Attwenger

Reingelesen (70): Christof Meueler mit Franz Dobler – Die Trikont-Story: Musik, Krawall & andere schöne Künste

„Im Übrigen meinen wir, dass nicht die Musik in der Krise ist, sondern ihre industrielle Verwertung und das ständige Schielen nach dem statistischen Durchschnitt. Deshalb nehmen wir uns die Freiheit nach allen Seiten zu schauen und immer noch und immer wieder die Musik ins Zentrum unserer Arbeit zu stellen.
Und vor allem: Wir machen weiter.“
(Eva Mair-Holmes und Achim Bergmann, Trikont-Katalog 2015)

Christof Meueler mit Franz Dobler – Die Trikont-Story: Musik, Krawall & andere schöne Künste (2017, Heyne Hardcore)

Im bisher noch nicht völlig zu Tode gentrifizierten Münchner Arbeiterviertel Obergiesing, an der Tegernseer Landstraße, findet sich die alternative Kneipe „Café Schau ma moi“, einen Steinwurf entfernt von der ersten deutschen McDonalds-Filiale, von der Kultur-/Öko-Freifläche Grünspitz und dem Städtischen Stadion an der Grünwalder Straße, der Heimat der Münchner „Löwen“, vor und in der schmalen Bar tummelt sich an Regionalliga-Spieltagen die links-alternative Fanszene der „Sechziger“, etlichen aus dem treuen Haufen dürfte durchaus geläufig sein, dass sich im Hinterhof zur Kneipe seit 1977 die Heimat des ältesten deutschen – vielleicht sogar weltweit ältesten – Independent-Labels findet, und für die, die es nicht wissen, gibt der große Trikont-Schaukasten am winzigen Biergarten der Wirtschaft und Portraits von Querdenkern wie Oskar Maria Graf, Karl Valentin oder Erich Mühsam an der Wand der Café-Bar unübersehbare Hinweise auf die unmittelbare Nachbarschaft in der Kistlerstraße.

Die unvergleichlich feine Münchner Plattenfirma Trikont feiert in diesem Jahr 50-jähriges Gründungsjubiläum, und das ist mindestens genauso viel Grund zum Jubeln wie die Rückkehr der „Löwen“-Kicker an die innig geliebte Spielstätte in der Nachbarschaft, gebührend gewürdigt wird der runde Geburtstag nebst einiger „Trikont wird 50!“-Konzerte mit einem opulenten Prachtband zur Label-Historie der beiden Autoren Christof Meueler und Franz Dobler, dieser Tage im Heyne-Verlag im Hardcore-Programm erschienen.

„Wir schrappen immer wieder an so einem Grat entlang und wissen nicht, wie lang wir uns da noch halten. Aber wenn du Spaß dran hast, willst Du nicht aufhören! Uns trägt immer noch das Gefühl: Wir können euch Musik zeigen, die ihr sonst nicht findet.“
(Eva Mair-Holmes, in: Trikont, Interview mit Petra Kirzenberger, curt. Stadtmagazin München #87, Sommer 2017)

„Die Trikont-Story“ dokumentiert chronologisch die wechselvolle Geschichte der heute weit über Münchens Stadtgrenzen hinaus bekannten Indie-Institution, die ihren Anfang nahm in den Studenten-bewegten, Autoritäten anzweifelnden, rebellischen Sechzigern, in denen die heutige Platten-Firma als linker Sponti-Buchverlag mit Publikationen wie der Mao-Bibel, Schriften vom nordvietnamesischen Onkel Hồ, dem „Bolivianischen Tagebuch“ des im Jahr der Trikont-Gründung ermordeten lateinamerikanischen Guerillaführers Ernesto ‚Che‘ Guevara und der von der Staatsanwaltschaft verbotenen Autobiographie „Wie alles anfing“ des ausgestiegenen ex-Terroristen Bommi Baumann auf sich aufmerksam machte. Die Musik kam erst später ins Programm, anfangs trat der Trikont-Verlag nur als Vertrieb für den Deutsch-Rock von Ton Steine Scherben in Erscheinung, in späteren Jahren dann mit eigen-eingesungenen Arbeiterliedern der Label-Betreiber zur Unterstützung von Streiks in den Münchner BMW-Werken, als Label für Folk-Musik und Protest-Songs aus dem Bereich der indigenen Völker, des linken europäischen Untergrunds und Widerstands gegen die Diktaturen in Spanien, Griechenland oder Chile, und nicht zuletzt als Soundtrack-Lieferanten der in den Siebzigern aufkommenden Anti-Atomkraft-Bewegung.

Mit den Jahren wechselte die Verlags- und Plattenfirma-Führung, wo zu Beginn der Schriftsteller Herbert Röttgen und die heutige Grünen-Politikerin Gisela Erler mit Achim Bergmann die Geschicke bei Trikont lenkten und sich später der daraus hervorgegangene Dianus-Trikont-Verlag unter der Ägide von Röttgen vermehrt mit esoterischer Literatur beschäftigte und daran auch pleite ging, haben Bergmann und Eva Mair-Holmes mit dem 1980 abgespaltenen Trikont-Plattenlabel „Unsere Stimme / Our Own Voice“ bis heute fast fünfhundert Tonträger auf den Markt gebracht. Darunter finden sich mutige Musik-verlegerische Glanztaten wie eine neun-teilige Samplerreihe zur Cajun- und Zydeco-Musik Louisianas, die vom Münchner Künstler und Journalisten Jonathan Fischer herausgegebenen, größtenteils politischen Schwerpunkt-Sampler zum Thema Soul, das gesammelte gesprochene Wort vom bayerischen Urgestein des absurden Theaters Karl Valentin, exzellente Dokumentationen von FSK-Musiker, Autor und Radio-DJ Thomas Meinecke über die von texanischen Polka-Bands jenseits des Atlantiks fortgeführte bayerisch-böhmische Musiktradition, die Begleitmusik zur eigenen Beerdigung aus den „Dead & Gone“-CDs, zusammengestellt vom hochverehrten Wiener (was Wunder bei dem Thema?) Ö3-Musicbox-Moderator Fritz Ostermayer, die beiden grandiosen DVDs „Hard Soil“ und „The Folk Singer“ von Slowboat-Filmemacher und Sargasso-Herausgeber M. A. Littler und der hierzu ergänzende, nicht minder gelungene CD-Sampler „Strange & Dangerous Times“ von Sebastian Weidenbach zum Thema Muddy Roots/US-Folk-/Blues-Underground wie auch tonale Feldforschungen über vietnamesische Straßenmusik, äthiopischen Funk, die Wurzeln und Ausblicke in der jüdischen Klezmer-Musik oder den Rembetiko-Underground der griechischen Hafen-Spelunken – um nur einige ausgewählte Glanzlichter des Trikont-Backkatalogs zu nennen, die in ihrer Vielfalt ein weites, globales wie heterogenes musikalisches Feld abdecken, sich aber durch die Bank durch hohe Qualität und bei den Themen-Sammlungen durch erschöpfend-umfängliche Zusammenstellungen und in den beigelegten, mit Liebe und Herzblut verfassten Booklets durch kenntnisreiches Detail-Wissen und Einordnen in einen größeren gesellschaftlichen Kontext auszeichnen. Und nicht selten werden durch die jeweiligen Sampler Querverbindungen zu anderen Musikgattungen offen gelegt und Einflüsse thematisiert, die sich auf den ersten Blick bzw. das erste Hören so nicht offenbaren wollen. Die im Bezug auf die ausgeprägte Trikont-Compilation-Kultur seit jeher angestimmten Lobpreisungen etwa von BBC-Kult-DJ John Peel oder aus der versammelten in- wie ausländischen Presselandschaft kommen nicht von ungefähr.

Daneben hatte das Label stets Auflagen-starke Einzelkünstler und Bands unter Vertrag, früher die in jeder Schul-Aula progressiver Gymnasien präsenten Deutsch-Anarcho-Rocker Schroeder Roadshow, später den Bayernrock-musizierenden Oberarzt Georg Ringsgwandl und die Pioniere der neuen Volksmusik-Bewegung, La Brass Banda und Kofelgschroa, über die Qualitäten der beiden letztgenannten Formationen darf man durchaus geteilter Meinung sein, wie auch über die brachial-derben und oft ausfälligen Ansagen und Songs von CSU-Intimfeind Hans Söllner, über den man viel sagen kann, aber nicht, dass er sich je von Trends, politischen Opportunitäten oder gar richterlichen Beschlüssen hätte verbiegen lassen, und damit hat er viel gemein mit den Trikont-Machern und somit auch jederzeit seine Existenzberechtigung beim Münchener Vorzeige-Label. Über jeden Zweifel erhaben hingegen  der großartige Alpenbeat-/Punkfolk-/Hiphop-Crossover des bis heute unvergleichlichen oberösterreichischen Duos Attwenger und das Deutschpop-Philosophen-Songwriting von Eric Pfeil, der in seinen unnachahmlich geistreichen Ausführungen im Buch unter anderem auch zum letztjährigen Literaturnobelpreisträger-Witz zu Wort kommt und damit den Leitfaden zum unverkrampften Umgang mit vermeintlichen Mega-Stars gibt: „Bob Dylan ist wirklich der seltsamste Popstar, den es gibt. Er hat auf seinen Platten jahrelang nur mit Tom-Waits-Stimme gegrunzt, und auf einmal fängt er wieder an zu singen – ausgerechnet bei Frank-Sinatra-Songs. Ich glaube, bei Dylan ist man immer gut beraten, wenn man ihn als Komiker begreift. Das hilft extrem. Wenn man ihn so sieht, dann kann man sehr viel Spaß haben, und dann nimmt man ihn nicht so ernst.“

Den Punk mag das Label weitestgehend verschlafen haben, kurzfristige Moden waren sowieso nie das Ding von Trikont, dafür sind über die Jahre bis heute anhaltende Beziehungen zu den Künstlern gewachsen wie riesige Themensammlungen aufgebaut worden, ob das eine mehrteilige CD-Dokumentation mit 83 Variationen über die Ursonate des Pop „La Paloma“ ist oder ein inzwischen riesiger, grenzen-erweiternder Fundus zur bayerischen Musik, der von alten Schellack-Aufnahmen Münchner Volkssänger_Innen, Best-Of-Doppel-CD-Sammlungen von Ausnahmekünstler_Innen wie der einzigartigen Bally Prell und dem Bayern-Krautrock von Sparifankal bis hin zur um Chanson und modernes Liedgut erweiterten neuen Traditionsmusik von Mrs. Zwirbl reicht – ausgerechnet ein linker Musikverlag wurde damit zum Vorreiter und Erneuerer in Sachen Bayerische Volksmusik.

„Trikont macht komische Sachen. Das Ganze funktioniert nur wegen der Leidenschaft, die drinsteckt. Es geht nicht nur um den kommerziellen Erfolg. Man ist hier gut aufgehoben und bekommt zu jeder Zeit alles.“
(Eric Pfeil, in: Stimmen über Trikont, curt. Stadtmagazin München #87, Sommer 2017)

„Die Trikont-Story“ funktioniert als Buch auf mehreren Ebenen, zum einen als opulente, Kilo-schwere, robust gebundene Festschrift zum Jubiläum eines großartigen Platten-Labels, wie auch als gut zu lesende Geschichte der APO, linker Sponti-Aktionen, alternativer gesellschaftlicher wie subkultureller Gegenentwürfe und daraus entstandenen Musik-historischen Trends und Bewegungen, die bereichert wird durch zahlreiche Abbildungen, Schlaglicht-artige Statements und Ausführungen der Labelmacher, Musiker und weiterer Zeitzeugen aus dem kulturellen wie historischen Kontext im Stile des maßgeblichen Standardwerks zum US-Punkrock „Please Kill Me: The Uncensored Oral History of Punk“ von Legs McNeil und Gillian McCain.
Aufgrund der ausführlichen Dokumentation jeder einzelnen Trikont-Tonträger-Veröffentlichung inklusive abgebildeter Plattencover und Anekdoten um Musiker, Auftritte, den thematischen, Musik-historischen und/oder gesellschaftspolitischen Kontext, dem Bezug der Label-Chefs zu den Künstlern und dem jeweils individuellen Verhältnis zur Musik, zur Entstehungsgeschichte der Aufnahmen und den Geschichten, wie sie letztendlich bei Trikont gelandet sind, ist das gewichtige Werk selbstredend auch ein umfassender und sorgfältig gestalteter Plattenkatalog geworden, und sollte man dann nach Stunden der Muße und des Quer-Checkens mit der Wunsch-Liste zur Schließung der Lücken im eigenen Plattenschrank fertig sein, kann man den Wälzer nochmal von vorne aufschlagen und die Zitate-Sammlung, die sich wie ein Endlos-Laufband am unteren Ende jeder Buchseite findet, in einem Rutsch von vorne bis hinten durchackern und genießen, Zitate-Daumenkino, quasi.
Als Einblick in zahlreiche Musiker-Biografien taugt es nicht minder, wie auch als weitere Leseanregung, wem etwa die 3 Seiten über das unfassbare Leben des Berliner Swing-Gitarristen Coco Schumann nicht ausreichen, die oder der greift weiterführend zur Autobiografie „Der Ghetto-Swinger. Eine Jazzlegende erzählt“ des musizierenden KZ-Überlebenden – „Theresienstadt, Auschwitz, Dachau – das glaubst du mir sowieso nicht…“

Wie wichtig Engagement, Einmischen, Querdenken gerade auch in diesen Tagen wieder sind, hat kürzlich der tätliche Angriff auf Trikont-Chef Achim Bergmann bei der Frankfurter Buchmesse durch einen Vertreter der sogenannten „Neuen Rechten“ nach einer kurzen, kontroversen Diskussion gezeigt, Ausführlicheres hierzu auf der Label-Homepage.

Der Journalist und Soziologe Christof Meueler wurde 1968 geboren und lebt in Berlin. Er gab in den 80er-Jahren das Noisepop-Fanzine „Rat Race“ heraus und schrieb in den 90er-Jahren unter anderem für das Hardcore-Magazin „Zap“. Seit 2001 ist er Ressortleiter für Feuilleton und Sport bei der linken Tageszeitung „junge Welt“. Meueler ist Autor von Biografien über den ex-Terroristen Bommi Baumann und den Indielabel-Betreiber Alfred Hilsberg.

Franz Dobler, Jahrgang 1959 , lebt in Augsburg. Er ist als Journalist, Schriftsteller und DJ tätig. Die Welt hat ihm neben seinen mit dem deutschen Krimi-Preis ausgezeichneten Büchern „Ein Schlag ins Gesicht“ und „Der Bulle im Zug“ sowie weiterer Prosa und Sammlungen kürzerer Texte die grandiose Johnny-Cash-Biografie „The Beast In Me“ zu verdanken. Bei Trikont hat er die mehrteilige Sampler-Serie „Perlen deutschsprachiger Popmusik“ herausgegeben, die 1995 mit „Wo ist zuhause Mama?“ startete, 2002 kompilierte er für das Label den Johnny-Cash-Tribute-Sampler „A Boy Named Sue“, für die wunderbare Doppel-CD-Dokumentation „Sonntag“ über den legendären Kraudn-Sepp hat er den kundigen Text zum Beiheft verfasst und das bei Trikont verlegte Buch „Bloss a Gschicht“ von Hans Söllner ins Hochdeutsche übersetzt. Der grandiose Franz Dobler halt… (um den Ball mal wieder zurückzuspielen ;-))

Herzlichen Dank an Gabi Beusker von Heyne Hardcore für das Rezensionsexemplar.

Konzertant werden 50 Jahre Trikont zu folgenden Gelegenheiten gefeiert:
Am 15. November im Bi Nuu in Berlin, Kreuzberg, Im U-Bahnhof Schlesisches Tor, ab 19.00 Uhr, mit Konzerten von Bernadette La Hengst, Lydia Daher, Textor & Renz und Kofelgschroa.
Und am 30. November am Münchner Feierwerk-Gelände, Hansastraße 39 – 41, im Farbenladen und im Hansa39, ab 18.00 Uhr, auftreten werden die grandiosen Attwenger, der großartige Eric Pfeil, die wunderbare Mrs. Zwirbl, Coconami, die Express Brass Band und die Zitronen Püppies.

Das Kulturforum hebt das Glas mit Hans-Peter Falkner von Attwenger
auf die nächsten 50 Jahre Trikont.

Prost & Alles Gute!

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Spitzenprodukte der Popularmusik (9): Der Scheitel

KULTURFORUM Attwenger @ Herzkasperlzelt, Oktoberfest München, 2014-09-21 www.gerhardemmerkunst.wordpress.com (21)

“Diese Band ist nicht respektlos sondern gnadenlos… Eine Beschwörung der radikalen Traurigkeit im Schlager.”
(Die Presse, Wien)

“Links und rechts sind die Haare, aber der Scheitel selbst ist nichts. Eine Demarkationslinie zwischen Kläglichkeit und dem Erhabenen, dem Pathos.”
(Fritz Ostermayer)

Der Scheitel – …in einem Haus das Liebe heißt (1994, Guardian Angel)

Guter Vorsatz für’s neue Jahr: Wiederbelebung dieser Reihe zur Vorstellung popularmusikalischer Glanzleistungen, die Schätze längst vergangener Zeiten kommen im hektischen Alltags-Betrieb mit permanent reindrückender, frischer Ware oft viel zu kurz.

Im Jahr 1994 haben sich Geistesmenschen wie der begnadete österreichische Musik-Journalist und Radio-DJ Fritz Ostermayer, sein Journalisten-Spezi Christian Schachinger, der Wiener Künstler Michael Krupica oder der auch heute noch bei den Buben im Pelz und zwischenzeitlich bei der Combo Neigungsgruppe Sex, Gewalt und Gute Laune aktive Christian Fuchs zum einmalig auf Tonträger dokumentierten Projekt Der Scheitel zusammengetan, um unter Mithilfe namhafter Gaststars eine einzigartige Songsammlung aus Traditionals, gut abgehangenen Schlagern und ausgewählten Preziosen aus der weiten Welt der Pop-Musik im Geiste von Trash-Kitsch, Freddy Quinn, Johnny Cash und dem unvergleichlichen Helmut Qualtinger unters Volk zu bringen.
Es gibt Musiker, deren Kunst ist einfach Abgrund-tief schlecht, Stichwort/Beispiele George oder Jackson Michael, da ist kein Platz für Komplizen-haftes Augenzwinkern, keine satirisch-ironisch angedachte Fußnote, kein „Das ist so schlecht, dass es schon wieder gut ist“, einfach nur synthetischer Sondermüll, und es gibt auf der anderen Seite jene Musiker, die haben im Vortrag des Banalen, des Billigen, des Schlager-haften diesen aus dem Erreichen des Bodensatzes mitgenommenen Aufschwung – der ab dem durchwanderten Tiefpunkt nur noch steil nach oben zeigt – implizit in ihrer Interpretation verankert, eben jenes Geniale im an sich Befremdlichen, Abgeschmackten, Sentimental-Geschmacklosen, und in genau diese Kategorie fallen die fünfzehn Interpretationsansätze auf „…in einem Haus das Liebe heißt“, die Scheitel-Band covert sich in einer unnachahmlichen Mixtur aus rumpelndem Schlager-Kitsch, Alternative-Country-Schräglage inklusive maximal ausgereiztem Pedal-Steel-Schmelz, Tanzcombo-Hammondorgel-Beschallung, latent angesoffenem Bierzelt-Combo-Gepolter und einer gehörigen Portion Wiener Schmäh durch Schlager-/Traditional-Allgemeingut wie „Carrickfergus“, dem Roy-Black-Schmachtfetzen „Wahnsinn“ oder „Follow Me“ mit der Münchner Künstlerin und F.S.K.-Musikerin Michaela Melián in einer Gastrolle als Amanda Lear. In der Udo-Jürgens-Glanznummer „Es war ein Sommertraum“ kommt Tav Falco als Special Guest am Gesang zu seinem großen Auftritt (nicht der naheliegende Hansi-Hölzel-Falco, sondern tatsächlich Granate Gustavo, der zusammen mit seiner Combo Panther Burns 1982 mit „Behind the Magnolia Curtain“ seinen großen Trash-Blues-Moment hatte und der mit „Like Flies On Sherbert“ Alex Chilton’s Genre-Meisterwerk den Titel gab, im Übrigen auch ein paar Kandidaten für diese Rubrik).
„The Hate Inside“ vom australischen Beasts-Of-Bourbon-Meisterwerk „Sour Mash“ (1988, Red Eye Records) wird mit „Da Hoß in mia“ eingewienert, eine Steigerung hinsichtlich fatalistisch herausgerotztem Nihilismus in der Textzeile „Wenn da Hoß in mia moi aussekummt, dann gehst in Oasch, du gschissene Wööd“ ist schwer denkbar, weitaus mehr positiv besetzter Humor macht sich in der lässig-schrägen Country-Interpretation der Bowie-Nummer „Helden“ breit, und die Attwenger-Ballade „Summa“ bleibt auch in der Scheitel-Bearbeitung eine ergreifende Angelegenheit mit viel Akkordeon und Schmalz, die Musikanten Hans-Peter Falkner und Markus Binder von dene Attwenger revanchieren und bedanken sich postwendend durch Beitrag zum Traditional „Mariana“.
„Selten war traurig so lustig“ hat mal ein schlauer Mensch über die Musik der Dad Horse Experience verlautbaren lassen, für das erste und einzige Scheitel-Album trifft diese Einschätzung nicht minder zu. Alle, die früher regelmäßig die Ö3-Musicbox gehört haben, heute noch bei „Willkommen Österreich“ von Stermann & Grissemann vor der Glotze hängenbleiben, den „Herrn Karl“ auswendig runterbeten können, den deutschen Schlager der fünfziger bis siebziger Jahre in ihrer wahren Pracht erkennen oder einfach nur einen Funken Zuneigung für den abseitig-morbiden Humor der notorisch schlecht gelaunten Hälfte der Bevölkerung der schönen Stadt Wien haben, sollten mindestens einmal im Leben dem Scheitel ihr Gehör leihen, eh klar.
Das lange vergriffene Wunderwerk ist dankenswerterweise 2007 beim Münchner Trikont-Label wiederveröffentlicht worden, ein Hoch auf die Giesinger Independent-Bastion des guten Musikgeschmacks.
(******)

Attwenger @ Herzkasperl-Festzelt, Oide Wiesn, Oktoberfest, München, 2015-09-25

Eingeheizt haben sie wieder, die Herren Hans-Peter Falkner und Markus Binder, die zwoa von dene Attwenger, dem Publikum, im vollbepackten Herzkasperl-Festzelt, und das inzwischen auch schon das dritte Jahr in Folge, eine Tradition inzwischen auf der Traditions-Wiesn, sozusagen.
Ein rechtes Gschiss war’s mit dem Reinkommen ins Zelt, aber dann wurde der geneigte Hörer wie gewohnt maximalst unterhalten von dem mit Rap, R’n’B und Hendrix-artig verzerrtem Akkordeonsound versetzten Mix aus Hardcore-Dadaismus und oberösterreichischer Uptempo-Volksmusik, der in diesem Gemisch Weltmusik im besten Sinne ist, und so hat das selbstverständlich wie die Jahre zuvor allerfeinst in ein Oktoberfest-Bierzelt gepasst, dort, wo derzeit die ganze Welt bei uns zu Gast ist, um mit uns ein Bier zu trinken – zumindest der zahlungskräftige Teil, die anderen Gäste sitzen am Hauptbahnhof und sind froh, dass sich wenigstens Angie, Dieter Reiter und Hannelore Kraft um sie kümmern.

Hinsichtlich Attwenger-Musik-Vortrag bleibt einmal mehr bestmöglichst begroovt und entertained in leichter Abwandlung eines berühmten Spruchs das Fazit: „Kriege führen mögen andere, Du, glückliches Österreich, tanze!“

Eine ausführliche Konzert-Besprechung vom frühlingshaften Attwenger-Konzert im Milla: guckst Du hier, ein Schwung Fotos von der letztjährigen Oide-Wiesn-Sause: hier, und Besprechung der aktuellen, sehr genehmen Attwenger-CD ‚Spot‘ (2015, Trikont): hier.

Attwenger / Heimatseite

Aus gegebenem Anlass…

… solltest Du es als dirndlgewandeter oder lederbehoster Tourist, der in diesen Tagen mit seiner Ausstaffierung frech suggerieren möchte, sie oder er wäre wir, trotzdem versuchen, etwas richtig zu machen im alljährlichen Münchner Faschingswahnsinn-Overkill, dann versuch es wenigstens mit Niveau, das geht tatsächlich auch, und zwar auf der Traditions-Wiesn, vor und im in Reminiszenz an den großen Jörg Hube benannten Herzkasperl-Festzelt, da spielt morgen Titus Waldenfels sowie G.Rag und die Landlergschwister, die auch von 1. bis 4. Oktober täglich am Start sein werden, am 25. September tritt das bayerisch-japanische Ukulelen-Duo Coconami auf, im Anschluss werden wie auch in den Jahren zuvor die oberösterreichischen Hardcorevolksmusikspeedgroovepunkakkordeonhendrix-Giganten von Attwenger das Zelt zum Kochen bringen und am Sonntag, dem 27. September, begeistern vor und im Zelt die Gerner Zipfeklatscher und die Hochzeitskapelle in bewährter Manier, über letztere schrieb der Eike vom Klienicum-Blog vor kurzem folgende schöne Zeilen, die ich Euch unmöglich vorenthalten kann: „das zusammenspiel dieser ausnahmemusiker zu hören, die variabilität ihres spiels, das punktgenaue aufeinander eingestimmtsein, wahnsinn! die verquickung von tradition und moderne fand sich selten gelungener, als würde man eine bajuwarische suppenschüssel, schön in weiß-blau, hernehmen, aus der heraus das manderl direkt in die große, weite welt blickt. das können die bayern, jawoll.“
Neben G.Rag werden am 3. Oktober Williams Wetsox mit Bayernblues aufwarten und die Zwirbeldirn Geigengroove und Dreigesang zum Besten geben und wenn das keine Alternative zum Massen-Exen, Bedienungen-Betatschen und Bavariahügel-Vollreihern ist, dann weiß ich auch nicht mehr weiter. Prost!

Attwenger @ Milla, München, 2015-03-26

du bist in wien
und do schtengan vier japaner
ana duad sie a weng
zu weit vieri lana
und daun foid der japaner
drüber über a glander
oba er foid nur an meter
des haast er wird ned zerschmettert

er duad si goa ned weh
und er locht und des is sche
für die weana eanarana
und für den japaner
(Attwenger, Japaner)

Vor vielen Jahren, als John Cale wieder einmal mit seinem unvergleichlichen Solo-Programm in unseren Gefilden unterwegs war, meinte ein BR-Redakteur im Zündfunk in seiner Konzertbesprechung, das wären diese speziellen Abende, nach denen man Tage lang nichts anderes mehr als John Cale hören wolle, so gefangen nehmend wäre der Vortrag gewesen.
Kann ich so 1:1 inhaltlich für jeden Attwenger-Auftritt übernehmen. Der Kulturforum-Gesundheitsminister warnt: Attwenger-Konzerte machen süchtig. Nebenwirkungen nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern zwingend in Kauf zu nehmen.
Ich habe irgendwann die Übersicht verloren, aber die Anzahl meiner bisher besuchten Attwenger-Konzerte dürfte sich inzwischen irgendwo im niedrigen zweistelligen Bereich bewegen, und wie die vielen Male vorher hat sich auch beim jüngsten München-Auftritt das Gezappel in den Beinen, das groovende Mitwippen und das von einem Ohr zum anderen gezogene Grinsen von der ersten Minute an eingestellt beim hochenergetischen Vortrag von dene Attwenger.
Ein abgedroschener Begriff, aber ich kann es nicht anders formulieren: Was die beiden Herrschaften aus Oberösterreich im konzertanten Bereich auf der Bühne zelebrieren, ist ein singuläres Event.
Der auf der Basis der traditionellen Volksmusik des Alpenraums ausgebreitete Uptempo-Crossover-Dadaismus des Duos ist kaum in Worte zu fassen, man muss ihn erleben.
Hans-Peter Falkner ist der Jimi Hendrix der durch Pedal und elektronisches Sampling verzerrten steirischen Ziehharmonika und der permanent mit höchster Schlagzahl trommelnde sing-rappende Markus Binder, der mitunter auch an der Maultrommel brilliert, hätte auch gut als Rhythmus-Maschine das Licht dieser Welt erblicken können.
Den ersten Abend der beiden Attwenger-Auftritte im Milla zur Live-Präsentation ihrer neuen CD „Spot“ (2015, Trikont) habe ich leider wegen rechtzeitig-Karten-besorgen-verpennen versäumt, aber auch der Zusatzauftritt am vergangenen Donnerstag ließ keine Wünsche offen. Gegen Ende des Konzerts enterten zwei junge afrikanische Burschen die Bühne, bereicherten den Attwenger-Beat mit ihren sich wunderbar ins Bild fügenden Raps und sorgten so für eine schöne Ergänzung des Abends.
Wie heißt es so schön im Attwenger-Klassiker „Kaklakariada“: Wählen Sie die Nummer bitte neben Ihrer Landesflagge. In dem Fall: Ten Points Austria !!
(*****)

Attwenger / Homepage