Crossover

Sons Of Kemet, Ben Lamar Gay, Sorry, Maxine Funke @ Alien Disko #4, Kammerspiele, München, 2019-12-14

Der musikalische Kosmos der Brüder Markus und Micha Acher ist im Rahmen ihres eigenen Musizierens bereits ein gigantisch ausgedehnter, mithin kaum mehr zu fassender. Federführendes Involviert-sein bei Formationen wie The Notwist, Ms. John Soda, der Hochzeitskapelle oder Lali Puna – um nur eine Auswahl der Aktivitäten und Interessen zu nennen – steht bei den beiden Weilheimer Musikern bereits für eine fundierte Stil-Vielfalt von innovativem Indie-Rock über feine Experimental-Pop-Preziosen bis hin zu Jazz-infizierten Crossover-Herrlichkeiten. Kaum vorstellbar, tatsächlich aber noch weitaus umfänglicher und detaillierter in der Umarmung der musikalischen Welten präsentieren die Achers als Kuratoren des Münchner Alien-Disko-Festivals mit zahlreichen örtlichen wie internationalen Gast-MusikerInnen und -Bands ihre Vision von globaler Sound-Avantgarde fernab der ausgetretenen Pfade.
Wie die Jahre zuvor ging die bereits 4. Ausgabe der Veranstaltung am Freitag und Samstag des vergangenen Wochenendes über die diversen Bühnenbretter der Münchner Kammerspiele, das Festival ist mittlerweile neben den beiden Tagen im Jugendstil-Theater an der hochpreisigen Münchner Maximilianstraße mit einem Brass-Band-Umzug durch die Straßen der Stadt, Vorab-Veranstaltungen wie dem etwas bemüht auf bayerisch getrimmten „Erdäpfelkaassaloon“ im Import/Export, der Gutfeeling-Diskothek unter improvisiertem Mitwirken hiesiger Landlergschwister- und Hochzeitskapellen bis tief in die Sonntagnacht und diversen Auftritten im Nachgang zur Hauptveranstaltung fast zu einer Münchner Musik/Kultur-Woche der eigenen Art gediehen.

Jeder Abend und jeder Gig wäre für sich gesehen gewiss einen Besuch wert gewesen, allein der Faktor Zeit blieb bisweilen einmal mehr ein rarer, dazu die erzwungene Beschränkung auf eine individuelle Auswahl anvisierter Konzerte aufgrund parallel zeitgleich bespielter Bühnen, entschuldigende Gründe gibt es einige, warum dieser Bericht nur einen kleinen Ausschnitt an Schlaglichtern vom Festival dokumentieren kann. Spätestens am Samstag wurde die Theater-Präsentation mit dem Auftritt der Sons Of Kemet zur unbedingten Pflichtveranstaltung, neben der Londoner Jazz-Sensation hätte es soviel mehr an musikalischen Horizont-Erweiterungen zu entdecken gegeben, Spontan-Auftritte an beiden Tagen von The Notwist, die japanische Blaskapelle Zayaendo, die englischen Colour-Punks von Big Joanie, das wegen Überfüllung des Saals nicht mehr zu begutachtende New Yorker Crossover-Duo 75 Dollar Bill und und und, Full Line-Up zwecks Anregung zur weiterführenden musikalischen Erkundung siehe Homepage der Kammerspiele.

Bevor es am Samstag zu den ausgedehnten Sessions ging, lagen kurze Abstecher zu Kiwi-Folk und britischem Indie-Rock am Wegrand. Die neuseeländische Songwriterin Maxine Funke spielte mit dem Eröffnungs-Gig in der Kammer 3 ihr allererstes Deutschland-Konzert, die meditativen, filigranen Folksongs und insbesondere die glasklare, reine Singstimme der jungen Musikerin wussten für eine kurze Weile durchaus zu begeistern, über die volle Distanz förderte das Klangbild jedoch zuforderst die gepflegte Langeweile, kaum dramatische Höhepunkte in den Songs, partout Verweigerung jeglicher Tempiwechsel, weder in den jeweiligen Nummern für sich betrachtet noch in den darum kaum voneinander zu unterscheidenden Stücken, dazu wenig Varianz in den entschleunigten Moll-Akkorden auf der Wandergitarre: der Akustik-Minimalismus der unaufgeregten Neuseeländerin bewegte sich im introvertierten Gewerk zu sehr an der Grenze zum Stillstand, um bis zum Ende der Aufführung zu fesseln, da konnte auch der begleitende Musiker mit seinem Bogen-Streichen der Gitarren-Saiten und den dezenten Electronica-Drones nicht mehr zum Bleiben bewegen.
Bedingt durch den Ortswechsel zur Hauptbühne des Schauspielhauses bot sich die Gelegenheit, den letzten Nummern des Gigs der Londoner Indie-Band Sorry zu lauschen, die damit einen exzellenten ersten Eindruck mit ihren griffigen Postpunk-Nummern hinterließen, in denen sich eine tanzbare Rhythmik, nervöse Noiserock-Unruhe, melodisches Electronica-Lichtern und eine unterkühlte Frauen-Stimme zu einem explosiven Konglomerat verflochten.

Der Auftritt des Chicagoer Experimental-Musikers Ben Lamar Gay glich einer tonalen Wundertüte, was der afroamerikanische Multiinstrumentalist im Verbund mit seinen drei begleitenden Band-Mitgliedern im steten Flow und Wandel über eine gute Stunde auf der Bühne des altehrwürdigen Theaters zelebrierte, war mit allen Sinnen kaum zu fassen und bedürfte mittels konserviertem Mitschnitts einer eingehenden Auseinandersetzung im Nachgang: Komplexität im ausschließlich positiven Sinn. Eröffnend mit archaischen, fernöstlich anmutenden Beschwörungs-Ritualen aus Glockenläuten und dadaistischen Lautmalereien, entwickelte das Quartett einen raumgreifenden Sog aus konventionellen, mitunter vertrauten Jazz-Phrasierungen inklusive der scheints unvermeidlichen Soli-Exzesse, hin zu einer hypnotischen Afrobeat-Spielart, bereichert um eine Vielzahl an Einflüssen und Überlagerungen aus südamerikanischen Fusion-Grooves, psychedelisch-abstrakten Trance-Drones, drängenden R&B- und Blues-Zitaten und herzergreifendem Soul-Schmachten. Ben Lamar Gay war bereits bei der letztjährigen Alien-Disko-Zusammenkunft mit an Bord, mit dem 2019er-Auftritt hat er seine Bewerbung für weitere Teilnahmen nachdrücklich in den Ring geschmissen. Ein tonaler „Black Music“- Schmelztiegel und damit ein hochkonzentriertes, intensives Energie-Feld an ineinander greifenden Improvisations-Wellen, und vermutlich eines der herausragenden Konzerte des Abends, nicht nur für das Jazz- und Experiment-affine Publikum.

Die Jazz-Skeptiker sollten auch beim gefühlten Headliner-Gig des Samstags eines Besseren belehrt werden. Das Londoner Quartett Sons Of Kemet um den Saxophonisten Shabaka Hutchings steht spätestens seit der Veröffentlichung des herausragenden 2018er-Albums „Your Queen Is A Reptile“ beim renommierten Impulse!-Label – „the House that Trane built!“ – nicht nur bei hirnwichsenden Jazz-Snobs und elitären Improvisations-Sektierern hoch im Kurs, das ist der Stoff, zu dem auch dem Fachfremdelnden das Herz in Sachen Instrumental-Getröte aufgeht. Den permanent nach vorne treibenden, sich in der Intensität unaufhaltsam steigernden Afro-Groove, die karibischen Einflüsse, die Anlehnungen an Dancehall-Spielarten wie Grime, Ragga und Jungle, an die fulminante Wucht amerikanischer Brass- und Funeral-Bands, an den Geist von Ska und Reggae in einer vehement den Bewegungsdrang fördernden Rhythmik, die unwiderstehlich einnehmende Voodoo-Magie wie die wütende politische Message im Geiste von „Our Queens are just like us, and we are human. We need new royalty. Your Queen Is A Reptile“ des grandiosen Tonträgers wussten die vier Musiker konzertant kongenial umzusetzen. Beim abtanzenden Publikum gab es von Beginn an kein Halten zum exzellent herausragenden Saxophon-Spiel Hutchings‘ mit seinem Gratwandern zwischen geerdeten Melodien und strammem Rhythmus-Geben fernab jeglicher Improvisations-Angeberei, die auch dem stringent durchgetakteten, massiv antreibenden Spiel der beiden Drummer Tom Skinner und Eddie Hick völlig fremd war, fulminant begleitet vom wunderbar virtuosen Bass-Spiel des jungen Tubisten Theon Cross. Tanzbarer, einnehmender, anregender und aktueller kann Jazz – oder was immer man unter diesen einzigartigen Meisterwerken der Sons Of Kemet verstehen mag – kaum sein. Und intensiver, bunter leuchtend kann ein Konzertjahr kaum zu Ende gehen.
My Queen sind vier Könige aus London, zu fortgeschrittener Stunde in der Alien Disko #4, mindestens am vergangenen Samstag-Abend, und wohl noch eine ganze Weile darüber hinaus. Minutenlanger, frenetischer Applaus war kein übertriebener Enthusiasmus seitens des Auditoriums, vielmehr folgerichtige, hochverdiente Ehrfurchts- und Respekt-Bezeugung für diesen überbordenden Brass-Tanzboden, der im Vierer-Verbund mit der kraftvollen Wucht einer perfekt eingespielten Big Band daherkam.

Erfreuliches Blogger-Wiedersehen gab’s auch noch bei der Gelegenheit, beste Grüße an dieser Stelle an den Zürcher Alien-Disko-Veteran Romano vom Call-Me-Appetite-Blog, always a pleasure.

A-Sun Amissa + BaShBozouki´s @ Glockenbachwerkstatt, München, 2019-10-03

Mit dem Etikett „Psychedelische Kunst der Einheit“ als thematischer Aufhänger war das präsentierte Doppel-Konzert in der Münchner Glockenbachwerkstatt am vergangenen Feiertag des 3. Oktober überschrieben. Während das Gros der hiesigen Nachtschwärmer den nationalen Gedenktag auf dem Oktoberfest begoss – oder vielleicht auch mit reichlich Alkoholika verdrängte – fand sich eine überschaubare Schar an Unbeirrbaren im Saal der „Glocke“ zur experimentellen Beschallung ein. Den Abend eröffnete Konzert-Veranstalter Asmir Šabić aka Chaspa Chaspo himself mit seinem Ein-Mann-Projekt BaShBozouki´s. Der Musiker, den man neben seiner jahrelangen Organisations-Arbeit für zahlreiche exzellente, handverlesene Konzerte im Rahmen des Maj Musical Monday, des Noise Mobility Festivals oder in Einzel-Veranstaltungen in Sachen Postrock-, Electronica- und Jazzrock-Crossover im Stadtteiltreff auch als Kollaborateur von Bands wie Majmoon oder D’Aqui Dub kennt und schätzt, bot für gut 40 Minuten in freier Improvisation einen gelungenen Grenzgang zwischen Tradition und Moderne. Šabić ließ den Flow des elektrisch verstärkten Bouzouki-Sounds und seine sporadischen, klagenden, zu Chören gesampelten Gesänge in Anlehnung an Generationen-übergreifende Balkan-Folklore und uralte Südost-europäische Volksweisen auf den geloopten Beat der Synthie-Maschinen, auf pochende Trance-Drones und abstrakte Industrial- und Techno-Elemente treffen. Der Künstler selbst merkt zu seinem Ansatz der konzeptionellen Verbindung aus Vergangenheit und Zukunft, aus jahrhundertealten Volksmusik-Traditionen und futuristischer Electronica-Anreicherung an: „Es ist eine Live-Performance, die Geschichten von bewaldeten Bergketten und wilden Flüssen erzählt. Ein musikalisches Crossover von Melodien, Beats, Gedanken, einer Ästhetik, die von Arbeit, der Fremde, der Heimat und von dem Dazwischen berichtet. Es ist die Musik, die uns hält, die uns die Vielfalt der Welt zeigt; geschrieben, um uns zu fangen, um unsere Seelen zu retten“. Ob die ein oder andere Seele an diesem Abend ihre Rettung erfuhr, bleibt bis auf weiteres ungeklärt, Schaden dürfte an dieser in den Bann ziehenden, höchst erbaulichen Klang-Kollage sicher niemand genommen haben. Über eine geglückte oder misslungene deutsche Einheit streiten bis heute Historiker und Politiker in diesem Land, die gelungene Verschmelzung von Alt und Neu in Sachen experimentelle Balkan-Folk-Electronica ließ am vergangenen Donnerstag-Abend hingegen keine zwei Meinungen zu. In dieser oder ähnlicher Form darf Asmir Šabić in Zukunft gerne jede seiner anberaumten Veranstaltungen eröffnen.

Hinsichtlich hypnotischer Wirkung des Sounds wusste der Hauptact der Veranstaltung für die folgenden fünfzig Minuten die Dosierung nochmals um ein Vielfaches zu steigern. Der englische Multimedia-Künstler Richard Knox ist derzeit auf Konzertreise zur Promotion des neuen Albums „For Burdened And Bright Light“ in unseren Breitengraden unterwegs, der Longplayer seines Kollektivs A-Sun Amissa erschien im vergangenen Monat als Co-Produktion des belgischen Labels Consouling Sounds und Knox‘ eigener Indie-Firma Gizeh Records. Der in zahlreichen weiteren Formationen engagierte Multiinstrumentalist arbeitete in der Vergangenheit bereits mit so profilierten Postrock- und Experimental-Musikern wie der bezaubernden Jo Quail oder Oiseaux-Tempete-Mastermind Frédéric D. Oberland zusammen, auf der aktuellen Tournee wird er von seiner Partnerin Claire Knox begleitet. Das Duo entwarf zu den bewegten Schwarz-Weiß-Bildern vom archaischen, immerwährenden Wogen der Meeres-Gezeiten, von Impressionen aus dem Regenwald-Unterholz und von urzeitlichen Höhlen-Lagerfeuern ein dunkel fließendes, Text-freies Klang-Mäandern, das der Eindringlichkeit der wunderschönen Filmbilder einen bedrohlichen, ins Geheimnisvolle driftenden, bedeutungsschwangeren Unterton verlieh und seine Sog-artige Wirkung zur meditativen Kontemplation entfaltete. Knox selbst entlockte den Maschinen-Gerätschaften finstere, experimentelle Doom-, Kraut- und Electronica-Drones, wob handgemachte Klangfarben mit seinen klar angeschlagenen Gitarrenriffs ein und verfeinerte den Sound mit Samplings von analogen Tapes, die er im Verlauf der schwärenden, raumgreifenden und in den Bann ziehenden Symphonie mehrfach von Hand im Kassetten-Deck austauschte. Das tiefe Brummen der atmosphärischen Düsternis verstärkte Claire Knox mit Bogen-bestrichenen E-Bass-Saiten und gespenstischen, durch den Verzerrer abstrahierten, vokalen Lautmalereien. Die Dimension dieser improvisierten Komposition dehnte sie bisweilen mit Hilfe melancholischer Klarinetten-Phrasierungen in Richtung Free- und Dark-Jazz, in dem Kontext fast ein versöhnliches Element zur Minderung der tonalen Schwermut, wie die gegen Ende des Konzerts eingewobenen, pointierten, wenigen Dur-Töne in den Gitarren-Melodien.
Mit dieser intensiven Klang-Erfahrung zwischen abgründiger Schwere und entrückter Schönheit zeigten Richard und Claire Knox im minimalisitischen Duett, dass der Postrock von A-Sun Amissa keine stilistischen Grenzen kennt: wo die herkömmlichen Bands des Genres kaum den Blick über die Soundwände der E-Gitarren-Crescendi wagen oder – im schlimmsten Fall – irgendwann daran zerschellen mögen, sind diese Kreativitäts-einengenden Barrieren für die Klangreisen des Kollektivs aus Manchester keine Limitierung und kaum mehr als eine Spielart unter vielen.

A-Sun Amissa sind in den kommenden Tagen noch zu folgenden Gelegenheiten live zu sehen, highly recommended:

08.10.Dresden – Zentralwerk
09.10.Hamburg – FSK-HH
10.10.Rotterdam – WORM
11.10.Gent – Herberg Macharius
12.10.Diepenheim – HANS Festival
05.12.Sheffield – Record Junkee – w/ Hundred Year Old Man & E-L-R

Marc Ribot @ Unterfahrt, München, 2019-09-09

Näher am Puls der Zeit hätte der renommierte Gitarrist, Songwriter und Session-Musiker Marc Ribot mit der Veröffentlichung seiner letztjährigen Sammlung an Protestliedern und Widerstands-Hymnen kaum in Erscheinung treten können, das Album „Songs Of Resistance: 1942 – 2018“ korrespondiert wie wenig andere mit dem aktuellen Zeitgeschehen, in dem die Gelbwesten-Bewegung in Frankreich, Massen-Proteste in Hong Kong, die radikalen Umwelt-Aktivisten von Extinction Rebellion oder der Greta-Hype die Schlagzeilen der täglichen Nachrichten und die Auseinandersetzung mit den politisch brisanten Themen beherrschen. Wo das Album in einer gefälligen Schnittmenge aus gepflegten Jazz-Noten, erhabenen Alternative-Country-Balladen, nachdenklichen Chansons und modernem, sauber produziertem Soul- und Blues-Groove glänzt, zeigte Ribot am vergangenen Montagabend im Rahmen der laufenden Europa-Tournee in der Münchner Unterfahrt mit Unterstützung seiner vier Mitmusiker in der Live-Präsentation einen weitaus radikaleren und kantigeren Interpretationsansatz des Song-Materials.
Der Gitarrist aus New Jersey, dem in seinen Solo-Alben und aus seiner Jahrzehnte-langen Zusammenarbeit mit herausragenden Künstlern aus der Avantgarde-, Rock- und Jazz-Szene wie John Zorn, Tom Waits, Laurie Anderson, Elvis Costello und zahllosen anderen Solisten und Bands nichts fremd ist an experimentellen Finten, transportierte den Großteil der Soundtracks aus der US-amerikanischen Civil-Rights-Bewegung, dem anti-faschistischen Widerstand gegen Nazi-Deutschland, aus der mexikanischen Opposition oder die aktuellen Aufschreie zum sterbenden Öko-System, gegen den Trump-Clown in Richtung improvisiertes, vehementes Jazz-Crossover, im vielstimmigen Lärmen des Free Jazz, in der lateinamerikanischen, Rhythmus-dominierten Lesart des Genres, in No-Wave-Blues- und Heavy-Soul-Verzweigungen bis hin zu ausufernden Noise-Exzessen. Nummern wie „We’ll Never Turn Back“ aus den bewegten Zeiten der afro-amerikanischen Bürgerrechts-Märsche oder ein Stück aus der Feder der Carter Family transformierten der Ausnahme-Musiker und seine Band zu sperrigen, schrägen Balladen, deren unkonventioneller Charakter vor allem durch die schrammelnden, scheppernden, trocken klirrenden Gitarren-Riffs in der unverkennbaren Handschrift des Meisters und durch seinen Anti-Gesang geprägt wurde, der sich in intensiveren Passagen zum Propaganda-Stakkato im Stile der Beat-Poeten oder in Anlehnung zum Proto-Rap eines Gil Scott-Heron auswuchs. Auf dem Album liefern prominente Sänger wie Steve Earle, Tom Waits oder Meshell Ndegeocello den Vokal-Part, sie alle fehlen selbstverständlich im Tour-Betrieb, dafür darf sich Ribot der Unterstützung der beiden Perkussionisten Reinaldo de Jesus und Ches Smith, des Bassers Brad Jones und des Bläsers Jay Rodriguez gewiss sein, allesamt versierte und virtuose Jazz- und Fusion-Könner, die den freien Flow in der spontanen Improvisation wie das formal strenge Maß im Zusammenspiel als Session-Band mit Herzblut begleiteten und in den Höhenflügen ihres lautmalenden Zusammenwirkens das halb-akustische, abgehackt experimentelle Gitarrenspiel des Bandleaders nicht selten in den Hintergrund drängten.
„If I Can’t Dance To It, It’s Not My Revolution“ mahnte die jüdische Anarchistin Emma Goldman einst an, hätte das Konzert nicht im gediegenen, mit Kaffee-Tischen bestückten Lokal des Münchner Jazz-Clubs in den Kellergewölben des Einstein Kultur stattgefunden, sondern vor einem unbestuhlten Auditorium, wäre das Abhotten zum schwer nach vorne gehenden, den rebellierenden Geist anspornenden Sound des Quintetts ein Selbstläufer gewesen. So bleibt zu hoffen, das der ein oder anderen, in diesen Tagen ohne Zweifel notwendigen und damit legitimen Protestbewegung jene radikale Kraft und Ausdauer innewohnt, die Marc Ribot und seine Mit-Kombattanten an diesem Abend in zwei längeren Sets mit faszinierender Crossover-Vielfalt und ungebremster Spielfreude transportierten und das gebündelte Zusammenwirken damit zu einem anregenden und rundum erfolgreichen Angriff auf die eingefahrenen Hörgewohnheiten gedeihen ließen.

Reingehört (550): Erlend Apneseth Trio with Frode Haltli

Erlend Apneseth Trio with Frode Haltli – Salika, Molika (2019, Hubro)

Streng genommen kann man die Produkte der norwegischen Plattenfirma Hubro alle unbesehen einkaufen, ähnlich große Qualitätsdichte und einen anhaltend hohen Spannungsfaktor in den Publikationen findet man tatsächlich nur bei wenigen Marktteilnehmern des Tonträger-veröffentlichenden Gewerbes. Das skandinavische Label mit der namensgebenden Eule im Logo und der sicheren Hand für unkonventionelle Hörerlebnisse aus den Segmenten des Barriere-freien Experimental-Jazz, des grenzüberschreitenden Folk und der hohen Improvisations-Kunst genügt seit Jahren den anspruchsvollsten Erwartungen der interessierten Hörerschaft. Das neue Album „Salika, Molika“ des Erlend Apneseth Trio tanzt da nicht aus der Reihe und verspricht reiche Belohnung für offene Ohren.
Dem jungen Geiger Apneseth eilt in seiner norwegischen Heimat der Ruf als Meister der Hardanger Fiddle voraus, das Instrument ist der klassischen Violine nicht unähnlich, hat aber acht oder wahlweise neun statt vier Saiten zum Bespielen aufgespannt. Begleitet von seinen Trio-Mitmusikern Stephan Meidell an Gitarre, Zither und diverser Electronica-Gerätschaft und Øyvind Hegg-Lunde an den Trommeln kollaboriert Erlend Apneseth auf dem aktuellen Werk mit dem Akkordeon-Spieler Frode Haltli, einem renommierten Grenzgänger zwischen zeitgenössischer Klassik, Folk und Jazz im weitesten Sinne. Die beiden Instrumental-Virtuosen harmonieren als versierte Gestalter tonaler Kollagen in Kammermusik-ähnlichen Arrangements, die das Alte, Traditionelle der norwegischen Volksmusik einbinden und transformieren auf ihrer Suche nach neuen musikalischen Ausdrucksformen. Das Neue tönt hier als improvisierter, Trance-artiger Minimal-Folk, der ein frei treibendes, entspanntes Worldbeat-Crossover als tragfähigen konzeptionellen Unterbau verwendet und digitale Zutaten wie Samplings, überlagernde Drones, Triphop-Beats und analoge Elemente aus osteuropäischen und bretonischen Volksweisen, der zeitgenössischen Klassik und reduzierten Minimal Music einfließen lässt. Das Handgemachte dominiert den Mix aus organischem, geerdetem Sound und synthetisch angereicherter Durchdringung, zu keiner Zeit überfrachtet und völlig geschmeidig wogt das Schiff im Ozean der Klänge zwischen nüchterner Melancholie und schelmischer Experimental-Freude. In drei Nummern finden sich Vokal-Samplings lokaler norwegischer Volksmusiker, die den Songs mit diesen gesungenen oder gesprochenen Archiv-Aufnahmen neben der charakteristischen instrumentalen Dichte des gesamten Tonträgers ein luftiges, dadaistisches Element angedeihen lassen.
Auf dem seit Mai erhältlichen Album „Salika, Molika“ gestalten zwei ausgewiesene Könner ihrer instrumentalen Profession in segensreiche Symbiose eine fundierte Vision von gelungenem, völlig Kitsch- und Pathos-freiem Folk-Experiment, mit dem Gütesiegel des Uhus versehen.
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