörerschaft, die der seit über einem Jahrzehnt inaktive Punkrock-Sänger neben seinen derzeitigen anderweitigen Professionen als Radio- und TV-Moderator, Schriftsteller, Schauspieler und Spoken-Word-Artist in seiner Inkarnation als weit gereister, investigativer, rasender Reporter von seinen Aufenthalten in den entlegensten Erdteilen zu berichten wusste. Wo ihn seine frühen Konzertreisen vor allem in Nordamerika und Europa touren ließen, bereist Rollins heutzutage die Mongolei, Sibirien und die Antarktis, von amerikanischen Streitkräften heimgesuchte Staaten wie Afghanistan oder den Irak, die fernöstlichen Länder oder Krisenregionen wie Syrien oder Mali.
Nebst humorigen Geschichten wie die Anekdote über gefakte Black-Flag-Shirts im fernen Asien oder Kamele als Zuhörer beim Desert Music Festival in der Sahara ließ the great Hank auch immer wieder ernsthafte, kritische und nachdenkliche Statements verlauten. Rollins kommentierte seine Fotos aus ehemaligen Kriegsgebieten, für die es nach seinem Dafürhalten von US-amerikanischer Regierungsseite weitaus sinniger gewesen wäre, die Bevölkerung mit Nahrung und Bildung zu versorgen statt mit Waffenlieferungen und militärischen Interventionen, er machte sich Gedanken über gute und schlechte Regierungen, ausgelöst durch einen Besuch der „Killing Fields“ in Kambodscha, und schilderte seine Eindrücke im Zusammenhang mit den zerstörerischen Nachwirkungen des Kampfstoffs „Agent Orange“ mittlerweile bereits in der dritten Generation nach dem Vietnamkrieg an Beispielen von Heimkindern und den Lebensläufen ehemaliger Kämpfer des Vietcong.
Die Diashow des Henry Rollins ist weit mehr als ein locker beplauderter Bilder-Reigen, sie ist permanentes Schwanken zwischen den Extremen, eine verbale Tour de Force in einem Wechselbad der Gefühle und letztendlich das eindringlich und in bunten Farben dokumentierte Panoptikum des prallen und vielfältigen Lebens. Nebst polemischen, zuweilen extrem witzigen Geschichten fällt der ex-Punk immer wieder in Reflexionen über das Dasein auf der untersten Stufe der sozialen Leiter, etwa durch seine Begegnungen mit Menschen in Bangladesh, die Essen in Müllbergen sammeln und trotzdem ihre Würde bewahren, wie in Gedanken über die letzten Dinge des Lebens, die ihm beim zeremoniellen Leichen-Verbrennen in Bhutan durch den Kopf geisterten. Die ehemals entfesselte, ungebändigte Wut des Punk-Sängers ist mittlerweile einer gewissen Altersmilde gewichen, sein kritischer Geist ist gleichwohl wach wie eh und je.
Bei Henry Rollins liegt es auf der Hand, dass er als ausgewiesener Verehrer und Chronist zahlreicher Bands und Musiker punktuell seine Anekdoten und Anmerkungen zum Rock’n’Roll-Business in den Kontext seines Vortrags einfließen lässt, sei es zu brillanten Tuareg-Blues-Bands aus West-Afrika, sei es zu dummen Bruce-Dickinson-Statements über die Relevanz des Punkrock (der – von Rollins ironisch dokumentiert – selbst in einem mongolischen Friseur-Laden seine Spuren hinterlassen hat), zu gemeinsamen Touren mit den Beastie Boys und Cypress Hill oder zum spontanen Backgroundsänger-Auftritt zusammen mit Kumpel Jello Biafra für seinen langjährigen Freund Nick Cave. Der beschließende Teil des Abends gehörte seinem Part in der amerikanischen Punkrock-Historie: Nachdem Rollins ein paar alte Fotos präsentierte, die ihn und seinen alten Freund aus Washington-DC-Tagen, den ehemaligen Fugazi-Frontmann Ian MacKaye, als junge Skate-Punks im Flug über die Halfpipe zeigten, erzählte er die Story, wie er als spontaner und sich selbst in Stellung bringender Gast-Sänger 1981 postwendend zu seinem Black-Flag-Job kam, für ihn der Startschuss zu einem langen, bis heute andauernden Road-Trip, und damit schloss sich der thematisch weit ausholende Kreis des Abends.
Direkt und unverstellt, wie seine hart zupackende Musik in ihren besten Momenten auf den alten Alben eben auch ist, schildert Rollins unverblümt und frei von der Leber seine Sicht der Dinge, das mag nicht unbedingt immer höchsten philosophischen Ansprüchen genügen, dafür ist es fern jeglichen Hirngewichses allgemein für alle verständlich wie verbindlich in der Ansage, und es liegt sicher nichts Falsches im Statement, dass das Leben viel zu schnell vorbeirauscht und damit viel zu schade ist, um sich von Institutionen, langweiligen Jobs oder Konventionen reglementieren oder homo-/xenophobem und misanthropischem Gedankengut leiten zu lassen – wer hätte einst vermutet, dass die Punks von gestern damit nur einen Steinwurf von den Welt-verbessernden Gutmenschen-Hippies von vorgestern entfernt sind?
Für die altgedienten Fans war’s ein willkommenes, die eigenen Gedanken anregendes Wiedersehen mit einer alten Punk-Legende, die einen stets bestens bedient und gut versorgt mit grandiosen, intensivsten Konzerten durch die Achtziger und Neunziger brachte, mit energetischen Shows, zu denen der nur mit Boxer-Shorts gewandete Hardcore-Taifun auch nur auf einem Kamm hätte blasen können, um den Rest der seinerzeit als große Events gepriesenen Hanseln – nennen wir sie U2 oder Springsteen – von der Bühne gefegt hätte, für die Novizen bot die kommentierte Fotoschau die Gelegenheit, einen der außergewöhnlichsten Entertainer und subkulturellen Multitalente der letzten vier Dekaden endlich live erleben zu dürfen, wenn es auch kein lautstarkes „Liar“, „1000 Times Blind“ oder „Black And White“ durch die Verstärker gewuchtet gab.
Der gute alte Henry Lawrence Garfield aka Henry Rollins, in Zeiten des Trump-Trottels fast schon sowas wie ein amerikanischer Hoffnungsträger, und immerhin der Garant dafür, dass dort drüben nicht nur Vollpfosten durch die Gegend rennen – obwohl, oft daheim ist er ja nicht, wie seine Dia-Show eindrucksvoll aufzeigte…

Henry Rollins Travel Slideshow im alten Europa noch zu folgenden Gelegenheiten, do yourself a favour:

12.12.Stuttgart – Im Wizemann
13.12.Hamburg – Kampnagel
19.12.Kiew – Caribbean Club

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13 Kommentare

  1. Hi Gerhard,
    konntest Du Ihm echt über gut 2 Stunden folgen ? Ich war mal vor Jahren auch in der Muffe, und der englischen Sprache an sich schon mächtig, bin ich an seinem Amerikanischen Englisch leider vollends gescheitert und habe eigentlich rein gar nichts mit nachhause genommen. Das war furchtbar schade, denn dass Rollins was zu sagen hat, steht außer Zweifel.

    Seers. Stevie

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    1. Servus Stevie – Ging sehr gut. Für einen Ami spricht er doch recht verständlich. Kaum sind die imaginären fünf Pfund Kaugummi aus der Goschen, versteht man auch diese Spezies recht ordentlich.

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  2. Dem Hardcore-Shouter Rollins bin ich vor vielen, vielen Jahren auch mal begegnet. Sein Körperkult, seine grenzenlose Selbstgefälligkeit und seine Trainings-Botschaft der politischen Über-Correctness waren aber nicht so mein Ding.

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    1. Da schieden sich früher die Geister dran, keine Frage. Inzwischen ist eigentlich seine gesamte Show auf seine Aussagen reduziert, und die sind schon weitgehend ok. Dass man mit seinem fanatischen Straight-Edge-Ansatz in früheren Zeiten nicht unbedingt immer was anfangen konnte, kann ich nachvollziehen, aber seine Punk-Spielart ist mir hinsichtlich Sound immer gut reingelaufen, mit Black Flag und der ersten Rollins Band.

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      1. Bei Rollins geht es halt immer um diese grundsätzlichen Bedingungen mit denen er die grundsätzliche Scheisse des Lebens beschwört. Ein Höhepunkt in seiner Karriere ist bestimmt der lange „Gun In Mouth Blues“, wo diese Rollins-Spastik (vor/zurück) sich zuerst langsam, dann im Grossen nochmal wiederholt: laut/leise/, ganz leise/ ganz laut usw. Es ist immer todernst, du musst mit dieser Scheisse leben, immer: Can you deal with it? Can you deal with it? Solche Leute nehmen einfach nichts leicht, die lassen keine Verharmlosungsstrategien durchgehen, sich nicht und anderen nicht…

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      2. Ich weiß, was Du meinst, aber ich hatte letzten Sonntag schon das Gefühl, dass er inzwischen das ein oder andere etwas lockerer nimmt. Im Vergleich zu früher auf alle Fälle. Altersmilde halt, sogar bei einem beinharten Straight-Edge-Hardcore-Punk…

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  3. auch wenn er wenig kompromisslos ist, von den TYPEN, könnte man mehr gebrauchen … und bei manchen Themen gibt es auch keine zwei Meinungen!
    sehr schade, dass er keine Musik mehr macht….

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