Afrobeat

Reingehört (545): Matana Roberts

Memphis Tennessee felt more homely because I had been there before, but I still remember when I turned a corner in Memphis and hit the Lorraine Motel, where Martin Luther King was shot — I will never forget that image. I don’t remember seeing that ever before, at least not with the understanding that I have.
(Matana Roberts, Tiny Mix Tapes, 2015)

Matana Roberts – COIN COIN Chapter Four: Memphis (2019, Constellation Records)

Winter 2012 war’s, Constellation Records schickte zur Feier des fünfzehnjährigen Firmenjubiläums einen Tross von Musikern als Fahrgemeinschaft durch die Lande, im Münchner Feierwerk präsentierte das kanadische Indie-Label aus Montreal neben der Postrock-Band HṚṢṬA von GY!BE-Gitarrist Mike Moya und der Formation Thee Silver Mt. Zion Memorial Orchestra seines Band-Kollegen Efrim Menuck einen Auftritt der New Yorker Experimental-Jazz-Saxophonistin Matana Roberts, der bereits zu jener Zeit vor allem aufgrund ihres im Jahr zuvor veröffentlichten Albums „COIN COIN Chapter One: Gens de Couleur Libres“ ein exzellenter Ruf als innovative Musikerin und Konzept-Künstlerin weit über die Grenzen des freien Holzgebläses hinaus vorauseilte.
Matana Roberts, bereits optisch mit langen Dreadlocks, zahlreichen alten Tattoos und in schweren Stiefeln fundamentiert eine imposante Erscheinung, gestaltete ihren Münchner Auftritt seinerzeit solistisch vom eigenen Altsaxophon-Spiel begleitet, in freigeistiger, erratischer Avantgarde-Jazz-Improvisation, mit spontanen Ansagen, eindringlichen Spoken-Word-Passagen und einer ausgedehnten Speak-And-Response-Nummer im Dialog mit dem animierten Publikum, das sich zu der Gelegenheit schwer angetan von musikalischer Kraft und Bühnenpräsenz der afroamerikanischen Künstlerin zeigte.
Uneingeschränkte Begeisterung einmal mehr zum aktuellen, mittlerweile vierten Kapitel des „COIN COIN“-Zyklus, des in 12 Teilen geplanten und bei Kritikern wie Fans gleichsam hochgelobten Langzeit-Projekts der Musikerin zu Themen wie Abstammung, Klassenbewusstsein, Geschlechter-Rollen in der US-amerikanischen Gesellschaft. In den dreizehn ineinander greifenden „Memphis“-Kompositionen weht der Geist auf der Suche nach der Black-Community-Identität, wo er will, der musikalische Kosmos der Matana Roberts und ihre verbalen Ausdrucksformen kennen schlichtweg kein Limit. Inhaltlich immer wieder zu ihrem eigenen Lebenslauf zurückkehrend, entlädt die in der Chicagoer South Side aufgewachsene Ausnahmekünstlerin selbstbewusst eine überbordende Flut an ethnologischen, sozial-politischen und historischen Reflexionen und webt damit ein vielschichtiges Geflecht an individuellen Geschichten aus der Ahnenforschung im Geiste von „Black Lives Matter“, ohne hier explizit mit erhobenem Zeigefinger zu dozieren, rassistisch-radikale Positionen einzunehmen oder altbekannte Fakten herunterzubeten – weit mehr in einem steten Flow an Gedanken, „Strings of Consciousness“, Erzählungen und eigenen Erfahrungen im Kontext der afroamerikanischen Geschichte und Widerstands-Politik.
Matana Roberts entwirft ein gigantisches Patchwork-Panorama an Episoden und Statements im sich entladenden Cut-Up-Redeschwall, individuell in Zitaten und Anekdoten aus ihrer eigenen Vita, auf einer Meta-Ebene im Anstimmen uralter, anrührender Gospel-Chöre, mit wütendem Ausbruch wortloser Lautmalereien, im expressiven Spoken-Word-Rausch, dem Proto-Rap eines Gil Scott-Heron bisweilen nicht unähnlich. Wo sich die artikulierte Botschaft improvisiert und stilistisch unbegrenzt freie Bahn bricht, steht ihr tonales Vehikel dahingehend in nichts nach: Experimentelle und komplexe, Hörgewohnheiten bereichernde Klanginstallationen und Songs, von wild lichterndem, atonalem Jazz-Noise über Folk-Crossover inklusive irischer Fiddle-Tunes bis hin zu zeitlosen Ur-Blues- und Afrobeat-Anklängen, Brass-Band-Herrlichkeiten und avantgardistischen Kompositionen im neoklassischen Experiment.
Der bisher veröffentlichte Zyklus wie jeder einzelne Tonträger der Serie sind faszinierende Gesamtkunstwerke, die in der weiten Welt der populären und experimentellen Musik mit wenig bis nichts anderem vergleichbar sind. Die denkbar weit gefassten Grenzen des Free Jazz sind für die Musikerin, Feldforscherin und Aktivistin Roberts ein viel zu enges Korsett für den herausragenden Großwurf an musikalischer Inspiration, thematischer Komplexität und inhaltlicher Radikalität, der dieses Konglomerat zu einem multimedialen, sozial- und kulturhistorischen Zeitdokument, zum „living artifact of collective cultural memory“ gedeihen lässt.
„COIN COIN Chapter Four: Memphis“ erscheint am 18. Oktober bei Constellation Records in Montreal. Machen Sie bitte nicht den Fehler, nach den ersten, schwer verdaulich lärmenden Saxophon-Tönen befremdet die „Aus“-Taste zu drücken, es würde Ihnen wahrscheinlich eine der schönsten und reichhaltigsten Hörerfahrungen des Jahres – und damit Essentielles – entgehen.
(***** ½)

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Soul Family Tree (58): I’m Not Here To Hunt Rabbits

African Black Friday, Volume 2: Another Kind Of Blues und ein grandioser, aus dem Rahmen gefallener Pop-Song vom Rand der Kalahari-Savanne – Entdeckens- und schwerst Empfehlenswertes aus Botswana, der Republik und ehemaligen britischen Kolonie im südlichen Afrika.

Das Land ist hinsichtlich politischer und gesellschaftlicher Entwicklung auf einem guten Weg: mit einer der höchsten Alphabetisierungsraten und Wohlstandsentwicklungen des Kontinents, einer laut Transpiracy International weitaus weniger ausgeprägten Anfälligkeit für Korruption im öffentlichen Sektor als in europäischen Ländern wie Spanien, Italien oder Polen und einer weitgehend funktionierenden Demokratie inklusive freier Meinungsäußerung.

Und auch aus der Welt der Musik gibt es aus dem afrikanischen Binnenstaat Bemerkenswertes zu vermelden: Der Folk-Blues führt in Botswana ein völlig autarkes Eigenleben in exotischer Individualität. Fern aller Trends und Moden der restlichen Welt hat sich hier eine eigenständige Szene entwickelt, die der exzellent zusammengestellte Various-Artists-Sampler „I’m Not Here To Hunt Rabbits. Guitar & Folks Styles From Botswana“ in einer Auswahl an handverlesenen Nummern präsentiert. Das feine Teil ist hierzulande als Vinyl mit ausführlichem Beiheft und als digitaler Download im April des vergangenen Jahres beim Berliner Indie/World-Label Piranha Records und overseas bei The Vital Record erschienen.

David Agnow ist Chef des unabhängigen New Yorker Labels The Vital Record, die kleine World-Music-Plattenfirma nennt das Genre ihrer Veröffentlichungen selbst „Place On Earth“-Sound, fokussiert auf Volksmusik aus unterschiedlichsten Erdteilen, die anderweitig sträflich übersehen und vergessen wurden oder Gefahr laufen, über kurz oder lang mangels Weitergabe der Tradition ganz von der Bildfläche des Planeten zu verschwinden. 2009 bekam Agnow von einem Bekannten eine Reihe an Video-Links zugeschickt, der ihn aufhorchen ließen. Die Film- und Musik-Aufnahmen stammten vom niederländischen Entwicklungshelfer Johannes Vollebregt, der sie auf seinem youtube-Kanal unter dem Pseudonym Bokete7 veröffentlichte. Vollebregt ist seit 1979 vor Ort in Botswana für eine Hilfsorganisation tätig und in seiner Freizeit selbst Musik-begeisterter Gitarrist, damit war für ihn der Weg zur Erforschung und Dokumentation einer faszinierend außergewöhnlichen, weitgehend unbekannten Szene letztlich vorgezeichnet.

Wie einst der kalifornische Roots-Meister Ry Cooder zur Produktion des Samplers „Buena Vista Social Club“, den er Mitte der Neunziger vor Ort in Havanna zusammen mit kubanischen Musiker-Größen einspielte, machte sich David Agnow auf den Weg nach Botswana und lud mit Unterstützung von Johannes Vollebregt eine Schar an Musikern in die Hauptstadt Gabarone, um mit ihnen unter professionellen Studio-Bedingungen eine Auswahl an Songs aufzunehmen.
Den meisten Musikern auf „I’m Not Here To Hunt Rabbits“ ist vor allem eine völlig eigenständige Gitarren-Grifftechnik gemein, die „Botswana Music Guitar“ wird vorwiegend im Sitzen, schief vor dem Bauch liegend, meist mit dem Greifen der linken Hand von oben auf den Gitarrenhals ähnlich einer Zither gespielt, einige Musiker lassen Finger und Handrücken auch virtuos als individuelle Slide-Technik über die Saiten tanzen. Damit des Unkonventionellen nicht genug, die Stimmung und Bespannung der Instrumente ist völlig eigen, sie kommt meist mit vier Saiten aus, D, G, E und eine Bass-Saite, die mitunter auch mal von einem Fahrrad- oder Einzäunungs-Draht ersetzt wird, einige Musiker spielen den Bass-Part einfach mit dem Ellbogen auf den Gitarren-Korpus trommelnd oder rhythmisch mit der Schlaghand auf die Saiten klopfend. Nicht weiter verwunderlich: Stimmgeräte sind in der Spielart eher verpönt bis unbekannt – die afrikanische Hölle für die Technik-Freaks und Erbsenzähler unter den konventionell geschulten Gitarristen. Wie diese spezielle Form des Musizierens entstanden ist, weiß heute niemand mehr so genau, sie wurde traditionell von den Alten an die nächste Musiker-Generation weitergegeben und vor allem live gespielt. Der Sound selbst verbindet Stilmittel aus den unterschiedlichsten Himmelsrichtungen: den Folk-Sound der Wandergitarre, südafrikanische Samba-Grooves, nigerianischen Jùjú-Flow, den Desert-Blues der nordafrikanischen Sahara wie den frühen Country-Blues und Gospel der amerikanischen Baumwoll-Plantagen, ein Reimport der alten Sklaven-Musik der US-Südstaaten, wiedereingegliedert in die afrikanische Urform.
Die Songs werden im regionalen Dialekt Setswana gesungen und handeln von familiären Tragödien, alltäglichen Plagen wie der Staatsregierung, privaten Missgeschicken, den bösen Geistern der Mobiltelefone, von den neuen Kolonialherren aus China, die Afrikas Rohstoffe ausbeuten, und nicht zuletzt natürlich von dem im Pop aller Herren Länder omnipräsenten Liebeskummer.

Ich bin nur ein Gitarrist
Ich habe nur meine Gitarre
Ich bin nur hier zum Gitarrespielen
Ich bin nicht hier zur Kaninchenjagd
(Sibongile Kgaila, Murraynyana)

Der Titel der Botswana-Blues-Sammlung ist einer Textzeile der Nummer „Murraynyana“ aus der Feder des Songwriters Sibongile Kgaila entlehnt, einer von wunderbar flirrenden Gitarren durchwehten Aufnahme, die der Sänger mit seiner rauen Stimme zu erden versteht. Kgaila ist ein herausragender Vertreter und der heimliche Star der Szene, seine Musik ist geprägt von Einflüssen aus dem südafrikanischem Gospel-Pop und der Rumba des Kongo, insgesamt ist er auf dem Sampler als einziger Interpret mit drei Songs vertreten, mit einer schmissigen, Tanzhallen-tauglichen Variante des intensiven, erdigen Botswana-Sounds, die bei ihm an eine im Rhythmus verschärfte Version des Desert-Blues aus dem Norden des Kontinents angelehnt ist.

Mit seiner dunklen, vom Leben gegerbten, rauen Sing-Stimme und der stoischen, jedoch wesentlich flotter angeschlagenen Rhythmusgitarre lässt Solly Sebotso auf dem Opener „Rampoka“ entfernte Erinnerungen an die frühen Jahre des Folk-Blues der Mississippi-Legenden John Lee Hooker und Howlin‘ Wolf wach werden und legt so die afrikanischen Quellen der amerikanischen Roots-Musik offen. Das Intensive und Authentische dieser im besten Sinne unbehandelten Volksmusik entfaltet bereits in der ersten Nummer der Sammlung mit geerdetem, unverstellten Charme seine hypnotische Wirkung.

Hinsichtlich purem und unverfälschtem Kalahari-Blues lässt auch Gitarrist Ronnie Moipolai mit seiner Nummer „Ditakeneng“ keine Wünsche offen, der Song erzählt in Form ungeschönter Field Recordings eine finstere, tieftraurige Moritat, die sich aus einer jahrhundertealten, überlieferten Geschichte speist, einer Tragödie, die von blutigen Stammesfehden, ermordeten Vätern und bei lebendigem Leibe verbrannten Kindern handelt – schaurige menschliche Abgründe, die düsteren Erzählungen aus der amerikanischen Folk- und Blues-Tradition wie „Stagger Lee“ oder „Long Black Veil“ in nichts nachstehen.

Zwischen all diesen erstaunlichen wie ungewöhnlichen Gitarristen-Entdeckungen versteckt sich als Überraschungs-Wundertüte der völlig aus dem Sampler-Konzept gefallene Song „Re Babedi (I Will Never Forget You)“ der Amateur-Musikerin Annafiki Ditau, ein herrlich skurriler LoFi-Pop-Gegenwurf zum Folk und Blues ihrer Landsmänner. Auf youtube hat sich jemand zum Kommentar „Why, when she is doing everything wrong, does it sound SO right?“ hinreißen lassen, dabei muss die blinde Sängerin aus Pitsane Village mehr oder weniger alles richtig gemacht haben, wie könnte sie sonst mit ihren begrenzten Mitteln derart großartige Songs aufnehmen? Mit einer Heim-Orgel vom Kaliber Hammond oder Bontempi inklusive programmierter, synthetischer Stumpf-Rhythmik und einem in der Stimmlage in die hohen Töne hochgezogenen Gesang am Ende jeder Textzeile präsentiert sich die Nummer als wunderbar schräges Pop-Meisterwerk, dem jede perfekte Nachbearbeitung in der Produktion, ausgeprägteres musikalisches Können oder zusätzliche Instrumentierung nur schaden und den einzigartigen Charakter rauben würden.
Annafiki Ditau ist die einzige weibliche Interpretin, die es mit einer Nummer in die Auswahl dieser Sammlung geschafft hat. Die Musikerin wurde in ihrer Kindheit von der eigenen Mutter schwer misshandelt, umso bewundernswerter, dass ihr Sound von überschwänglicher Lebensfreude zeugt, sofort zum Mitwippen anregt und unwillkürlich ein breites Grinsen in das Antlitz der Hörerschaft zaubert.

Eine der schillerndsten Figuren unter den vorgestellten Musikern ist Motlogelwa „Babsi“ Barolong: Wo sich die Kollegen als Profis ihren Lebensunterhalt auf Tourneen in Afrika, Asien und bisweilen auch Europa verdienen, bei der musikalischen Untermalung von Firmen-Veranstaltungen oder mit Auftritten in der angestammten Live-Bar, ist Barolong zum Broterwerb nebenher als Kuhhirte, Schreiner und Nachtwächter beschäftigt. Sein Titel „Ke A Tsamaya (I’m Leaving)“ ist durchwirkt von nervösem, erratischem Gefiedel fern jeglicher Songstrukturen und einem intensiv leiernden Sanges-Vortrag, der das Unwohlsein des Interpreten unmissverständlich zum Ausdruck bringt. In seiner Nummer „Condom“, die nur als Digital-Download-Bonus zur LP enthalten ist, engagiert er sich mit aufklärenden Ratschlägen in der AIDS-Prävention, ein Thema, das sich bei knapp 19% HIV-Infizierten unter der erwachsenen Bevölkerung Botswanas förmlich aufdrängt.

It’s like the old Robert Johnson story – when he sold his soul to the devil at that Rosedale crossroads. Only this time the crossroad is on the outskirts of the Kalahari desert, and there’s no devil around, at least as far as we know. Just a crazy record label looking to bring these artists indoors to record.
(Piranha Records)

Der Sampler „I’m Not Here To Hunt Rabbits. Guitar & Folks Styles From Botswana“ ist am 27. April 2018 als Co-Release bei Piranha Records und The Vital Record erschienen und nach wie vor im gut sortierten Musikalien-Fachhandel erhältlich. Do yourself a favour: Tun Sie was für Ihre Horizont-Erweiterung, günstiger kommen Sie in diesem Leben nicht mehr nach Botswana.

Soul Family Tree (56): Hits And Misses – Muhammad Ali And The Ultimate Sound Of Fistfighting

„Ali war ein schöner Krieger und er reflektierte eine neue Haltung für einen Schwarzen. Ich mag Boxen nicht, aber er war etwas ganz Besonderes. Seine Grazie war beinahe erschreckend.“
(Toni Morrison)

Kein Geringerer als der Pop-Star schlechthin unter den Spitzensportlern des 20. Jahrhunderts soll Thema und besungener Held sein im heutigen Beitrag zur Black-Friday-Reihe: Die afroamerikanische Profi-Box-Legende Cassius Marcellus Clay aus Louisville/Kentucky, „The Louisville Lip“, seit 1964 nach Ablegen seines „Sklaven-Namens“ und Konvertierung zum Islam dem Universum als Muhammad Ali bekannt, dreimaliger „Undisputed Champion“ in der Schwergewichts-Klasse, laut IOC „Sportler des Jahrhunderts“, nach seiner eigenen, unbescheidenen Selbsteinschätzung schlichtweg „The Greatest“ – und um auf die Musik-Historie zurückzukommen: den Rap wie den Hip Hop hat er auch mit auf den Weg gebracht, wie nicht zuletzt der deutsche Kabarett-Minimalist Rolf Miller in seiner unnachahmlichen Art bezeugt: „Am End hat sich alles g’reimt. Des was der Eniman heut singt, des hat der Ali früher im Interview verzählt.“

„The less cynical, less media-saturated nature of the times allowed Ali to achieve a mythic grandeur he probably couldn’t today, and the overall tone here is one of unalloyed eulogy.“
(The Telegraph, CD of the week, 8.11.2003)

2003 veröffentlichte das Münchner Indie-Label Trikont zu Ehren des großen Boxsport-Entertainers den Sampler „Hits And Misses – Muhammad Ali And The Ultimate Sound Of Fistfighting“. Kompiliert, mit informativen Liner-Notes in dem für Trikont-Verhältnisse obligatorischen, exzellent aufgemachten Beiheft versehen und herausgegeben wurde die feine Sammlung vom Münchner Hobby-Boxer, DJ, Journalisten und Maler Jonathan Fischer, der bei der unabhängigen Giesinger Plattenfirma bereits mit der Veröffentlichung diverser anderer gewichtiger Themen-Sammlungen rund um die schwarze Musik glänzte. Unterstützt wurde er beim Ali-Sampler von Co-Herausgeber Claas Gottesleben, über den ansonsten neben seiner Beteiligung an diesem Projekt nichts in Erfahrung zu bringen war.

„Ich habe keinen Streit mit den Vietcong. Sie haben mich niemals Nigger genannt.“

Die Liner Notes zur CD-Ausgabe setzen sich mit dem Phänomen auseinander, dass die Auftritte von Muhammad Ali weit mehr waren als nur großer Kampfsport. Der Ausnahme-Athlet entwickelte im und neben dem Box-Ring einen ureigenen Stil, seine Pressekonferenzen und Interviews boten erstklassiges Show-Entertainment, seine kritischen wie großspurigen Ansagen und speziell seine Kriegsdienst-Verweigerung zum Einsatz in Vietnam hatten politisches Gewicht in den USA und darüber hinaus, seine Hinwendung zur „Nation Of Islam“ und seine zwischenzeitliche Freundschaft mit Malcolm X bargen gesellschaftlichen Zündstoff im Geiste der amerikanischen Bürgerrechts– und Black-Power-Bewegung.
Die großen, berühmten Kämpfe in den Siebzigern wie der „Thrilla in Manila“ gegen seinen Dauer-Rivalen Joe Frazier oder der „Rumble in the Jungle“ in Kinshasa/Zaire gegen George Foreman, die weltweit Millionen von Fernsehzuschauern zu nachtschlafender Zeit vor die TV-Geräte lockten, waren weit mehr als nur medial inszenierte Sport-Events, sie reihten sich darüber hinaus wie etwa das legendäre Woodstock-Festival in den Kanon großer Pop-historischer Ereignisse ein.
Wie jedes große Helden-Epos war das Leben von Muhammad Ali vom großen Drama gezeichnet, und so ließ seine schwere Parkinson-Erkrankung als Folge seines viel zu späten Abschieds vom Boxring, sein Umgang mit dem Nerven-zersetzenden Defekt in seinen späteren Jahren und sein finales Hinscheiden im Jahr 2016 niemanden kalt.

„Clay swings with a left, Clay swings with a right, look at young Cassius, carry the fight.“

Der Trikont-Longplayer selbst bildet eine breite stilistische Palette an musikalischen Ali-Lobpreisungen vorwiegend aus den Siebziger Jahren ab, die von afroamerikanischem Soul, Funk und Blues über jamaikanischen Dancehall-Reggae, brasilianischen Pop und kongolesischen Big-Band-Sound bis hin zur Country-Schunkel-Nummer „Muhammad Ali“ vom weißen Americana-Musiker Tom Russell reicht, wohltönend dosierte Wirkungstreffer und größtenteils unbekannte Perlen aus der weiten Welt der populären Musik, die sehr gut ohne den Johnny-Wakelin-Hit „In Zaire“ auskommen, ergänzt um Spoken-Word-Beiträge vom Box-Champ Ali selbst und einer Straßenpredigt seines einstigen Gegners George Foreman, der nach seiner aktiven Zeit als Sportler Karriere als Autor, Fernsehkoch und berühmter Kirchenmann machte. Und auch Joe Frazier darf ran ans Mikro, der „Undisputed Heavyweight Champion“ von 1970 bis 1973 nahm in den Siebzigern mehrere Singles und EPs für unter anderem Capitol und Motown auf, in den späten 70ern rief er die Soul/Funk-Combo Joe Frazier And The Knockouts ins Leben, mit der er durch Amerika und Europa tingelte. Auf der Trikont-Musikdokumentation über den „Ultimate Sound Of Fistfighting“ ist er mit seiner Version des Bobby-Byrd-Songs „Try It Again“ zu hören.
Hier im Anschluss eine kleine Auswahl an Song-Highlights aus „Hits And Misses“:

„Float like a butterfly, sting like a bee, my name is Muhammad Ali.“

Sensationell geht die Nummer „The Ballad Of Cassius Clay“ ab, eine ultra-flotte Soul-Single der Band The Alcoves aus dem Jahr 1964, über die Jonathan Fischer im Beiheft treffend wie eine Knockout-Gerade anmerkt: „Ein typischer Song aus den 60ern, schnell, laut und stark, über einen großmäuligen, schnellen, starken und verdammt gutaussehenden Boxer, dessen politische Wirkung auf die Welt zu der Zeit noch nicht für jeden abzusehen war…“ – über die Formation The Alcoves ist wenig bekannt, selbst allwissende Portale wie Discogs oder Allmusic kennen keine biografischen Daten und nennen als Output der Combo nur die Single, ihre Berücksichtigung auf der Tracklist der Trikont-Sammlung und die Single-B-Seite „Heaven“ als Beitrag zu einem Sampler des New Yorker Labels Carlton Records.

„Marcellus Cassius Clay“ stammt von Jorge Ben. In seiner Heimat gilt der Musiker als einer der bekanntesten Vertreter der Música Popular Brasileira, in der sich Einflüsse aus Rock, Samba, Bossa Nova und Reggae wiederfinden. Das Loblied auf den Boxer ist 1971 auf Bens Album „Negro é Lindo“ erschienen. Der Künstler tritt seit den Achtzigern unter dem Namen Jorge Ben Jor auf, seine einflussreichste Phase auf die brasilianische Popular-Musik hatte er zwischen 1963 und 1976. US-Präsident Obama erwähnte den Musiker 2011 in einer Rede in Rio de Janeiro.

Eine weitere herausragende Nummer des Samplers ist „Foremann Ali Welcome To Kinshasa“ vom Orchestre G.O. Malebo, das die Formation aus Zaire 1974 als musikalischen Willkommensgruß für die beiden Kämpfer des „Rumble In The Jungle“ einspielte. Eine feine Afro-Pop-Nummer mit treibendem Beat, grandiosen Chören, flotten Bläsersätzen und den für die Band typisch flirrenden „Soukous“-Gitarren, hier der westafrikanischen Juju-Musik nicht unähnlich. Das Orchester hat in den Siebziger Jahren zahlreiche Singles eingespielt, seither scheint sich die Spur der Band in der Musikwelt zu verlieren…

Der jamaikanische Reggae und seine spezielle Verehrung afro-stämmiger Helden ist auf der Sammlung nicht zu knapp vertreten, der als Dennis Smith geborene DJ, Produzent und Seventies-Dancehall-Star Dennis Alcapone ist mit seinen Riddims und originellem Toasting in „Muhammad Ali“ und „Cassius Clay“ gleich zweimal zu hören, sein Landsmann Manley Augustus Buchanan aka Big Youth würdigt in „Foreman vs. Frazier“ mit seinem Chant den 1973 in seiner Heimatstadt Kingston ausgetragenen Titelkampf der beiden Schwergewichtler, der als „Sunshine Showdown“ in die Box-Geschichte einging und mit einem K.o.-Sieg Foremans in der zweiten Runde im Nationalstadion endete.

Der Box-Champ selbst hat sich 1963 noch unter seinem Geburtsnamen Cassius Clay als Sänger versucht, mit einer Interpretation des berühmten Soul-Klassikers „Stand By Me“ von Ben E. King, die Singles-Auskopplung, die sich im Übrigen nicht auf dem Trikont-Sampler findet, ist der einzige Song seines Columbia-Albums „I Am the Greatest“, auf der sich Ali ansonsten mit seinen Spoken-Word-Reimen als unterhaltsamer Comedian gibt. Die Aufnahmen gelten als frühe Vorläufer des Rap und Hip Hop. Auf „Hits And Misses“ findet sich der Titel-Track der Monolog- und Gedichte-Sammlung.

„Hits And Misses – Muhammad Ali And The Ultimate Sound Of Fistfighting“ ist im September 2003 beim Münchner Independent-Label Trikont erschienen und nach wie vor als CD im gut sortierten Fachhandel sowie als Download über die Label-Homepage erhältlich.

Reingehört (463): Konkere Beats

Various Artists – Konkere Beats – YORUBA! – Songs And Rhythms For The Yoruba Gods In Nigeria (2018, Soul Jazz Records / Indigo)

Nigerianische Talking Drums und Gesänge zu Ehren von Yemoja, Obatala, Ogun und Sango: Vielleicht nützt die Beschwörung ja auch den „Super Eagles“ bei der anstehenden Fußball-WM in Russland, etwa gegen das Isländer-„Huh!“ oder die Zauberkünste argentinischer Super-Techniker? Wer weiß. Die Musikanten der jüngst bei Soul Jazz Records erschienenen Konkere-Beats-Sammlung sollte man jedenfalls nicht verantwortlich machen, sollte es für die nigerianische National-Elf erneut nicht weiter als bis zum Achtelfinale reichen, die Sängerinnen und Perkussionisten hängten sich mächtig ins Zeug bei der gottgefälligen Neueinspielung von sakralen Folk-Songs aus dem Kulturkreis des westafrikanischen Yoruba-Volkes zum Lobpreis der angerufenen höheren Mächte.
Soul-Jazz-Labelchef Stuart Baker und Afro-Rock-Veteran Laolu Akins haben in Lagos eine Auswahl an ortsansässigen Meister-Trommlern ins Studio geladen, die unter Führung von Olatunji Samson Sotimirin ihre Talking Drums, Dundun- und Bata-Instrumente in virtuoser und hoch komplexer Rhythmik zur instrumentalen Begleitung spiritueller Songs erklingen ließen und damit einen organischen und ausgeprägt hypnotischen Trance-Flow entfalten. Die zentralen religiösen Call-and-Response-Chöre werden von Lead-Sängerin Janet Olufanmilayo Abe initiiert, dirigiert und inhaltlich getragen, die geneigte Hörerschaft wird in dieser Jahrhunderte alten Volksmusik-Tradition unschwer den Musik-historischen Ursprung amerikanischer Südstaaten-Gospels erkennen.
Eminent essenzieller Stoff, der seine Spuren mittels Sklaven-Verschiffung in die Neue Welt bei regionalen Religionen wie dem Voodoo-Kult auf Haiti oder im kubanischen Santería-Glauben hinterlassen hat und neben dem Gospel der schwarzen US-Kirchengemeinden vor allem Welt-musikalisch prägend wirkte bei Jazz-Größen wie Dizzy Gillespie und Drummer/Bandleader Art Blakey, beim Latin-Soul/Funk der Sechziger Jahre, später beim vor sich hin schwadronierenden Rap-Vortrag und im Hip Hop der Achtziger/Neunziger oder nicht zuletzt – in dem Fall weitaus naheliegender – mit ihrem Einfluss in die Gitarren-dominierte Jùjú Music von King Sunny Adé und seinen African Beats, Chief Commander Ebenezer Obey und vielen anderen nigerianischen Afropop-Stars.
(**** ½ – *****)

Mogwai + Sacred Paws @ Backstage Werk, München, 2017-11-03

Bei Mogwai hat man hinsichtlich Vorprogramm in den vergangenen Jahren Etliches an Überraschungen erlebt, Elektronik-Experimental-Frickler, die mit ihrer Klangkunst so gar nichts mit dem klassischen Postrock zu tun haben wollten, beim letzten oder vorletzen Mal einen schwergewichtigen, durchtätowierten Schotten, den man rein optisch im Death-Metal-Lager verortet hätte, der sich jedoch völlig unerwartet als versierter Könner in Sachen Flamenco-Akustik-Gitarre erwies, auf der aktuellen Tour nun das Duo Sacred Paws als Anheizer, ortsansässig in Glasgow, unter Vertrag beim Label Rock Action, damit hatte es sich auch schon in puncto Gemeinsamkeiten mit dem Hauptact des Abends.
Sympathische Ausstrahlung hatten sie, die beiden Mädels, am energetischen, vom Bewegungsdrang getriebenen Bühnengebaren gab es auch nichts zu beanstanden, ihr Instrumentarium beherrschten sie durchaus passabel, und doch mochte der Funke auf Teile des Publikums nicht überspringen mit dem flotten Indie-/Afrobeat-Groove und dem austauschbaren „Oh-Ooooh-Oooooooh“-Hurra-Singsang der beiden jungen Musikerinnen, die sich von Stück eins bis gefühlt Stück zwölf im 40-minütigen Vortrag nicht groß mit Spannungs-befeuernden Variationen aufhielten und so das Warm-Up in auf Dauer ermüdendem Gleichklang verebben ließen. Über die Ramones wurde vor Unzeiten gefeixt, Joey und Co würden permanent die beiden gleichen Songs spielen, den schnellen, harten und den langsameren, poppigeren Punk-Hauer, bei Sacred Paws teilte sich dieser Umstand in die Songs mit und ohne Bassistin, Nuancen der Variation waren immer dann auszumachen, wenn die Ladies E.R. und R.A. sporadisch von einer dritten, nicht näher benannten Mitmusikerin im rhythmischen Anschlag verstärkt wurden.
Nett allein reicht oft nicht, Vampire Weekend für Arme, mehr bleibt da nicht als Fazit anzumerken, diese Referenz ist selbstredend auch keine Auszeichnung, waren doch die New Yorker selbst schon Talking Heads für Arme…
(***)

Scotland First: Mit Nachdruck unterstrichen Stuart Braithwaite, Dominic Aitchison und die Ihren am Freitagabend im ausverkauften Backstage-Saal, warum Mogwai nach wie vor ohne Abstriche zur Speerspitze wie Weltklasse des Gitarren-dominierten Postrock zu zählen sind. Die Instrumental-Institution aus Glasgow glänzte mit einer fein gewählten Setlist aus aktuellen Titeln vom jüngst veröffentlichten Album „Every Country’s Sun“ und bewährten Live-Klassikern aus der mittlerweile jahrzehntelangen Bandhistorie wie „Rano Pano“, „I’m Jim Morrison, I’m Dead“, „Auto Rock“ oder dem stimmungsvollen, von Ohren-schmeichelnden Keyboard-Klängen bereicherten Opener „Friend Of The Night“.
Zentrales Kernstück jedes Konzerts der Schotten ist und bleibt „Mogwai Fear Satan“, die ellenlange Krönungsmesse des Postrock vom 1997er-Debüt-Album und Band-Klassiker „Mogwai Young Team“, die in einem gut 15-minütigen tonalen Mikrokosmos alles enthält, was das Genre großartig, erhaben, emotional ergreifend macht: das exzellente, hochspannende Laut-Leise-Spiel, die zurückgenommenen, meditativen, nahezu kontemplativen Elemente, das sprichwörtliche Auftürmen der Gitarrenwände wie das brachiale und unvermittelte Lärm-Explodieren als entladendes Atonal-Gewitter.
Daneben glänzte die Band mit weiteren Gustostücken der intensiveren, hart rockenden Gangart wie „Old Poisons“ vom aktuellen oder dem finalen Feedback-/Vehemenz-Lärm-Vollrausch „We’re No Here“ vom feinen 2006er-Werk „Mr Beast“, einer treibenden, im Vergleich zur Studio-Fassung direkter zupackenden Version der von Stuart Braithwaite gesungenen Shoegazer-/Indie-Rock-Single „Party In The Dark“ und faszinierendem, wunderschönem, dunklem Düster-Ambient in „Don’t Believe The Five“.
Cat Myers vom schottischen Indie-/Noise-Rock-Duo Honeyblood ersetzte im Rahmen der Tour Mogwai-Drummer Martin Bulloch, der etatmäßige Trommler erlitt vor einigen Jahren einen Herzinfarkt, vermutlich mag er sich dem Stress des Tourlebens nicht mehr aussetzen, mit ihrem strammen, kompromisslosen Anschlag war die junge Frau maßgeblich wie eindrücklich an der intensiven Wucht des konzertanten Vortrags beteiligt.
Man hat schon verspieltere, weitaus filigranere, zu Teilen auch latent belanglosere Mogwai-Konzerte gesehen. Soviel Druck, Klang-Explosion, beglückende Postrock-Seligkeit war lange nicht mehr wie beim jüngsten München-Auftritt der Schotten.
(***** ½)