Beirut

Reingehört (467): Oiseaux-Tempête & The Bunny Tylers

Oiseaux-Tempête – TARAB طرب / Live (2018, Sub Rosa)

Sturmvögel Live, Volume 1: Die beiden Pariser Musiker Frédéric D. Oberland und Stéphane Pigneul von Oiseaux-Tempête haben im vergangenen Jahr mit „AL-‘AN ! الآن (And Your Night Is Your Shadow – A Fairy​-Tale Piece Of Land To Make Our Dreams)“ einen der herausragendsten Tonträger seit langem im experimentellen Postrock veröffentlicht und mit den Konzerten zum Präsentieren des exzellenten Materials nicht minder Eindruck hinterlassen, unter anderem auch bei ihrem fulminanten Auftritt in der Münchner Glockenbachwerkstatt, auf dem dieser Tage erschienenen Live-Album „TARAB طرب“ haben sie die magischen Momente der 2017er-Tour für die Nachwelt eingefangen.
Oberland und Pigneul zeichnen mit Hilfe von Musikern des libanesischen Johnny Kafta Anti-Vegetarian Orchestra, des Beiruter Drone-Duos The Bunny Tylers, Drummer Sylvain Joasson, Sampling/Electronica-Mixer Mondkopf und dem niederländischen The-Ex-Sänger G.W. Sok in dominierend dunklen Klangfarben ein düster funkelndes Bild in der thematischen Auseinandersetzung mit der aktuellen Situation im Nahen Osten, die acht ausgedehnten, oft weit über zehn Minuten langen Werke speisen sich naheliegend aus den Titeln der letztjährigen Veröffentlichung, aus ausgewählten Titeln vom 2015er-Album „ÜTOPIYA?“ sowie einer Handvoll bis dahin exklusiv live vorgetragener neuer Arbeiten wie dem intensivem, sich rauschhaft in Einklang mit der Musik steigerndem, von G.W. Soks großartigen Spoken-Word-Tiraden getragenem „Tuesday And The Weather Is Clear“.
Orientalische Mystik trifft auf arabischen Folk, freie Improvisation und Free-Jazziges auf eine Psychedelic, die nachhaltig in gehobene, vor allem abgehobene Klangregionen führt, Electronica, Sampling und schwere Drones auf den unvergleichlichen Postrock von Oiseaux-Tempête, der mitunter Tiefgang und Schwere des Doom- und Post-Metal nicht nur andeutet, sondern mit ureigenen, anderen, Genre-untypischen Mitteln umsetzt. Die Band erschafft zuforderst mit maßgeblicher Hilfe der beteiligten Musiker aus dem Libanon eine beziehungsreiche, vielschichtige musikalische Metapher im nachdenklichen, empathischen Grundton, die eine unterschwellige Bedrohung mitschwingen lässt und die fragile politische Situation im Nahen Osten in gedeckten Tönen abbildet.
Die Aufnahmen sind erfreulich weit entfernt vom herkömmlichen konzertanten Abbilden bereits bekannter Studio-Einspielungen, funktionieren darum als eigenständiges Gesamtkonzept und unterscheiden sich somit fundamental von handelsüblichen Live-Best-Of-Alben anderer Künstler. Viel mehr als nur eine sinnvolle Ergänzung zum bisher noch überschaubaren, komplett und mit Nachdruck empfehlenswerten Gesamtwerk der französischen Postrock-Institution.
(***** – ***** ½)

Oiseaux-Tempête & The Bunny Tylers – The True History Of The Tortoise & The Hare According To Lord Dunsany / Live At Reunion On March 19, 2016 (2018, Ruptured / Cargo Records)

Sturmvögel Live, Volume 2: Bereits aus 2016 stammt die gleichfalls aktuell veröffentlichte Aufzeichnung eines Konzerts, das Oiseaux-Tempête zusammen mit dem libanesischen Coldwave-Duo The Bunny Tylers seinerzeit im Beiruter Club Reunion spielten. In der französisch/nahöstlichen Kollaboration mit Charbel Haber und Fadi Tabbal zünden Oberland und Pigneul eine weitere Stufe ihres experimentellen Postrock-Ansatzes, der hier in sieben langen, ineinander fließenden Instrumental-Arbeiten einer einheitlichen, komplexen Komposition in stilistische Grenzen überwindende Space- und Krautrock-Sphären driftet. Der individuelle Progressive-Ansatz der Pariser Sound-Pioniere ist hier von einem gedehnten, bedrohlichen Downtempo-Virus befallen, das sich langsam, nichtsdestotrotz nachdrücklich, gründlich und vor allem schwerst Klangbild-prägend ausbreitet durch die Trip-artigen, abstrakten, dunkel schimmernden Drones und Ambient/Trance/Electronica-Infusionen der beiden Bunny Tylers, die sich ohne Brüche an den Nahtstellen wunderbarst in die geheimnisvoll schwelenden Instrumental-Improvisationen fügen.
Exzellente Klangreise und beispielhafter Ausflug in den jungen, vielschichtigen Beiruter Musik-Underground, in dem der damals mitten in die Wirren des Libanesischen Bürgerkriegs hineingeborene Bunny-Tyler-Gitarrist Fadi Tabbal neben seiner Profession als Musiker und Komponist eine zentrale Rolle spielt als Betreiber der Tunefork Recording Studios und Patron des Beirut Open Space, einer Bühne als Treffpunkt und Raum zum Austausch für libanesische und arabische Indie-, Experimental- und Folk-Musiker.
(*****)

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Reingehört (342): Oiseaux-Tempête

Oiseaux-Tempête – AL-‘AN ! الآن (And Your Night Is Your Shadow – A Fairy​-Tale Piece Of Land To Make Our Dreams) (2017, Sub Rosa)

Ursprünglich 2012 für eine Soundtrack-Arbeit zu einem Dokumentationsfilm über die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verwerfungen in Griechenland angeheuert, hat sich das französische Duo Oiseaux-Tempête der beiden Pariser Musiker Frédéric D. Oberland und Stéphane Pigneul inzwischen zu einer ernst zu nehmenden Größe im europäischen Experimental-Postrock gemausert. 2015 setzte sich die Band auf „Ütopiya?“ mit den Perspektiven der türkischen Gesellschaft auseinander, durch Vertonung von Gedichten des ausgebürgerten Dichters Nâzim Hikmet, in einem faszinierenden Entwurf aus Field Recordings, Post- und Kraut-Rock und frei fließender Improvisation.
Auf der aktuellen Arbeit ist die Band weiter geographisch verhaftet im Mittelmeer-Raum unterwegs, die musikalische Reise der Sturm-Vögel geht in den Nahen Osten, hinsichtlich Öffnung hin zu komplexer stilistischer Vielfalt nimmt „AL-‘AN ! الآن“ den Faden der Vorgängerwerke auf und entwickelt das Klangbild der Formation zu einer Perfektion, die für sich steht, im ausgedehnten Werk immer organisch gewachsen, nie konstruiert in den Kompositionen wirkend, eine Palette an Einflüssen offenbarend, welche der heterogenen, von vielen Kulturen beeinflussten aktuellen Situation speziell im Libanon in der tonalen Umsetzung völlig gerecht wird. Die Erfahrungen und Eindrücke im von syrischen und palästinensischen Flüchtlingen, zahlreichen unterschiedlichsten kulturellen Gesellschaften und nicht zuletzt von der langjährigen Bürgerkriegs-Historie geprägten Beirut fließen ein in arabisch beeinflusste Folk-Drones, die sich in einen von Tablas-Rhythmik getriebenen, dunkel funkelnden Postrock-Flow steigern, angelehnt an ausgedehnte Instrumental-Exerzitien von Giganten des Genres wie den Swans oder Godspeed You! Black Emperor und die düstere Klangmystik der belgischen Church-Of-Ra-Band The Black Heart Rebellion, weit darüber hinaus bereichert durch gesampelte Kirchengesänge, in den Bann ziehenden Anschlag der elektrisch verstärkten Bouzouki, kontemplativen Moog-Synthie-Ambient, aufflackernde Saxophon-Jazz-Psychedelic, französische, arabische und englische Spoken-Word-Collagen, eingefangen in Field Recordings vor Ort, und wiederholten, wütend-verzweifelnden Ausbrüchen aus dem meditativen, gefangen nehmenden Trance-Drone.
Eine atmosphärisch dichtes wie sich zwischen vielfältigsten Eindrücken aufreibendes musikalisches Tage- und Skizzenbuch, das sich im Gesamtbild zu einem großartigen tonalen Kunstwerk zusammenfügt und im 17-minütigen „Through The Speech Of Stars“ seine Klimax findet.
Nichts weniger als eine der gelungensten und ergreifendsten Arbeiten der letzten Zeit aus dem weiten Feld des improvisierten Postrock, realisiert in Zusammenarbeit mit Musikern des libanesischen Johnny Kafta Anti-Vegetarian Orchestra, dem ägyptischen Sänger und Komponisten Tamer Abu Ghazaleh und G.W. Sok, dem langjährigen Frontmann der niederländischen Anarcho-Punk-Combo The Ex – „some live epiphanies improvised between Middle East and Europe during the year of chaos 2016“.
Schöner als Alexandre Francoise von der Plattenfirma kann man’s kaum zusammenfassen: „One thing is certain: the story of the night that Oiseaux-Tempête paints is one that moves towards the day, and is one in which Eros still has words left to say“.
(***** ½)

Reingehört (78)

Reingehört Sept 10

Low – Ones And Sixes (2015, Sub Pop)
Nie waren sie wertvoller: Das Slowcore-Trio um das Mormonen-Ehepaar Mimi Parker und Alan Sparhawk aus Duluth/Minnesota (Hometown von Bob dem Meister) liefert mit ‚Ones And Sixes‘ ihr bis dato reifstes Werk ab. Grundsätzlich immer wohlwollend beäugt, war ihr 2011er-Album ‚C’mon‘ (Sub Pop) bereits ein Riesenschritt in Richtung schwergewichtiger Wohlklang, und so brilliert die neue Scheibe nun endgültig mit ätherischem Ambient-Indie, der dieses Mal nicht nur gewohnt filigran, sondern auch durchgehend wunderschön, elegant und vor allem spannend tonal die großen Gefühle transportiert.
Schenkt man der Presse Glauben, war Sänger und Gitarrist Alan Sparhawk in den letzten Jahren von Depressionen geplagt, in diesem Umstand mag der musikalische und thematische Tiefgang der zwölf neuen Songs begründet liegen, die trotz herrlicher Melodienlandschaften ein unterschwelliges, bedrohliches Unbehagen mitschwingen lassen, die dräuende Schwermut bietet perfekten Schutz gegen die Kitsch-Gefahr.
Jede Menge legales Live-Bootleg-Material von Low findet sich im Übrigen bei nyctaper.com und archive.org.
Das Trio ist im Herbst in unseren Gefilden konzertant zugange, unter anderem am 19. Oktober im Münchner Ampere.
(*****)

Public Image Ltd. – What the World Needs Now… (2015, PiL Official Ltd / Cargo)
„Anger Is An Energy“, immer noch, beim guten alten Johnny Rotten. Zusammen mit Musikern wie dem ehemaligen Mekons-Mitstreiter Lu Edmonds und dem in Sachen Post-Punk bestens prädestinierten The-Pop-Group-Drummer Bruce Smith wütet, mault und schimpft sich John Lydon durch das aktuelle Songmaterial, das Anfangs in seinem radikalen Stakkato-Vortrag Reminiszenzen des großen Vorbilds an Epigonen wie die derzeit schwer angesagten Sleaford Mods erkennen lässt und im weiteren Verlauf zwischen typischen Post-Punk-Fisimatenten und für PiL-Verhältnisse geradezu hymnischen Indie-Pop-Exerzitien changiert.
An der ein oder anderen Stelle mag das neue Werk allzu retrospektiv daherkommen, und ein Meisterwerk wie seinerzeit die kultisch verehrte ‚Metal Box‘ (1979, Virgin Records) ist es beileibe nicht, aber gut ins Ohr geht es allemal…
Notiz am Rande: In der aktuellen September-Ausgabe des Fußball-Magazins 11Freunde schwadroniert John Lydon in seiner Funktion als jahrzehntelanger Arsenal-Anhänger über den Niedergang der Fan-Kultur in England und fragt sich, was er in einem Stadion verloren hat, in dem er nicht mehr stehen, geschweige denn fluchen noch rauchen darf und führt so die schöne neue Uli-H.-Fußballwelt vor Augen, die nur noch den mit dicker Brieftasche ausgestatteten Jubelperser im Blick hat und das Gekicke jeglicher ‚Street Credibility‘ beraubt, indem Stimmung per Tonband in der Arena eingespielt wird, weil der gemeine FCB-Konsument zwecks Kaviar-Verzehr beim Torjubel verhindert ist…
Anyway, zum Finger in solche Wunden legen, dafür ist der ex-Pistol allemal der Richtige.
(****)

Beirut – No No No (2015, 4AD / Beggars)
Nach 4 Jahren ein neues Werk der Indie-Folk-/Balkan-Pop-Institution Beirut aus Santa Fe/New Mexico unter der wie immer maßgebenden Führung von Kapellmeister Zach Condon, der dem Vernehmen nach in den letzen Jahren wenig Spaß ob Scheidung, Krankenhaus-Aufenthalten und abgebrochener Tourneen hatte.
Der Kosmopoliten-Pop früher Tage ist auf ‚No No No‘ auf das wesentliche reduziert, die neun Songs erscheinen als Skelette früherer, aufwändig arrangierter Balkan-Soundtracks, der Bläser- und Orchester-unterfütterte Übermut der ersten Südeuropa-Indie-Pop-Großtaten fehlt hier völlig, blanke Song-Gerippe in einem für Beirut-Verhältnisse fast minimalistischen Gewand mögen das Herz nicht recht erwärmen, und so ist in dem Fall der Griff zu altem Material wie dem klangfarbenfrohen ‚Gulag Orkestar‘-Debüt (2006, Da Da Bing) und der noch exzellenteren, im Reissue dazugepackten ‚Lon Gisland‘-EP von 2007 empfohlen.
Weniger ist oft mehr, heißt es mitunter. Mag im ein oder anderen Fall was für sich haben, bei der Nummer hätte etwas mehr Opulenz nicht geschadet und so ist es gut, dass der neue Beirut-Aufguss nach 29 Minuten sein erlösendes Ende findet. Latent belanglos.
(***)