Denkwürdiger Abend am vergangenen Montag im Club-Saal des Münchner Backstage: Zum konzertanten Wochenstart war die amerikanische Ostküsten-Formation Daughters angekündigt, die Band setzte Ende 2018 nach längerer Bühnen-Abstinenz und über achtjähriger Veröffentlichungs-Pause mit dem grandiosen Album „You Won’t Get What You Want“ ein dickes Ausrufezeichen in Sachen ambitionierter Noise-Rock. Fort vom Grind- und Mathcore früherer Tage, entwickelte die Formation aus New England vor Veröffentlichung des allseits hochgelobten, aktuellen Tonträgers in zahlreichen Studio-Sessions über mehrere Jahre hinweg einen neuen, komplexen Sound, der sich neben klassischem Noise und Hardcore bei Elementen aus No Wave, Industrial und dem experimentellen Postpunk der frühen PiL bedient. Diesen vehementen Stil-Mix wusste die Band auch in einer im Tempo angezogenen Version, um etliche Härtegrade veredelt und in hoch-energetischer Gangart vorgetragen im vollbepackten Backstage-Saal zu präsentieren, als Sirenen-Alarm-artige, heftig lichternde und intensiv lärmende Orchestrierung zur exzessiven Bühnenshow ihres Frontmanns Alexis Marshall. Drummer Jon Syverson, Basser Samuel Walker und Nicholas Sadler, der musikalische Ideen-Geber an der Gitarre, werden im konzertanten Betrieb von Lisa Mungo an diverser Electronica-Gerätschaft und Tour-Gitarrist Gary Potter begleitet, zusammen errichten sie die Lärm-Wände, die einen Berserker wie Alexis S.F. Marshall nicht in Zaum zu halten vermögen. Marshall ist einer, der dem Begriff „Frontmann“ in einer Art gerecht wird, wie es nur wenige vor ihm im hart lärmenden Rock-and-Roll-Gewerbe zuwege brachten. Henry Rollins in seinem früheren Leben als Sänger, Iggy zu Zeiten der Stooges, der bedauerlicherweise vor zehn Jahren dahingeschiedene Cramps-Wüterich Lux Interior oder ein komplett Irrer wie der auch bereits längst in die ewigen Jagdgründe eingegangene GG Allin mögen sich vielleicht als Brüder im Geiste aufdrängen, allzu viele waren oder sind nicht unterwegs von derartigem Kaliber, die ein vergleichbar extrovertiertes und extremes Stakkato an Bühnen-Gebaren abfeuern wie der spindeldürre Derwisch der Daughters. Andere gehen zum Therapeuten, Marshall lebt die innere Pein unbetreut und exzessivst im Konzertsaal aus und lässt den „Satan In The Wait“ von der Leine, direkt frontal auf das Publikum gehetzt. Lange hat sich niemand mehr in derartiger Manie durch seine Songtexte schwadroniert, geplärrt und marodiert, in permanenter Bewegung, in permanenter Offensiv-Konfrontation mit dem Auditorium, spuckend, rotzend, sich am Boden wälzend und mit dem Mikro-Kabel strangulierend, mit dem Instrumentarium unvermittelt auf das Equipment wie auf den eigenen Schädel einprügelnd, bis unvermeidlich Blut fließt.
Die Bühne allein war für den Sänger als Austragungsort und Kampfzone bei weitem zu eng, zum Ende der einstündigen Tour de Force hatte Marshall mehrfach jede Ecke des gesamten Saals überfallen, der Aufschwung zum Club-Balkon scheitere einzig an der fehlenden Muskelkraft, ansonsten war kein Platz vor den spastischen Zuckungen und der durch Mark und Bein gehenden, physisch wie psychisch fühlbaren Energie des rasenden und tobenden Vollblut-Performers sicher, eine Energie, die ständig und ohne Abstriche eine latente Bedrohung und das Unvorhersehbare des nächsten Tobsuchtsanfalls mitschwingen ließ. Dabei muss nicht explizit erwähnt werden, dass dieses Austesten der Grenzen des Bühnen-Entertainments hohen Unterhaltungswert hatte, der Mosh Pit vor der Bühne, in dem Marshall nicht selten selbst involviert war, legte beredtes Zeugnis ab, der frenetische Applaus zum Ausklang der letzten, hingebrüllten Lyrics zum finalen, großartigen „Ocean Song“ sowieso.
In Sachen musikalische Erbauung ist mit dem Daughters-Konzert im laufenden Jahr das letzte Wort vermutlich noch nicht gesprochen, ob allerdings in nächster Zukunft nochmal ein sich völlig verausgabender Kamikaze-Maniac wie der fiebrig-besessene Vorturner der begnadeten Noise-Band aus Providence/Rhode Island um die Ecke kommt, darf ernsthaft in Zweifel gezogen werden.
Mächtig in den Bann zogen den Laden vorab bereits für eine halbe Stunde die vier Tifosi der Band Arto. Das Rhyhtmus-gebende Brüderpaar Luca und Simone Cavina wie die beiden Linkshänder-Gitarristen Bruno Germano und Cristian Naldi bringen einen ganzen Sack voller Erfahrungen und Ideen aus ihrem jeweiligen Engagement in diversen anderen norditalienischen Indie- und Experimental-Bands mit, im gemeinsamen Verbund als Arto sind sie seit 2017 unterwegs, seit März vergangenen Jahres haben sie ihr Debüt-Album „Fantasma“ am Start. Die Combo aus der Emilia-Romagna beschreibt ihren Stil selbst als „Instrumental Cinematic Gloomscapes“, mit dem sie vom Start weg einen hypnotischen Sog aus zeitloser, Gesangs-freier Space-, Kraut- und Prog-Rock-Seligkeit entwickelte. Die stilistischen Grenzen dieser Spielart dehnt die Band mit ihrem vehement drängenden Experimental-Lärmen permanent in Richtung Noise-Rock, No Wave und artifizieller Doom/Postmetal. Das Quartett gibt den Einflüssen aus ihren Stamm-Formationen umfangreichen Raum und stülpt dem komplexen Crossover eine finstere, bedrohliche Grundstimmung über, die trotz diffuser, unterschwelliger Düsternis weit mehr faszinierend in den Bann zieht denn beängstigend für Beklemmung sorgt.
Schweres Bass-Geläuf, das immer wieder in Nähe zum Amp die Störgeräusche des Feedbacks auslotete, und ein kompromissloser Anschlag der Trommeln zimmerten das Grundgerüst für die experimentellen Soundscapes, die atmosphärischen Crescendi und die frei lichternde, gespenstische Gitarren-Psychedelic, die in der konzertanten Gangart um einiges druckvoller, knochentrocken härter rockend und direkt zupackender ausfielen als in der nicht weniger gelungenen, Trance- und Ambient-verwandteren Mystik der Tonträger-Konserve.
Arto präsentierten sich als einer jener seltenen Opening Acts, die ausgedehntere Möglichkeit zur Präsentation und Würdigung als den zeitlich knapp bemessenen Rahmen verdient hätten und in der Form bei Gelegenheit gerne auch als Headliner wieder vorbeischneien dürfen.
Daughters und Arto sind dieser Tage noch zu folgenden Gelegenheiten im Rahmen ihrer kurzen Europa-Tournee zu sehen:
10.04. – Paris – Point Ephémère
11.04. – Brussels – Botanique/Orangerie
12.04. – Berlin – Cassiopeia
13.04. – Hamburg – Hafenklang