Coco Schumann

Eine Kerze für Coco Schumann

„Der Mensch ist eine merkwürdige Erfindung. Unberechenbar und gnadenlos. Die Bilder, die ich in jenen Tagen sah, waren nicht auszuhalten, und doch hielten wir sie aus. Wir spielten Musik dazu, ums nackte Überleben. Wir machten in der Hölle Musik.“
(Coco Schumann, Der Ghetto-Swinger, La Paloma)

Der Berliner Gitarrist Heinz Jakob „Coco“ Schumann ist gestern in seiner Heimatstadt im Alter von 93 Jahren gestorben.
Schumann tummelte sich bereits in den dreißiger Jahren in der Berliner Swing- und Jazz-Szene, im „Dritten Reich“ wurde er 1943 denunziert und als Halbjude in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert, wo er als Musiker und Bandmitglied der „Ghetto Swingers“ Konzerte für das Wachpersonal der SS spielen musste und in einem Propagandafilm als Schauspieler zu sehen war.
Coco Schumann überlebte nach seiner Verlegung 1944 das Vernichtungslager Auschwitz, das Dachau-Außenlager Kaufering und einen sogenannten Todesmarsch gegen Ende des 2. Weltkriegs.
In späteren Jahren unterstützte Schumann konzertant den Wahlkampf von Bundeskanzler Willy Brandt, lernte Jazz-Größen wie Ella Fitzgerald und Louis Armstrong kennen und musizierte mit bekannten Kollegen wie Bert Kaempfert und Helmut Zacharias.
Sein tragisches wie außergewöhnliches Leben ließ er in der lesenswerten wie von erstaunlichem Humor geprägten Erinnerung „Der Ghetto-Swinger. Eine Jazzlegende erzählt“ Revue passieren. Eine Auswahl seiner Aufnahmen ist nach wie vor beim Münchner Indie-Label Trikont erhältlich.

Werbung

Reingelesen (70): Christof Meueler mit Franz Dobler – Die Trikont-Story: Musik, Krawall & andere schöne Künste

„Im Übrigen meinen wir, dass nicht die Musik in der Krise ist, sondern ihre industrielle Verwertung und das ständige Schielen nach dem statistischen Durchschnitt. Deshalb nehmen wir uns die Freiheit nach allen Seiten zu schauen und immer noch und immer wieder die Musik ins Zentrum unserer Arbeit zu stellen.
Und vor allem: Wir machen weiter.“
(Eva Mair-Holmes und Achim Bergmann, Trikont-Katalog 2015)

Christof Meueler mit Franz Dobler – Die Trikont-Story: Musik, Krawall & andere schöne Künste (2017, Heyne Hardcore)

Im bisher noch nicht völlig zu Tode gentrifizierten Münchner Arbeiterviertel Obergiesing, an der Tegernseer Landstraße, findet sich die alternative Kneipe „Café Schau ma moi“, einen Steinwurf entfernt von der ersten deutschen McDonalds-Filiale, von der Kultur-/Öko-Freifläche Grünspitz und dem Städtischen Stadion an der Grünwalder Straße, der Heimat der Münchner „Löwen“, vor und in der schmalen Bar tummelt sich an Regionalliga-Spieltagen die links-alternative Fanszene der „Sechziger“, etlichen aus dem treuen Haufen dürfte durchaus geläufig sein, dass sich im Hinterhof zur Kneipe seit 1977 die Heimat des ältesten deutschen – vielleicht sogar weltweit ältesten – Independent-Labels findet, und für die, die es nicht wissen, gibt der große Trikont-Schaukasten am winzigen Biergarten der Wirtschaft und Portraits von Querdenkern wie Oskar Maria Graf, Karl Valentin oder Erich Mühsam an der Wand der Café-Bar unübersehbare Hinweise auf die unmittelbare Nachbarschaft in der Kistlerstraße.

Die unvergleichlich feine Münchner Plattenfirma Trikont feiert in diesem Jahr 50-jähriges Gründungsjubiläum, und das ist mindestens genauso viel Grund zum Jubeln wie die Rückkehr der „Löwen“-Kicker an die innig geliebte Spielstätte in der Nachbarschaft, gebührend gewürdigt wird der runde Geburtstag nebst einiger „Trikont wird 50!“-Konzerte mit einem opulenten Prachtband zur Label-Historie der beiden Autoren Christof Meueler und Franz Dobler, dieser Tage im Heyne-Verlag im Hardcore-Programm erschienen.

„Wir schrappen immer wieder an so einem Grat entlang und wissen nicht, wie lang wir uns da noch halten. Aber wenn du Spaß dran hast, willst Du nicht aufhören! Uns trägt immer noch das Gefühl: Wir können euch Musik zeigen, die ihr sonst nicht findet.“
(Eva Mair-Holmes, in: Trikont, Interview mit Petra Kirzenberger, curt. Stadtmagazin München #87, Sommer 2017)

„Die Trikont-Story“ dokumentiert chronologisch die wechselvolle Geschichte der heute weit über Münchens Stadtgrenzen hinaus bekannten Indie-Institution, die ihren Anfang nahm in den Studenten-bewegten, Autoritäten anzweifelnden, rebellischen Sechzigern, in denen die heutige Platten-Firma als linker Sponti-Buchverlag mit Publikationen wie der Mao-Bibel, Schriften vom nordvietnamesischen Onkel Hồ, dem „Bolivianischen Tagebuch“ des im Jahr der Trikont-Gründung ermordeten lateinamerikanischen Guerillaführers Ernesto ‚Che‘ Guevara und der von der Staatsanwaltschaft verbotenen Autobiographie „Wie alles anfing“ des ausgestiegenen ex-Terroristen Bommi Baumann auf sich aufmerksam machte. Die Musik kam erst später ins Programm, anfangs trat der Trikont-Verlag nur als Vertrieb für den Deutsch-Rock von Ton Steine Scherben in Erscheinung, in späteren Jahren dann mit eigen-eingesungenen Arbeiterliedern der Label-Betreiber zur Unterstützung von Streiks in den Münchner BMW-Werken, als Label für Folk-Musik und Protest-Songs aus dem Bereich der indigenen Völker, des linken europäischen Untergrunds und Widerstands gegen die Diktaturen in Spanien, Griechenland oder Chile, und nicht zuletzt als Soundtrack-Lieferanten der in den Siebzigern aufkommenden Anti-Atomkraft-Bewegung.

Mit den Jahren wechselte die Verlags- und Plattenfirma-Führung, wo zu Beginn der Schriftsteller Herbert Röttgen und die heutige Grünen-Politikerin Gisela Erler mit Achim Bergmann die Geschicke bei Trikont lenkten und sich später der daraus hervorgegangene Dianus-Trikont-Verlag unter der Ägide von Röttgen vermehrt mit esoterischer Literatur beschäftigte und daran auch pleite ging, haben Bergmann und Eva Mair-Holmes mit dem 1980 abgespaltenen Trikont-Plattenlabel „Unsere Stimme / Our Own Voice“ bis heute fast fünfhundert Tonträger auf den Markt gebracht. Darunter finden sich mutige Musik-verlegerische Glanztaten wie eine neun-teilige Samplerreihe zur Cajun- und Zydeco-Musik Louisianas, die vom Münchner Künstler und Journalisten Jonathan Fischer herausgegebenen, größtenteils politischen Schwerpunkt-Sampler zum Thema Soul, das gesammelte gesprochene Wort vom bayerischen Urgestein des absurden Theaters Karl Valentin, exzellente Dokumentationen von FSK-Musiker, Autor und Radio-DJ Thomas Meinecke über die von texanischen Polka-Bands jenseits des Atlantiks fortgeführte bayerisch-böhmische Musiktradition, die Begleitmusik zur eigenen Beerdigung aus den „Dead & Gone“-CDs, zusammengestellt vom hochverehrten Wiener (was Wunder bei dem Thema?) Ö3-Musicbox-Moderator Fritz Ostermayer, die beiden grandiosen DVDs „Hard Soil“ und „The Folk Singer“ von Slowboat-Filmemacher und Sargasso-Herausgeber M. A. Littler und der hierzu ergänzende, nicht minder gelungene CD-Sampler „Strange & Dangerous Times“ von Sebastian Weidenbach zum Thema Muddy Roots/US-Folk-/Blues-Underground wie auch tonale Feldforschungen über vietnamesische Straßenmusik, äthiopischen Funk, die Wurzeln und Ausblicke in der jüdischen Klezmer-Musik oder den Rembetiko-Underground der griechischen Hafen-Spelunken – um nur einige ausgewählte Glanzlichter des Trikont-Backkatalogs zu nennen, die in ihrer Vielfalt ein weites, globales wie heterogenes musikalisches Feld abdecken, sich aber durch die Bank durch hohe Qualität und bei den Themen-Sammlungen durch erschöpfend-umfängliche Zusammenstellungen und in den beigelegten, mit Liebe und Herzblut verfassten Booklets durch kenntnisreiches Detail-Wissen und Einordnen in einen größeren gesellschaftlichen Kontext auszeichnen. Und nicht selten werden durch die jeweiligen Sampler Querverbindungen zu anderen Musikgattungen offen gelegt und Einflüsse thematisiert, die sich auf den ersten Blick bzw. das erste Hören so nicht offenbaren wollen. Die im Bezug auf die ausgeprägte Trikont-Compilation-Kultur seit jeher angestimmten Lobpreisungen etwa von BBC-Kult-DJ John Peel oder aus der versammelten in- wie ausländischen Presselandschaft kommen nicht von ungefähr.

Daneben hatte das Label stets Auflagen-starke Einzelkünstler und Bands unter Vertrag, früher die in jeder Schul-Aula progressiver Gymnasien präsenten Deutsch-Anarcho-Rocker Schroeder Roadshow, später den Bayernrock-musizierenden Oberarzt Georg Ringsgwandl und die Pioniere der neuen Volksmusik-Bewegung, La Brass Banda und Kofelgschroa, über die Qualitäten der beiden letztgenannten Formationen darf man durchaus geteilter Meinung sein, wie auch über die brachial-derben und oft ausfälligen Ansagen und Songs von CSU-Intimfeind Hans Söllner, über den man viel sagen kann, aber nicht, dass er sich je von Trends, politischen Opportunitäten oder gar richterlichen Beschlüssen hätte verbiegen lassen, und damit hat er viel gemein mit den Trikont-Machern und somit auch jederzeit seine Existenzberechtigung beim Münchener Vorzeige-Label. Über jeden Zweifel erhaben hingegen  der großartige Alpenbeat-/Punkfolk-/Hiphop-Crossover des bis heute unvergleichlichen oberösterreichischen Duos Attwenger und das Deutschpop-Philosophen-Songwriting von Eric Pfeil, der in seinen unnachahmlich geistreichen Ausführungen im Buch unter anderem auch zum letztjährigen Literaturnobelpreisträger-Witz zu Wort kommt und damit den Leitfaden zum unverkrampften Umgang mit vermeintlichen Mega-Stars gibt: „Bob Dylan ist wirklich der seltsamste Popstar, den es gibt. Er hat auf seinen Platten jahrelang nur mit Tom-Waits-Stimme gegrunzt, und auf einmal fängt er wieder an zu singen – ausgerechnet bei Frank-Sinatra-Songs. Ich glaube, bei Dylan ist man immer gut beraten, wenn man ihn als Komiker begreift. Das hilft extrem. Wenn man ihn so sieht, dann kann man sehr viel Spaß haben, und dann nimmt man ihn nicht so ernst.“

Den Punk mag das Label weitestgehend verschlafen haben, kurzfristige Moden waren sowieso nie das Ding von Trikont, dafür sind über die Jahre bis heute anhaltende Beziehungen zu den Künstlern gewachsen wie riesige Themensammlungen aufgebaut worden, ob das eine mehrteilige CD-Dokumentation mit 83 Variationen über die Ursonate des Pop „La Paloma“ ist oder ein inzwischen riesiger, grenzen-erweiternder Fundus zur bayerischen Musik, der von alten Schellack-Aufnahmen Münchner Volkssänger_Innen, Best-Of-Doppel-CD-Sammlungen von Ausnahmekünstler_Innen wie der einzigartigen Bally Prell und dem Bayern-Krautrock von Sparifankal bis hin zur um Chanson und modernes Liedgut erweiterten neuen Traditionsmusik von Mrs. Zwirbl reicht – ausgerechnet ein linker Musikverlag wurde damit zum Vorreiter und Erneuerer in Sachen Bayerische Volksmusik.

„Trikont macht komische Sachen. Das Ganze funktioniert nur wegen der Leidenschaft, die drinsteckt. Es geht nicht nur um den kommerziellen Erfolg. Man ist hier gut aufgehoben und bekommt zu jeder Zeit alles.“
(Eric Pfeil, in: Stimmen über Trikont, curt. Stadtmagazin München #87, Sommer 2017)

„Die Trikont-Story“ funktioniert als Buch auf mehreren Ebenen, zum einen als opulente, Kilo-schwere, robust gebundene Festschrift zum Jubiläum eines großartigen Platten-Labels, wie auch als gut zu lesende Geschichte der APO, linker Sponti-Aktionen, alternativer gesellschaftlicher wie subkultureller Gegenentwürfe und daraus entstandenen Musik-historischen Trends und Bewegungen, die bereichert wird durch zahlreiche Abbildungen, Schlaglicht-artige Statements und Ausführungen der Labelmacher, Musiker und weiterer Zeitzeugen aus dem kulturellen wie historischen Kontext im Stile des maßgeblichen Standardwerks zum US-Punkrock „Please Kill Me: The Uncensored Oral History of Punk“ von Legs McNeil und Gillian McCain.
Aufgrund der ausführlichen Dokumentation jeder einzelnen Trikont-Tonträger-Veröffentlichung inklusive abgebildeter Plattencover und Anekdoten um Musiker, Auftritte, den thematischen, Musik-historischen und/oder gesellschaftspolitischen Kontext, dem Bezug der Label-Chefs zu den Künstlern und dem jeweils individuellen Verhältnis zur Musik, zur Entstehungsgeschichte der Aufnahmen und den Geschichten, wie sie letztendlich bei Trikont gelandet sind, ist das gewichtige Werk selbstredend auch ein umfassender und sorgfältig gestalteter Plattenkatalog geworden, und sollte man dann nach Stunden der Muße und des Quer-Checkens mit der Wunsch-Liste zur Schließung der Lücken im eigenen Plattenschrank fertig sein, kann man den Wälzer nochmal von vorne aufschlagen und die Zitate-Sammlung, die sich wie ein Endlos-Laufband am unteren Ende jeder Buchseite findet, in einem Rutsch von vorne bis hinten durchackern und genießen, Zitate-Daumenkino, quasi.
Als Einblick in zahlreiche Musiker-Biografien taugt es nicht minder, wie auch als weitere Leseanregung, wem etwa die 3 Seiten über das unfassbare Leben des Berliner Swing-Gitarristen Coco Schumann nicht ausreichen, die oder der greift weiterführend zur Autobiografie „Der Ghetto-Swinger. Eine Jazzlegende erzählt“ des musizierenden KZ-Überlebenden – „Theresienstadt, Auschwitz, Dachau – das glaubst du mir sowieso nicht…“

Wie wichtig Engagement, Einmischen, Querdenken gerade auch in diesen Tagen wieder sind, hat kürzlich der tätliche Angriff auf Trikont-Chef Achim Bergmann bei der Frankfurter Buchmesse durch einen Vertreter der sogenannten „Neuen Rechten“ nach einer kurzen, kontroversen Diskussion gezeigt, Ausführlicheres hierzu auf der Label-Homepage.

Der Journalist und Soziologe Christof Meueler wurde 1968 geboren und lebt in Berlin. Er gab in den 80er-Jahren das Noisepop-Fanzine „Rat Race“ heraus und schrieb in den 90er-Jahren unter anderem für das Hardcore-Magazin „Zap“. Seit 2001 ist er Ressortleiter für Feuilleton und Sport bei der linken Tageszeitung „junge Welt“. Meueler ist Autor von Biografien über den ex-Terroristen Bommi Baumann und den Indielabel-Betreiber Alfred Hilsberg.

Franz Dobler, Jahrgang 1959 , lebt in Augsburg. Er ist als Journalist, Schriftsteller und DJ tätig. Die Welt hat ihm neben seinen mit dem deutschen Krimi-Preis ausgezeichneten Büchern „Ein Schlag ins Gesicht“ und „Der Bulle im Zug“ sowie weiterer Prosa und Sammlungen kürzerer Texte die grandiose Johnny-Cash-Biografie „The Beast In Me“ zu verdanken. Bei Trikont hat er die mehrteilige Sampler-Serie „Perlen deutschsprachiger Popmusik“ herausgegeben, die 1995 mit „Wo ist zuhause Mama?“ startete, 2002 kompilierte er für das Label den Johnny-Cash-Tribute-Sampler „A Boy Named Sue“, für die wunderbare Doppel-CD-Dokumentation „Sonntag“ über den legendären Kraudn-Sepp hat er den kundigen Text zum Beiheft verfasst und das bei Trikont verlegte Buch „Bloss a Gschicht“ von Hans Söllner ins Hochdeutsche übersetzt. Der grandiose Franz Dobler halt… (um den Ball mal wieder zurückzuspielen ;-))

Herzlichen Dank an Gabi Beusker von Heyne Hardcore für das Rezensionsexemplar.

Konzertant werden 50 Jahre Trikont zu folgenden Gelegenheiten gefeiert:
Am 15. November im Bi Nuu in Berlin, Kreuzberg, Im U-Bahnhof Schlesisches Tor, ab 19.00 Uhr, mit Konzerten von Bernadette La Hengst, Lydia Daher, Textor & Renz und Kofelgschroa.
Und am 30. November am Münchner Feierwerk-Gelände, Hansastraße 39 – 41, im Farbenladen und im Hansa39, ab 18.00 Uhr, auftreten werden die grandiosen Attwenger, der großartige Eric Pfeil, die wunderbare Mrs. Zwirbl, Coconami, die Express Brass Band und die Zitronen Püppies.

Das Kulturforum hebt das Glas mit Hans-Peter Falkner von Attwenger
auf die nächsten 50 Jahre Trikont.

Prost & Alles Gute!

Lost & Found (5)

muddy_waters_baby_please_dont_go

Muddy Waters – Baby Please Don’t Go – Live At ‚Jazz Jamboree 76‘ (1992, ITM Media)
Vor kurzem die restliche monetäre Weihnachtszuwendung im Münchner Second-Hand-Mono-Laden verblitzt und diese Live-Perle aus dem Regal gefischt. Anfangs noch skeptisch beäugt, das Werk findet weder in der Waters-Biografie von Robert Gordon noch bei Wikipedia Erwähnung, hätte sich im schlimmsten Fall auch um ein Bootleg in schwindliger Ton-Qualität handeln können, für die paar Kröten war das Risiko aber überschaubar, erfreulicherweise hat sich die Scheibe als Volltreffer erwiesen.
Der große alte Mann des Chicago-Blues 1976 konzertant bei einem Jazz-Festival in Warschau mit seiner Band in der Besetzung Jerry Portnoy / Bob Margolin / Luther Johnson / Pinetop Perkins / Calvin Jones / Willie Smith, sozusagen am Vorabend vom Johnny-Winter-Einstieg, der Texas-Albino hat mit Muddy Waters bekanntlich ab Oktober 1976 vier exzellente, finale Alben produziert, auf der Polen-Aufnahme funktioniert die Band auch ohne seine Beteiligung vorzüglich und liefert ein beschwingtes, vor Spielfreude strotzendes Set aus weniger bekannten Blues-Nummern und Muddy-Waters-Live-Standards wie dem Titelstück, „(I’m Your) Hoochie Coochie Man“, „I Got My Mojo Working“ und „Everything Is Gonna Be Alright“.
Wunderbare Ergänzung zu ‚Fathers And Sons‘ (1969, Chess) und mit wesentlich mehr Drive als die ‚Muddy „Mississippi“ Waters – Live‘-Einspielung (1979, Blue Sky) aus den folgenden Jahren.
Empfehle beherztes Zugreifen, falls der Tonträger irgendwo aus der Grabbelkiste rauslunzt…
(*****)

Coco Schumann Quartett – Coco Now! (Live) (1999, Trikont)
Der „Ghetto-Swinger“ auf der Höhe seiner Kunst: Der 1924 in Berlin geborene und durch alle Höhen und Tiefen des Lebens gegangene Gitarrist Coco Schumann zieht auf dieser Live-Einspielung alle Register der Swing-, Blues- und Jazzgitarren-Kunst, zusammen mit seinen Berliner Mitmusikanten Hans Schaetzke, Sven Kalis und Kalle Böhm spielt er sich von der Muse geküsst durch Klassiker wie „Take the ‚A‘ Train“, dem vor allem durch Ray Charles populär gemachten „Georgia On My Mind“, durch das von Jazzern und Bluesern gleichermaßen geschätzte „Autumn Leaves“ oder dem Lester-Young-Standard „Lester Leaps In“, selbst eine irgendwie schon lange nicht mehr wohlgelittene, da nahezu tot-gecoverte Schickse wie das „Girl From Ipanema“ erscheint im neuen Gewand wieder als aufgedonnerte Schönheit in strahlendem Glanz auf dem Laufsteg.
Die Platte enthält zuhauf diese exzellenten, vom Swing beflügelten, glasklaren Gitarrenläufe Schumanns, die dem Grateful-Dead-Fan zwangsläufig die Frage aufdrängen, ob Ober-Dead Jerry Garcia mit dem Werk des Berliner Ausnahme-Gitarristen vertraut war und sich in seinen Endlos-Jams seiner Technik bediente, es gibt da zahllose Passagen im Live-Katalog der kalifornischen Cosmic-American-Music-Institution, da möchte man wetten…
Aufgenommen im Sommer 1999 während des „Festival Jazz Classica“ auf Schloß Elmau, dem am Fuße des oberbayerischen Wettersteingebirges gelegenen „Luxury Spa & Cultural Hideaway“, was hat der Coco eigentlich mit seinem Berliner Kaschemmen-Blues in diesem Upper-Class-Schuppen verloren?
(**** ½)

Eric Dolphy – The Illinois Concert (1999, Blue Note Records)
Mit „Softly, As In A Morning Sunrise“ und dem Billy-Holiday-Klassiker „God Bless The Child“ erklingen zwei Jazz-Standards, plus fünf eigenkomponierte Originale ergeben einen spannenden, ergreifenden und hochenergetischen Mix, mit dem der kalifornische Multi-Instrumentalist Eric Dolphy mit Unterstützung des Rhythmus-Duos Eddie Khan und J.C. Moses und des damals 22-jährigen Pianisten Herbie Hancock eindrucksvoll unter Beweis stellt, dass Free- und Avantgarde-Jazz bei ihm noch hochmelodisch und auch für diese Richtung weniger aufgeschlossene Ohren jederzeit gut hör- und verdaubar klingt, vor allem, wenn Dolphy zu seinen unvergleichlich-einfühlsamen Sound-Meditationen auf der Flöte und der Bass-Klarinette an- und abhebt.
Bereits im März 1963 in Champaign bei einem Konzert an der University of Illinois mitgeschnitten, wurde dieses exzellente Live-Album erst 1999 vom Blue-Note-Label veröffentlicht.
Der großartige Eric Dolphy war unter anderem an der Einspielung von Klassikern des Genres wie Ornette Coleman’s ‚Free Jazz‘ (1961, Atlantic), zahlreichen Charles-Mingus-Alben und den John-Coltrane-Perlen ‚Africa/Brass‘ (1961) und ‚Impressions‘ (1963, beide: Impulse!) beteiligt, seine eigenen Veröffentlichungen waren und sind hochgelobt, ein Reinhören in die Live-Aufnahmen ‚At The Five Spot‘ (1961, New Jazz), in das zweite Studio-Album ‚Out There‘ (1960, New Jazz) oder den kurz nach seinem Tod veröffentlichten Meilenstein ‚Out To Lunch!‘ (1964, Blue Note Records) lohnt immer.
Eric Dolphy ist im Juni 1964 während einer Europa-Tournee viel zu früh im Alter von 36 Jahren in Berlin an den Folgen einer nicht diagnostizierten Diabetes-Erkrankung gestorben.
Frank Zappa, der Dolphy zu seinen maßgeblichen Einflüssen zählte, setzte ihm 1970 auf der LP ‚Weasels Ripped My Flesh‘ (Bizarre) mit der Instrumental-Nummer „Eric Dolphy Memorial Barbecue“ ein musikalisches Denkmal.
(**** ½ – *****)

Reingelesen (22)

8104xr1+1aL

Coco Schumann – Der Ghetto-Swinger. Eine Jazzlegende erzählt (1997, dtv)
Der 1924 in Berlin geborene und aufgewachsene Heinz Jakob „Coco“ Schumann kam bereits als Halbwüchsiger in der Spree-Metropole mit der Swing- und Jazz-Szene der dreißiger Jahre in Berührung, als Autodidakt eignete er sich das Schlagzeug- und Gitarrenspiel an, spielte bis 1943 in diversen Swing- und Jazzbands und war so ein fundierter Kenner des damaligen Berliner Nachtlebens.
1943 wurde Schumann als Halbjude in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert, konnte dort im ‚Vorzeige-Ghetto‘ der Nazis aufgrund seiner Musiker-Vita im Swing-Orchester von Fritz Weiss spielen, er ist in dem zu nationalsozialistischen Propagandazwecken produzierten Dokumentarfilm „Theresienstadt – Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet“ in einer kurzen Sequenz als Schlagzeuger der von Martin Roman geleiteten Band ‚Ghetto Swingers‘ zu sehen.
Im September 1944 wurde Coco Schumann in das Vernichtungslager Auschwitz verlegt, welches er nur überlebte, weil nach eigenen Aussagen sein „Schutzengel wiederholte Male kräftig hinlangte.“

„Der Mensch ist eine merkwürdige Erfindung. Unberechenbar und gnadenlos. Die Bilder, die ich in jenen Tagen sah, waren nicht auszuhalten, und doch hielten wir sie aus. Wir spielten Musik dazu, ums nackte Überleben. Wir machten in der Hölle Musik.“
(Coco Schumann, Der Ghetto-Swinger, La Paloma)

Im Zug der Offensive der Roten Armee im Osten und der daraus resultierenden Auflösung des Lagers Auschwitz wurde Schumann in das bayerische Lager Kaufering, einem Nebenlager des KZ Dachau, transportiert, von dem aus er und die überlebenden Häftlinge völlig entkräftet und krank auf den sogenannten Todesmarsch Richtung Innsbruck geschickt wurden, dessen glückliches und jähes Ende in der Nähe von Wolfratshausen Coco Schumann in seiner unnachahmlich-humorigen Art wie folgt kommentiert: „(…) Als wir am nächsten Morgen abermals das Geräusch nahender Panzer hörten, schickten wir, klüger geworden, einen von uns voraus, der gucken sollte. Er meldete lakonisch: „Stern dran – Amerikaner!“ Das war’s.“

Pointiert berichtet er aus seinem Nachkriegsleben, dem Übersiedeln seiner Familie nach Australien und den dortigen Erfolgen als Swing- und Jazz-Musiker, der spontan getroffenen Entscheidung zur Rückkehr nach Berlin und den folgenden Jahrzehnten, die für Schumann geprägt waren durch den Überlebenskampf als Musiker und die Enttäuschung über die nicht geglückte Entnazifizierung im Nachkriegsdeutschland.

Der Humor ist das eigentlich Erstaunliche an diesem Buch, Coco Schumann, der als Insasse der Konzentrationslager mit den Grausamkeiten des ‚Dritten Reichs‘ konfrontiert wurde und in dieser Autobiografie tieftraurige und erschütternde Begebenheiten aus dem Lageralltag dokumentiert, hat ihn Zeit seines Lebens nie verloren, und das macht diese Buch so wertvoll. Nie gibt Schumann der Verbitterung über ein Schicksal Raum, über das er – wie so viele – erst nach Jahrzehnten sprechen und schreiben konnte, immer bewahrt er sich seinen zutiefst menschlichen und gewitzten Blick auf die Dinge.

„Eine besondere Vorliebe hatte ich für die coole Art von Dave Brubeck, Paul Desmond, Gery Mulligan, Astrud Gilberto, deren Musik ich genoß, deren Weise, Melodien zu empfinden, mir sehr entsprach. Das gleiche gilt übrigens auch für Jimi Hendrix, den ich gewissermaßen für sein Können bewunderte, dessen Spielweise ich aber nicht nachzuempfinden versuchte, weil ich nicht in meine kostbaren Gitarren beißen wollte.“
(Coco Schumann, Der Ghetto-Swinger, Razzle dazzle)

Coco Schumann kannte sie alle, unseren hochverehrten Altkanzler Willy Brandt, dessen Wahlkampf er musikalisch unterstützte, ebenso wie die Jazz-Größen Ella Fitzgerald und Louis Armstrong, die bekannten deutschen Musiker Botho Lucas und Bert Kaempfert, und nicht zuletzt seinen jahrzehntelangen guten Freund, den Swing-Geiger Helmut Zacharias, er hat sie alle überlebt und so kann er uns noch heute seine Interpretation des Welthits ‚La Paloma‘ spielen und erzählen von einer Zeit, die uns Nachgeborenen, durch den Schleier der Zeit, zusehends unwirklicher vorkommt, dem Frieden und dem Lernen aus der Geschichte nicht trauend und immer mit einem gepackten Koffer im Schrank für den Fall, dass es noch einmal hart auf hart kommen sollte…

„Im Lauf der Zeit kam etwas anders hinzu: die Erkenntnis, daß dieses Land keinen Moment lang ernsthaft bestrebt war, Gerechtigkeit walten zu lassen und die eigene Geschichte zu verarbeiten; der Eindruck, daß es den Schuldigen, den Mitschuldigen und den „unschuldigen“ Tätern ein leichtes gewesen war, sich wieder ins reine, ins rechte Licht, in Amt und Würden zu setzen und abermals das Leben der „Überlebenden“ zu bestimmen. Mein Freund, der Autor Henryk M. Broder, sagte vor ein paar Jahren einen treffenden Satz, den ich nicht vergessen kann: ‚Coco, die werden uns nie verzeihen, was sie uns angetan haben!'“
(Coco Schumann, Der Ghetto-Swinger, Autumn leaves)

Die Biografie ist eine ganz dicke Lese-Empfehlung für jeden, der auch nur einen Funken Interesse an der deutschen NS-, Nachkriegs- und Musik-Historie hat. Lange nicht mehr habe ich gleichzeitig so viel gelacht und getrauert wie bei der Geschichte vom Ghetto-Swinger.
(******)

Vinyl und CDs von Coco Schumann gibt es beim renommierten Münchner Indie-Label Trikont.