Louis Jucker – Kråkeslottet [The Crow’s Castle] (2019, Hummus Records)
Das andere Extrem, wenn man so will: Louis Jucker war bis 2013 für einige Jahre als Bassist beim Progressive/Post-Metal-Kollektiv The Ocean an Bord, mischte unter anderem beim Alternative-Rock-Outfit Autisti mit, daneben ist er bei der Schweizer Hardcore-Combo Coilguns inklusive Band-eigenem Hummus-Records-Label engagiert, alles Formationen, die für dichten, komplexen Sound und vehemente Lärm-Attacken bekannt und geschätzt sind – auf seinem vor kurzem veröffentlichten neuen Solo-Album „Kråkeslottet“ zäumt er das Pferd hingegen komplett von der anderen Seite auf.
LoFi, Do It Yourself und das einzelgängerische Verfolgen tonaler Gespinste, ohne technischen Bombast, ohne großartige Nachbearbeitung, naturbelassen, solistisch als Feldaufnahmen eingefangen, so lässt sich die gute halbe Stunde des Tonträgers charakteristisch grob umreißen. Der Musiker zog sich als Einsiedler für ein paar Tage in eine Fischerhütte an der norwegischen Küste zurück und entspann mithilfe von Gitarren, Orgeln, einer Zither und unkonventionelleren Geräusch-Gebern wie Wal-Knochen und einer Schreibmaschine einen eigenen Mikrokosmos an verschrobenem, experimentellem Anti-, Free- und Alternative-Folk. Charmante Song-Skizzen und Grund-Schemata zu Nummern, die hier bewusst unausgereift, unfertig bleiben, auf einer jeweils monoton durchexerzierten Melodien- oder Rhythmus-Idee basierend umgesetzt.
Weird-Folk-Improvisationen, die bereits als erste Entwürfe weitgehend funktionieren und dabei großes Indie-Pop-Potential durchscheinen lassen. Trotz unbehandelter Ecken und Kanten entfalten die Kleinode eine eigene Magie fernab gängiger Folklore-Pfade und präsentieren Jucker als wunderlichen, zuweilen sanft entrückten wie lethargischen, zerbrechlich lamentierenden, in jeder Gemütsverfassung emotional anrührenden Geschichtenerzähler. Bunte Blüten treibt der Tonträger vor allem durch die jeweils völlig unterschiedliche, spartanische Instrumentierung und das Variieren im stoischen Tempo der einzelnen Songs. Wo „Seagazer“ noch als halbwegs funktionierender Indie-Folk-Opener durchgeht, gebärden sich die folgenden Titel weitaus freier lichternd und experimenteller, als im ersten Wurf notierte Balladen-Gedanken, zuweilen in Schieflage Richtung Ambient neigend. Das vom Aufnahmegerät eingefangene Wellenrauschen, Kinderlachen, Raucherhusten als Kontrapunkt im unbehandelten Klangbild ersetzt die fehlenden, griffigen Refrains, jedes Geräusch der Field Recordings erfüllt hier unaufgeregt seinen Zweck, keine Seele geht verloren.
Wo Jucker mit seinen diversen Bands die Klangkunst für jeden vernehmbar laut in die Welt hinausposaunt, gibt er sich auf „Kråkeslottet“ intim vor sich hin sinnierend, nahezu privat in der Einsamkeit unterwegs.
Dem Vernehmen nach soll er mit den Kumpels von Coilguns später das Material auch live eingespielt haben, schwer vermutlich wurde dann das in sich gekehrte Element der filigranen Skizzen vom hart zupackenden Punkrock pulverisiert, Friede seiner Asche.
(**** ½ – *****)
All the sings say pick up the pieces All the signs say make a stand as one What survives the long cold winter Will be stronger and can’t be undone (Jay Farrar/Son Volt, Back Against The Wall)
Das Musikjahr 2017 in Tonträgern (+ ein paar vom Vorjahr), ein wie immer höchst subjektives Rating. Eric Pfeil hat letztens in seiner Pop-Kolumne sinngemäß die Frage aufgeworfen, warum sich sowas hinsichtlich Output unbedingt auf ein Kalenderjahr beschränken muss, hat er natürlich einerseits völlig recht, aber andererseits: Jahr für Jahr „Paris 1919“ von John Cale auf Platz 1 wäre auch auf Dauer langweilig… so langweilig wie etwa der Großteil des Indie- und Alternative-Gelichters in 2017, dank willfährigem Erfüllungs-Journalismus bleibt das Abfeiern von Mainstream-artiger, glattproduzierter Supermarkt-Beschallung aus diesem Bereich indes bis auf Weiteres Konsens-fähig (die unsäglichen The War On Drugs als exemplarisch-passend-wie-A…-auf-Eimer-Platzhalter für all die Bonos, Nationals, Arcade Fires und alle anderen Weichspüler dieser Welt), aber warum soll es in der Musik anders sein als in vielen anderen Bereichen auch?
Das Spannungsgeladene, Entdeckenswerte, nicht bereits hundert Mal Gehörte fand sich meist neben den ausgetretenen Pfaden, man kann nur allen Künstlern und (Kleinst-)Labels dankbar sein, dass sie ihrer Musik eine Chance gaben und trotz trüber kommerzieller Aussichten in Zeiten der Downloads und Streaming-Dienste weder finanzielle Risiken noch Mühen scheuten, um ihre individuellen musikalischen Visionen auf den Weg zu bringen.
Herzlichen Dank allen, die hier regelmäßig oder sporadisch mitgelesen, reingehört, in den Kommentaren Feedback gegeben, angemerkt, kritisiert, widersprochen oder ergänzt haben.
2018 steht vor der Tür und drückt massiv rein. Möge es ein gutes Jahr werden, hoffentlich ein weitaus besseres als das vergangene, in vielerlei Hinsicht.
Rutscht gut rüber. Und bleibt vor allem gesund. Nothing else matters.
Platte des Jahres. Die Sturmvögel aus Paris präsentieren mit Gästen aus dem Nahen Osten eine der gelungensten Crossover-Arbeiten aus dem weiten Feld der experimentellen Rock-Musik. Auch live vor kurzem schwerst beeindruckend.
Instrumentale Wundertüte, dominiert von Crossover, Jazz, Metal – vor allem Hörer_Innen ans Herz gelegt, die ansonsten bei Crossover, Jazz und Metal rückwärts frühstücken…
Volker Bertelmann mit herausragendem Experiment im Grenzbereich Minmal Music, Ambient und Electronica, wer hätte anderes als Meisterliches von ihm erwartet?
Das Country-Blues-Album des Jahres von einem der Fleißigsten seines Fachs. Wermutstropfen: Mit dem geplanten Raut-Oak-Fest-Auftritt 2018 wird’s wohl nix werden…
Hätte bereits 2016 in die Wertung gehört. Der belgische Postrock von Bart Desmet und seinem Projekt in Anlehnung an die Cut-Up-Methodik von William S. Burroughs faszinierte heuer nicht minder…
Die Postmetal-/Doom-/Postcore-Institution aus Westflandern mit einem weiteren Kapitel an Kontemplation, Katharsis und entfesseltem Wahnsinn in berstender Monumental-Wucht.
„Whatever we do, it will be an Oxbow record of Oxbow music, meaning a lot of people probably won’t like it.“ – ein paar dürften ihn doch mögen, den virtuosen, herausragenden No-Wave-Jazz-Experimental-Hardcore-Krach der Kalifornier, live wie auf Tonträger.
Hervorragendes, aber leider viel zu kurzes erstes Postrock-/Neoklassik-Werk der englisch-französischen Kooperation, auch in der Live-Aufführung beim belgischen dunk!Festival von erlesener Güte.
Das Gebrüll von Jacob Bannon bei der Metalcore-Combo Converge mag nicht allerorts auf ungeteilte Zustimmung stoßen, seine Arbeiten mit dem Solo-Projekt Wear Your Wounds schon weitaus mehr.
Autisti – Autisti (2017, Hummus Records / Czar of Revelations Records / S.K. Records)
Die Schweizer Formation Autisti retten in 32 Minuten und 8 Songs den guten Ruf des Alternative-Rock. Nicht weniger. Endlich wieder eine Indie-Combo, die knallt, scheppert, groovt, ordentlich reinbrummt. Im zunehmend beliebigen Gleichklang des Genres haben sich Autisti eine gehörige Prise an Garagen-Schmutz, Ecken, Kanten und vor allem eine geballte Ladung an LoFi-Charme bewahrt, im Einklang mit einer unbändig zur Schau getragenen Energie, verhallt-psychedelischem Gesang und untrüglichem Gespür für den Geist aus J Mascis‘ Übungkeller, das Punk-Rausgerotze der Spätsiebziger und die Psychedelic-Pop-Songwriterkunst, die einer wie Wayne Coyne früher auch mal beherrschte, ziehen sie die Hörerschaft ohne qualitative Durchhänger über die volle Distanz in ihren Bann.
Autisti wandern von beängstigender Bedrohung zu durchgeknallter Euphorie – und wieder zurück.
Die Band beherrscht das Uptempo-Gepolter im harten Moll-Anschlag und die Noise-Ausbrüche ebenso unperfekt-perfekt und unangestrengt wie den Psycho-Pop in „Trundle Beds“ mit gespenstisch-schönem, unterschwelligem Beat und den dazu passenden atmosphärischen Kratzgeräuschen, „Carb“ kommt als Tempo-herausnehmende LoFi-Düsterfolk-Ballade zum Innehalten, das finale „Down To The Minimum“ beginnt als flotter Uptempo-Trash-Rocker, franst hinsichtlich Gitarrenüberschwang im weiteren Verlauf völlig aus, endet als Feedback-Fadeout-Ambient-Meditation und treibt den Hörer nach den letzten Klängen sofort wieder ans Abspielgerät zwecks Drücken der Repeat-Taste.
Autisti kriechen in die Gehörgänge, fräßen sich dort ein und bleiben. Insofern eigentlich Beipackzettel-pflichtig, zwecks Nebenwirkungen, die Platte.
Autisti sind Louis Jucker und Emilie Zoé, die an den Drums im Studio von Steven Doutaz begleitet werden, auf Tour trommelt der Schlagzeuger Pascal Lopinat. Autisti spielten ihr Debüt ohne Bass, mit viel scheppernden und jaulenden Gitarren unter Verwendung einer Bandmaschine ein. Das Leben kann so einfach sein, die Resultate so grandios.
Louis Junker war bis 2012 bei der Formation The Ocean Collective zugange, mit Aaron Bean und John Sherman von der amerikanischen Sludge-Metal-Band Red Fang und seinem Kumpel Luc Hess betrieb er das Projekt Red Kunz.
Emilie Zoé ist eine Schweizer Folk-Sängerin, die im letzten Jahr ihr von Louis Junker produziertes Solo-Debüt „Dead- End Tape“ veröffentlichte, das vor allem Freunden der Songwriterkunst der zuletzt hochgelobten Emma Ruth Rundle schwer ans Herz gelegt sei. „Autisti“ ist Teil von Louis Juckers Mammutwerk „L’Altro Mondo“, fünf Kollaborationen auf fünf LPs mit befreundeten Künstlern, die „Autisti“-Vinyl-Version erscheint in limitierter 200er-Auflage mit Siebdruck-Artwork und handgemachtem Deluxe-Booklet. Vinyl und reguläre CD-Ausgabe werden am 14. April veröffentlicht.
(***** – ***** ½)