Boxen

Soul Family Tree (56): Hits And Misses – Muhammad Ali And The Ultimate Sound Of Fistfighting

„Ali war ein schöner Krieger und er reflektierte eine neue Haltung für einen Schwarzen. Ich mag Boxen nicht, aber er war etwas ganz Besonderes. Seine Grazie war beinahe erschreckend.“
(Toni Morrison)

Kein Geringerer als der Pop-Star schlechthin unter den Spitzensportlern des 20. Jahrhunderts soll Thema und besungener Held sein im heutigen Beitrag zur Black-Friday-Reihe: Die afroamerikanische Profi-Box-Legende Cassius Marcellus Clay aus Louisville/Kentucky, „The Louisville Lip“, seit 1964 nach Ablegen seines „Sklaven-Namens“ und Konvertierung zum Islam dem Universum als Muhammad Ali bekannt, dreimaliger „Undisputed Champion“ in der Schwergewichts-Klasse, laut IOC „Sportler des Jahrhunderts“, nach seiner eigenen, unbescheidenen Selbsteinschätzung schlichtweg „The Greatest“ – und um auf die Musik-Historie zurückzukommen: den Rap wie den Hip Hop hat er auch mit auf den Weg gebracht, wie nicht zuletzt der deutsche Kabarett-Minimalist Rolf Miller in seiner unnachahmlichen Art bezeugt: „Am End hat sich alles g’reimt. Des was der Eniman heut singt, des hat der Ali früher im Interview verzählt.“

„The less cynical, less media-saturated nature of the times allowed Ali to achieve a mythic grandeur he probably couldn’t today, and the overall tone here is one of unalloyed eulogy.“
(The Telegraph, CD of the week, 8.11.2003)

2003 veröffentlichte das Münchner Indie-Label Trikont zu Ehren des großen Boxsport-Entertainers den Sampler „Hits And Misses – Muhammad Ali And The Ultimate Sound Of Fistfighting“. Kompiliert, mit informativen Liner-Notes in dem für Trikont-Verhältnisse obligatorischen, exzellent aufgemachten Beiheft versehen und herausgegeben wurde die feine Sammlung vom Münchner Hobby-Boxer, DJ, Journalisten und Maler Jonathan Fischer, der bei der unabhängigen Giesinger Plattenfirma bereits mit der Veröffentlichung diverser anderer gewichtiger Themen-Sammlungen rund um die schwarze Musik glänzte. Unterstützt wurde er beim Ali-Sampler von Co-Herausgeber Claas Gottesleben, über den ansonsten neben seiner Beteiligung an diesem Projekt nichts in Erfahrung zu bringen war.

„Ich habe keinen Streit mit den Vietcong. Sie haben mich niemals Nigger genannt.“

Die Liner Notes zur CD-Ausgabe setzen sich mit dem Phänomen auseinander, dass die Auftritte von Muhammad Ali weit mehr waren als nur großer Kampfsport. Der Ausnahme-Athlet entwickelte im und neben dem Box-Ring einen ureigenen Stil, seine Pressekonferenzen und Interviews boten erstklassiges Show-Entertainment, seine kritischen wie großspurigen Ansagen und speziell seine Kriegsdienst-Verweigerung zum Einsatz in Vietnam hatten politisches Gewicht in den USA und darüber hinaus, seine Hinwendung zur „Nation Of Islam“ und seine zwischenzeitliche Freundschaft mit Malcolm X bargen gesellschaftlichen Zündstoff im Geiste der amerikanischen Bürgerrechts– und Black-Power-Bewegung.
Die großen, berühmten Kämpfe in den Siebzigern wie der „Thrilla in Manila“ gegen seinen Dauer-Rivalen Joe Frazier oder der „Rumble in the Jungle“ in Kinshasa/Zaire gegen George Foreman, die weltweit Millionen von Fernsehzuschauern zu nachtschlafender Zeit vor die TV-Geräte lockten, waren weit mehr als nur medial inszenierte Sport-Events, sie reihten sich darüber hinaus wie etwa das legendäre Woodstock-Festival in den Kanon großer Pop-historischer Ereignisse ein.
Wie jedes große Helden-Epos war das Leben von Muhammad Ali vom großen Drama gezeichnet, und so ließ seine schwere Parkinson-Erkrankung als Folge seines viel zu späten Abschieds vom Boxring, sein Umgang mit dem Nerven-zersetzenden Defekt in seinen späteren Jahren und sein finales Hinscheiden im Jahr 2016 niemanden kalt.

„Clay swings with a left, Clay swings with a right, look at young Cassius, carry the fight.“

Der Trikont-Longplayer selbst bildet eine breite stilistische Palette an musikalischen Ali-Lobpreisungen vorwiegend aus den Siebziger Jahren ab, die von afroamerikanischem Soul, Funk und Blues über jamaikanischen Dancehall-Reggae, brasilianischen Pop und kongolesischen Big-Band-Sound bis hin zur Country-Schunkel-Nummer „Muhammad Ali“ vom weißen Americana-Musiker Tom Russell reicht, wohltönend dosierte Wirkungstreffer und größtenteils unbekannte Perlen aus der weiten Welt der populären Musik, die sehr gut ohne den Johnny-Wakelin-Hit „In Zaire“ auskommen, ergänzt um Spoken-Word-Beiträge vom Box-Champ Ali selbst und einer Straßenpredigt seines einstigen Gegners George Foreman, der nach seiner aktiven Zeit als Sportler Karriere als Autor, Fernsehkoch und berühmter Kirchenmann machte. Und auch Joe Frazier darf ran ans Mikro, der „Undisputed Heavyweight Champion“ von 1970 bis 1973 nahm in den Siebzigern mehrere Singles und EPs für unter anderem Capitol und Motown auf, in den späten 70ern rief er die Soul/Funk-Combo Joe Frazier And The Knockouts ins Leben, mit der er durch Amerika und Europa tingelte. Auf der Trikont-Musikdokumentation über den „Ultimate Sound Of Fistfighting“ ist er mit seiner Version des Bobby-Byrd-Songs „Try It Again“ zu hören.
Hier im Anschluss eine kleine Auswahl an Song-Highlights aus „Hits And Misses“:

„Float like a butterfly, sting like a bee, my name is Muhammad Ali.“

Sensationell geht die Nummer „The Ballad Of Cassius Clay“ ab, eine ultra-flotte Soul-Single der Band The Alcoves aus dem Jahr 1964, über die Jonathan Fischer im Beiheft treffend wie eine Knockout-Gerade anmerkt: „Ein typischer Song aus den 60ern, schnell, laut und stark, über einen großmäuligen, schnellen, starken und verdammt gutaussehenden Boxer, dessen politische Wirkung auf die Welt zu der Zeit noch nicht für jeden abzusehen war…“ – über die Formation The Alcoves ist wenig bekannt, selbst allwissende Portale wie Discogs oder Allmusic kennen keine biografischen Daten und nennen als Output der Combo nur die Single, ihre Berücksichtigung auf der Tracklist der Trikont-Sammlung und die Single-B-Seite „Heaven“ als Beitrag zu einem Sampler des New Yorker Labels Carlton Records.

„Marcellus Cassius Clay“ stammt von Jorge Ben. In seiner Heimat gilt der Musiker als einer der bekanntesten Vertreter der Música Popular Brasileira, in der sich Einflüsse aus Rock, Samba, Bossa Nova und Reggae wiederfinden. Das Loblied auf den Boxer ist 1971 auf Bens Album „Negro é Lindo“ erschienen. Der Künstler tritt seit den Achtzigern unter dem Namen Jorge Ben Jor auf, seine einflussreichste Phase auf die brasilianische Popular-Musik hatte er zwischen 1963 und 1976. US-Präsident Obama erwähnte den Musiker 2011 in einer Rede in Rio de Janeiro.

Eine weitere herausragende Nummer des Samplers ist „Foremann Ali Welcome To Kinshasa“ vom Orchestre G.O. Malebo, das die Formation aus Zaire 1974 als musikalischen Willkommensgruß für die beiden Kämpfer des „Rumble In The Jungle“ einspielte. Eine feine Afro-Pop-Nummer mit treibendem Beat, grandiosen Chören, flotten Bläsersätzen und den für die Band typisch flirrenden „Soukous“-Gitarren, hier der westafrikanischen Juju-Musik nicht unähnlich. Das Orchester hat in den Siebziger Jahren zahlreiche Singles eingespielt, seither scheint sich die Spur der Band in der Musikwelt zu verlieren…

Der jamaikanische Reggae und seine spezielle Verehrung afro-stämmiger Helden ist auf der Sammlung nicht zu knapp vertreten, der als Dennis Smith geborene DJ, Produzent und Seventies-Dancehall-Star Dennis Alcapone ist mit seinen Riddims und originellem Toasting in „Muhammad Ali“ und „Cassius Clay“ gleich zweimal zu hören, sein Landsmann Manley Augustus Buchanan aka Big Youth würdigt in „Foreman vs. Frazier“ mit seinem Chant den 1973 in seiner Heimatstadt Kingston ausgetragenen Titelkampf der beiden Schwergewichtler, der als „Sunshine Showdown“ in die Box-Geschichte einging und mit einem K.o.-Sieg Foremans in der zweiten Runde im Nationalstadion endete.

Der Box-Champ selbst hat sich 1963 noch unter seinem Geburtsnamen Cassius Clay als Sänger versucht, mit einer Interpretation des berühmten Soul-Klassikers „Stand By Me“ von Ben E. King, die Singles-Auskopplung, die sich im Übrigen nicht auf dem Trikont-Sampler findet, ist der einzige Song seines Columbia-Albums „I Am the Greatest“, auf der sich Ali ansonsten mit seinen Spoken-Word-Reimen als unterhaltsamer Comedian gibt. Die Aufnahmen gelten als frühe Vorläufer des Rap und Hip Hop. Auf „Hits And Misses“ findet sich der Titel-Track der Monolog- und Gedichte-Sammlung.

„Hits And Misses – Muhammad Ali And The Ultimate Sound Of Fistfighting“ ist im September 2003 beim Münchner Independent-Label Trikont erschienen und nach wie vor als CD im gut sortierten Fachhandel sowie als Download über die Label-Homepage erhältlich.

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Eine Kerze für Muhammad Ali

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„Der Ali, einwandfrei. Hat sich alles g’reimt bei dem, am End vom Satz alles g’reimt. Des was der Anyman heut‘ singt, des hat der Ali früher im Interview verzählt.“
(Rolf Miller, Tatsachen)

The Greatest: Der Mann, der 1942 als Cassius Clay in Louisville/Kentucky geboren wurde, war der erste und größte Popstar des Sport, bevor durchgestylte Gesamtkunstwerke wie Beckham oder Ronaldo überhaupt in Planung waren und der Medienbetrieb diese Nummer auf die Spitze trieb. Jahrhundertkämpfe, die Namen im Stile von Welthits trugen, seine Person Gegenstand von Kunstwerken wie dem berühmten Portrait des Magnum-Fotografen Thomas Hoepker, dem sehenswerten Dokumentarfilm „When We Were Kings“ von Leon Gast über den „Rumble In The Jungle“ gegen George Foreman 1974 in Zaire oder dem Biopic „Ali“ von Michael Mann mit Will Smith in der Titelrolle aus dem Jahr 2001.
Seinen größten Auftritt hatte Muhammad Ali 1978 im DC-Comic „Superman vs. Muhammad Ali“, in dem er zuerst den Superhelden vom Krypton im Vorkampf auf die Bretter schickte und dann die Welt im Fight gegen den Champion der Außerirdischen rettete.
Im Box-Sport hat Ali bis heute gültige Maßstäbe und Meilensteine gesetzt, bevor ein Nachfolger wie der Oberproll Tyson den Sport Renommee-mäßig in die Steinzeit zurückbombte und Gentlemen wie die Klitschko-Brüder den guten Ruf des Boxens halbwegs wiederherstellten.
Am vergangenen Freitag hat Muhammad Ali seinen langjährigen Kampf gegen seine Parkinson-Erkrankung verloren, dem Box-Sport hat einer wie er bereits lange vorher gefehlt.

Anmerkungen zur Boxer-Karriere, Vietnam-Kriegsdienstverweigerung, Nation Of Islam in den lesenswerten Nachrufen von Stefan Haase / Freiraum und Gerhard Mersmann / Form7.

Boxer I – IV

Gerhard Emmer / Boxer I – IV / 2014/15
Ölkreide + Bleistift + Gouache / 4 x 49 cm x 59 cm

Gerhard Emmer / Boxer – Skizzen / 2014
Ölkreide + Bleistift / 5 x 15 cm x 21 cm

Gerhard Emmer Kunst / Homepage

Die britische Polit-Punk-Folk-Band The Mekons um Jon Langford und Sally Timms hat im Rahmen ihrer hervorragenden LP „The Mekons Honky Tonkin'“ (1987, Sin Records / Cooking Vinyl / Rough Trade) zu den jeweiligen Stücken ihre Inspirationsquellen aus Film, Literatur und Kunst dokumentiert. Diese Idee will ich zu diesem Beitrag aufnehmen und einige Artefakte vorstellen, die ich zum Thema „Boxen“ faszinierend finde:

Literatur:

Nelson Algren – Calhoun. Roman eines Verbrechens / The Devil’s Stocking (1983, Zweitausendeins)
Der posthum veröffentlichte Roman des großen amerikanischen Neorealisten und Simone-de-Beauvoir-Intimus über den Rubin-„Hurrican“-Carter-Fall. Großer Boxer-Roman, großer Kriminal-Roman.

Nelson Algren – Nacht ohne Morgen / Never Come Morning (1942; dt.: 1990, Zweitausendeins)
Algrens erster Boxer-Roman über den hoffnungsvollen Fighter Bruno „Lefty“ Bicek, die polnisch geprägte Chicagoer North Side, Jugendgangs, Prostituierte, Trinker und Kleinkriminelle, für die es keinen neuen Morgen geben wird. Amerikanischer Neorealismus at it’s Best und vergleichbar mit seinem Großwerk „The Man With The Golden Arm“.

Musik:

Die Emmylou-Harris-Version des Simon-And-Garfunkel-Klassikers „The Boxer“ von der hervorragenden Bluegrass-Platte „Roses In The Snow“ (1980, Warner)

„Boom Boom Mancini“ von Warren Zevon von der ebenfalls sehr zu empfehlenden „Sentimental Hygiene“-Scheibe von 1987 (Virgin Records). Der Song thematisiert den Kampf des WBA-Leichtgewicht-Weltmeisters (1982 – 1984) Ray Mancini gegen den Koreaner Duk Koo Kim, der Mancini 1982 herausforderte und fünf Tage nach dem Kampf an den dort erlittenen Verletzungen verstarb.

Film:

Sebastian Dehnhart – Klitschko (2011) – sehenswerte Doku über den Werdegang und die Karriere der Klitschko-Brüder.

David O. Russell – The Fighter (2010) – Milieustudie und Sportler-Drama über den irisch-stämmigen WBU-Halbweltergewichts-Weltmeister Micky Ward mit Mark Wahlberg und Christian Bale in den Hauptrollen. Die spektakulären Kämpfe der sogenannten „Ward vs. Gatti Trilogy“ gingen wegen ihrer außergewöhnlichen Härte in die Box-Geschichte ein.

Leon Gast, Taylor Hackford – When We Were Kings (1996) – Dokumentarfilm über den „Rumble In The Jungle“ in Kinshasa, Zaire, am 30. Oktober 1974 zwischen dem Schwergewichts-Weltmeister George Foreman und seinem Herausforderer, dem Ex-Weltmeister Muhammad Ali.

Martin Scorsese – Raging Bull / Wie ein wilder Stier (1980) – Boxer-Drama über den Mittelgewichts-Weltmeister Jake LaMotta, verkörpert vom großen Robert De Niro, der für diese Rolle 27 Kilo Gewicht zulegte.

Robert M. Young – Triumph Of The Spirit / Triumph des Geistes (1989) – Bewegender Film nach einer wahren Begebenheit, der die Geschichte des nach Auschwitz deportierten griechischen Olympia-Boxers Salamo Arouch (Willem Dafoe) erzählt. Zum Entertainment des Lagerpersonals stieg Arouch in den Ring und überlebte so den Holocaust. Die Schluss-Sequenz über die Befreiung Auschwitz‘ durch die Rote Armee ist ein Meisterwerk ergreifender cineastischer Bildsprache.

Eine Kerze für Fritz Sdunek

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Gestern ist die deutsche Box-Trainer-Legende Fritz Sdunek im Alter von 67 Jahren nach einem Herzinfarkt in einer Hamburger Klinik verstorben.
Sdunek war vor seiner Trainerkarriere bis 1972 Amateurboxer in der DDR. Er trainierte unter anderem die Schwergewichts-Weltmeister Wladimir und Vitali Klitschko, den Ex-WBA-Mittelgewichts-Weltmeister Felix Sturm, den Halbschwergewichts-Weltmeister Dariusz Michalczewski und den Cruiser-Gewichtler Ralf Rocchigiani.