Deutsch-Rock

Reingelesen (70): Christof Meueler mit Franz Dobler – Die Trikont-Story: Musik, Krawall & andere schöne Künste

„Im Übrigen meinen wir, dass nicht die Musik in der Krise ist, sondern ihre industrielle Verwertung und das ständige Schielen nach dem statistischen Durchschnitt. Deshalb nehmen wir uns die Freiheit nach allen Seiten zu schauen und immer noch und immer wieder die Musik ins Zentrum unserer Arbeit zu stellen.
Und vor allem: Wir machen weiter.“
(Eva Mair-Holmes und Achim Bergmann, Trikont-Katalog 2015)

Christof Meueler mit Franz Dobler – Die Trikont-Story: Musik, Krawall & andere schöne Künste (2017, Heyne Hardcore)

Im bisher noch nicht völlig zu Tode gentrifizierten Münchner Arbeiterviertel Obergiesing, an der Tegernseer Landstraße, findet sich die alternative Kneipe „Café Schau ma moi“, einen Steinwurf entfernt von der ersten deutschen McDonalds-Filiale, von der Kultur-/Öko-Freifläche Grünspitz und dem Städtischen Stadion an der Grünwalder Straße, der Heimat der Münchner „Löwen“, vor und in der schmalen Bar tummelt sich an Regionalliga-Spieltagen die links-alternative Fanszene der „Sechziger“, etlichen aus dem treuen Haufen dürfte durchaus geläufig sein, dass sich im Hinterhof zur Kneipe seit 1977 die Heimat des ältesten deutschen – vielleicht sogar weltweit ältesten – Independent-Labels findet, und für die, die es nicht wissen, gibt der große Trikont-Schaukasten am winzigen Biergarten der Wirtschaft und Portraits von Querdenkern wie Oskar Maria Graf, Karl Valentin oder Erich Mühsam an der Wand der Café-Bar unübersehbare Hinweise auf die unmittelbare Nachbarschaft in der Kistlerstraße.

Die unvergleichlich feine Münchner Plattenfirma Trikont feiert in diesem Jahr 50-jähriges Gründungsjubiläum, und das ist mindestens genauso viel Grund zum Jubeln wie die Rückkehr der „Löwen“-Kicker an die innig geliebte Spielstätte in der Nachbarschaft, gebührend gewürdigt wird der runde Geburtstag nebst einiger „Trikont wird 50!“-Konzerte mit einem opulenten Prachtband zur Label-Historie der beiden Autoren Christof Meueler und Franz Dobler, dieser Tage im Heyne-Verlag im Hardcore-Programm erschienen.

„Wir schrappen immer wieder an so einem Grat entlang und wissen nicht, wie lang wir uns da noch halten. Aber wenn du Spaß dran hast, willst Du nicht aufhören! Uns trägt immer noch das Gefühl: Wir können euch Musik zeigen, die ihr sonst nicht findet.“
(Eva Mair-Holmes, in: Trikont, Interview mit Petra Kirzenberger, curt. Stadtmagazin München #87, Sommer 2017)

„Die Trikont-Story“ dokumentiert chronologisch die wechselvolle Geschichte der heute weit über Münchens Stadtgrenzen hinaus bekannten Indie-Institution, die ihren Anfang nahm in den Studenten-bewegten, Autoritäten anzweifelnden, rebellischen Sechzigern, in denen die heutige Platten-Firma als linker Sponti-Buchverlag mit Publikationen wie der Mao-Bibel, Schriften vom nordvietnamesischen Onkel Hồ, dem „Bolivianischen Tagebuch“ des im Jahr der Trikont-Gründung ermordeten lateinamerikanischen Guerillaführers Ernesto ‚Che‘ Guevara und der von der Staatsanwaltschaft verbotenen Autobiographie „Wie alles anfing“ des ausgestiegenen ex-Terroristen Bommi Baumann auf sich aufmerksam machte. Die Musik kam erst später ins Programm, anfangs trat der Trikont-Verlag nur als Vertrieb für den Deutsch-Rock von Ton Steine Scherben in Erscheinung, in späteren Jahren dann mit eigen-eingesungenen Arbeiterliedern der Label-Betreiber zur Unterstützung von Streiks in den Münchner BMW-Werken, als Label für Folk-Musik und Protest-Songs aus dem Bereich der indigenen Völker, des linken europäischen Untergrunds und Widerstands gegen die Diktaturen in Spanien, Griechenland oder Chile, und nicht zuletzt als Soundtrack-Lieferanten der in den Siebzigern aufkommenden Anti-Atomkraft-Bewegung.

Mit den Jahren wechselte die Verlags- und Plattenfirma-Führung, wo zu Beginn der Schriftsteller Herbert Röttgen und die heutige Grünen-Politikerin Gisela Erler mit Achim Bergmann die Geschicke bei Trikont lenkten und sich später der daraus hervorgegangene Dianus-Trikont-Verlag unter der Ägide von Röttgen vermehrt mit esoterischer Literatur beschäftigte und daran auch pleite ging, haben Bergmann und Eva Mair-Holmes mit dem 1980 abgespaltenen Trikont-Plattenlabel „Unsere Stimme / Our Own Voice“ bis heute fast fünfhundert Tonträger auf den Markt gebracht. Darunter finden sich mutige Musik-verlegerische Glanztaten wie eine neun-teilige Samplerreihe zur Cajun- und Zydeco-Musik Louisianas, die vom Münchner Künstler und Journalisten Jonathan Fischer herausgegebenen, größtenteils politischen Schwerpunkt-Sampler zum Thema Soul, das gesammelte gesprochene Wort vom bayerischen Urgestein des absurden Theaters Karl Valentin, exzellente Dokumentationen von FSK-Musiker, Autor und Radio-DJ Thomas Meinecke über die von texanischen Polka-Bands jenseits des Atlantiks fortgeführte bayerisch-böhmische Musiktradition, die Begleitmusik zur eigenen Beerdigung aus den „Dead & Gone“-CDs, zusammengestellt vom hochverehrten Wiener (was Wunder bei dem Thema?) Ö3-Musicbox-Moderator Fritz Ostermayer, die beiden grandiosen DVDs „Hard Soil“ und „The Folk Singer“ von Slowboat-Filmemacher und Sargasso-Herausgeber M. A. Littler und der hierzu ergänzende, nicht minder gelungene CD-Sampler „Strange & Dangerous Times“ von Sebastian Weidenbach zum Thema Muddy Roots/US-Folk-/Blues-Underground wie auch tonale Feldforschungen über vietnamesische Straßenmusik, äthiopischen Funk, die Wurzeln und Ausblicke in der jüdischen Klezmer-Musik oder den Rembetiko-Underground der griechischen Hafen-Spelunken – um nur einige ausgewählte Glanzlichter des Trikont-Backkatalogs zu nennen, die in ihrer Vielfalt ein weites, globales wie heterogenes musikalisches Feld abdecken, sich aber durch die Bank durch hohe Qualität und bei den Themen-Sammlungen durch erschöpfend-umfängliche Zusammenstellungen und in den beigelegten, mit Liebe und Herzblut verfassten Booklets durch kenntnisreiches Detail-Wissen und Einordnen in einen größeren gesellschaftlichen Kontext auszeichnen. Und nicht selten werden durch die jeweiligen Sampler Querverbindungen zu anderen Musikgattungen offen gelegt und Einflüsse thematisiert, die sich auf den ersten Blick bzw. das erste Hören so nicht offenbaren wollen. Die im Bezug auf die ausgeprägte Trikont-Compilation-Kultur seit jeher angestimmten Lobpreisungen etwa von BBC-Kult-DJ John Peel oder aus der versammelten in- wie ausländischen Presselandschaft kommen nicht von ungefähr.

Daneben hatte das Label stets Auflagen-starke Einzelkünstler und Bands unter Vertrag, früher die in jeder Schul-Aula progressiver Gymnasien präsenten Deutsch-Anarcho-Rocker Schroeder Roadshow, später den Bayernrock-musizierenden Oberarzt Georg Ringsgwandl und die Pioniere der neuen Volksmusik-Bewegung, La Brass Banda und Kofelgschroa, über die Qualitäten der beiden letztgenannten Formationen darf man durchaus geteilter Meinung sein, wie auch über die brachial-derben und oft ausfälligen Ansagen und Songs von CSU-Intimfeind Hans Söllner, über den man viel sagen kann, aber nicht, dass er sich je von Trends, politischen Opportunitäten oder gar richterlichen Beschlüssen hätte verbiegen lassen, und damit hat er viel gemein mit den Trikont-Machern und somit auch jederzeit seine Existenzberechtigung beim Münchener Vorzeige-Label. Über jeden Zweifel erhaben hingegen  der großartige Alpenbeat-/Punkfolk-/Hiphop-Crossover des bis heute unvergleichlichen oberösterreichischen Duos Attwenger und das Deutschpop-Philosophen-Songwriting von Eric Pfeil, der in seinen unnachahmlich geistreichen Ausführungen im Buch unter anderem auch zum letztjährigen Literaturnobelpreisträger-Witz zu Wort kommt und damit den Leitfaden zum unverkrampften Umgang mit vermeintlichen Mega-Stars gibt: „Bob Dylan ist wirklich der seltsamste Popstar, den es gibt. Er hat auf seinen Platten jahrelang nur mit Tom-Waits-Stimme gegrunzt, und auf einmal fängt er wieder an zu singen – ausgerechnet bei Frank-Sinatra-Songs. Ich glaube, bei Dylan ist man immer gut beraten, wenn man ihn als Komiker begreift. Das hilft extrem. Wenn man ihn so sieht, dann kann man sehr viel Spaß haben, und dann nimmt man ihn nicht so ernst.“

Den Punk mag das Label weitestgehend verschlafen haben, kurzfristige Moden waren sowieso nie das Ding von Trikont, dafür sind über die Jahre bis heute anhaltende Beziehungen zu den Künstlern gewachsen wie riesige Themensammlungen aufgebaut worden, ob das eine mehrteilige CD-Dokumentation mit 83 Variationen über die Ursonate des Pop „La Paloma“ ist oder ein inzwischen riesiger, grenzen-erweiternder Fundus zur bayerischen Musik, der von alten Schellack-Aufnahmen Münchner Volkssänger_Innen, Best-Of-Doppel-CD-Sammlungen von Ausnahmekünstler_Innen wie der einzigartigen Bally Prell und dem Bayern-Krautrock von Sparifankal bis hin zur um Chanson und modernes Liedgut erweiterten neuen Traditionsmusik von Mrs. Zwirbl reicht – ausgerechnet ein linker Musikverlag wurde damit zum Vorreiter und Erneuerer in Sachen Bayerische Volksmusik.

„Trikont macht komische Sachen. Das Ganze funktioniert nur wegen der Leidenschaft, die drinsteckt. Es geht nicht nur um den kommerziellen Erfolg. Man ist hier gut aufgehoben und bekommt zu jeder Zeit alles.“
(Eric Pfeil, in: Stimmen über Trikont, curt. Stadtmagazin München #87, Sommer 2017)

„Die Trikont-Story“ funktioniert als Buch auf mehreren Ebenen, zum einen als opulente, Kilo-schwere, robust gebundene Festschrift zum Jubiläum eines großartigen Platten-Labels, wie auch als gut zu lesende Geschichte der APO, linker Sponti-Aktionen, alternativer gesellschaftlicher wie subkultureller Gegenentwürfe und daraus entstandenen Musik-historischen Trends und Bewegungen, die bereichert wird durch zahlreiche Abbildungen, Schlaglicht-artige Statements und Ausführungen der Labelmacher, Musiker und weiterer Zeitzeugen aus dem kulturellen wie historischen Kontext im Stile des maßgeblichen Standardwerks zum US-Punkrock „Please Kill Me: The Uncensored Oral History of Punk“ von Legs McNeil und Gillian McCain.
Aufgrund der ausführlichen Dokumentation jeder einzelnen Trikont-Tonträger-Veröffentlichung inklusive abgebildeter Plattencover und Anekdoten um Musiker, Auftritte, den thematischen, Musik-historischen und/oder gesellschaftspolitischen Kontext, dem Bezug der Label-Chefs zu den Künstlern und dem jeweils individuellen Verhältnis zur Musik, zur Entstehungsgeschichte der Aufnahmen und den Geschichten, wie sie letztendlich bei Trikont gelandet sind, ist das gewichtige Werk selbstredend auch ein umfassender und sorgfältig gestalteter Plattenkatalog geworden, und sollte man dann nach Stunden der Muße und des Quer-Checkens mit der Wunsch-Liste zur Schließung der Lücken im eigenen Plattenschrank fertig sein, kann man den Wälzer nochmal von vorne aufschlagen und die Zitate-Sammlung, die sich wie ein Endlos-Laufband am unteren Ende jeder Buchseite findet, in einem Rutsch von vorne bis hinten durchackern und genießen, Zitate-Daumenkino, quasi.
Als Einblick in zahlreiche Musiker-Biografien taugt es nicht minder, wie auch als weitere Leseanregung, wem etwa die 3 Seiten über das unfassbare Leben des Berliner Swing-Gitarristen Coco Schumann nicht ausreichen, die oder der greift weiterführend zur Autobiografie „Der Ghetto-Swinger. Eine Jazzlegende erzählt“ des musizierenden KZ-Überlebenden – „Theresienstadt, Auschwitz, Dachau – das glaubst du mir sowieso nicht…“

Wie wichtig Engagement, Einmischen, Querdenken gerade auch in diesen Tagen wieder sind, hat kürzlich der tätliche Angriff auf Trikont-Chef Achim Bergmann bei der Frankfurter Buchmesse durch einen Vertreter der sogenannten „Neuen Rechten“ nach einer kurzen, kontroversen Diskussion gezeigt, Ausführlicheres hierzu auf der Label-Homepage.

Der Journalist und Soziologe Christof Meueler wurde 1968 geboren und lebt in Berlin. Er gab in den 80er-Jahren das Noisepop-Fanzine „Rat Race“ heraus und schrieb in den 90er-Jahren unter anderem für das Hardcore-Magazin „Zap“. Seit 2001 ist er Ressortleiter für Feuilleton und Sport bei der linken Tageszeitung „junge Welt“. Meueler ist Autor von Biografien über den ex-Terroristen Bommi Baumann und den Indielabel-Betreiber Alfred Hilsberg.

Franz Dobler, Jahrgang 1959 , lebt in Augsburg. Er ist als Journalist, Schriftsteller und DJ tätig. Die Welt hat ihm neben seinen mit dem deutschen Krimi-Preis ausgezeichneten Büchern „Ein Schlag ins Gesicht“ und „Der Bulle im Zug“ sowie weiterer Prosa und Sammlungen kürzerer Texte die grandiose Johnny-Cash-Biografie „The Beast In Me“ zu verdanken. Bei Trikont hat er die mehrteilige Sampler-Serie „Perlen deutschsprachiger Popmusik“ herausgegeben, die 1995 mit „Wo ist zuhause Mama?“ startete, 2002 kompilierte er für das Label den Johnny-Cash-Tribute-Sampler „A Boy Named Sue“, für die wunderbare Doppel-CD-Dokumentation „Sonntag“ über den legendären Kraudn-Sepp hat er den kundigen Text zum Beiheft verfasst und das bei Trikont verlegte Buch „Bloss a Gschicht“ von Hans Söllner ins Hochdeutsche übersetzt. Der grandiose Franz Dobler halt… (um den Ball mal wieder zurückzuspielen ;-))

Herzlichen Dank an Gabi Beusker von Heyne Hardcore für das Rezensionsexemplar.

Konzertant werden 50 Jahre Trikont zu folgenden Gelegenheiten gefeiert:
Am 15. November im Bi Nuu in Berlin, Kreuzberg, Im U-Bahnhof Schlesisches Tor, ab 19.00 Uhr, mit Konzerten von Bernadette La Hengst, Lydia Daher, Textor & Renz und Kofelgschroa.
Und am 30. November am Münchner Feierwerk-Gelände, Hansastraße 39 – 41, im Farbenladen und im Hansa39, ab 18.00 Uhr, auftreten werden die grandiosen Attwenger, der großartige Eric Pfeil, die wunderbare Mrs. Zwirbl, Coconami, die Express Brass Band und die Zitronen Püppies.

Das Kulturforum hebt das Glas mit Hans-Peter Falkner von Attwenger
auf die nächsten 50 Jahre Trikont.

Prost & Alles Gute!

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No Erklaerungen / Crowdfunding For Stingl-Man

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„Kiev Stingl: Hart wie Mozart. Ein Rücksichtsloser ohne Rücksichtslosigkeit, manchmal dumm, penetrant und ätzend, manchmal am Rande der Genialität, manchmal das größte Arschloch des Jahrhunderts.“
(Überschrift zum Interview mit Kiev Stingl von Klaus Plaumann, Rock Session 4, Magazin der populären Musik, Herausgegeben von Klaus Humann und Carl-Ludwig Reichert, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg 1980)

„Kiev über seine Bedeutung: ‚Das Dilemma ist, dass ich… weiß, wogegen, aber nicht wofür‘.“
(Sounds, Mai 1979)

„Der Sommer ist längst vorbei
der Sommer ist längst vorbei
spürst du nicht, der Winter kommt
spürst du nicht, der Winter kommt
und er nimmt dich fort“
(Kiev Stingl, Der Sommer ist längst vorbei, dedicated to Jim M./Doors)

Der in Hamburg aufgewachsene Musiker, Poet und Lou-Reed-als-Arschloch-Imitator Kiev Stingl hat ab den siebziger Jahren Bücher mit seinen Gedichten veröffentlicht, dem geneigten Publikum war er in der Zeit vor allem durch seine Musik ein Begriff, 1989 erschien sein letztes Album, das von Yello-Chef Dieter Meier produzierte ‚Grausam das Gold und jubelnd die Pest‘ auf dem What’s-So-Funny-About-Label von Alfred Hilsberg.
Seine ersten drei Alben wurden jeweils produziert vom Hamburger Musiker-Urgestein Achim Reichel, sein bekanntestes Werk dürfte die 1979er-Scheibe ‚Hart wie Mozart‘ (Ahorn) sein, die Erstauflage der Platte zog eine Klage des Nachrichten-Magazins DER SPIEGEL nach sich, Stingl imitierte das Layout der Cover-Gestaltung des Blattes, besondere Fußnote hierzu: An der Stelle, an der der SPIEGEL die Auslandspreise des Hefts platzierte, lies Kiev Stingl Telefonnummern von Hamburger Prostituierten abdrucken.
Auf seinen Alben tummelten sich Leute wie Holger Hiller oder die Neubauten-Musiker FM Einheit und Alexander Hacke, durchaus respektables Personal aus dem deutschen Neue-Welle-Bereich, aus einer Zeit, bevor es Hitparaden-verdächtig und somit richtig peinlich wurde.
Hinsichtlich Texten wurde Stingl eine Bandbreite zwischen Rimbaud und den amerikanischen Beat-Dichtern attestiert, der Sound lehnte sich an den Punk und New Wave der frühen Jahre an.
Geprägt waren seine Texte von einer Verweigerungshaltung gegenüber dem Mittelmaß und der Austauschbarkeit, in einem Interview mit Klaus Plaumann für die vierte Ausgabe der Rowohlt-Taschenbuchreihe „Rock Session. Magazin der populären Musik“ äußerte Stingl unter anderem:
„Schau dir das mal an, lies mal Musikberichte oder sonst was, es ist wirklich ätzend, was da drinsteht. Du erfährst überhaupt nichts, entweder wird es marktgerecht zusammengebügelt, oder den Leuten wird das oder das unterstellt, daß sie dies oder das seien, aber im Grunde genommen ist alles oder nichts irgendwo oder nirgendwo oder überall. Überall fehlt einfach dieser aggressive Impuls, eingefahrene Klischees zu sprengen, und ich meine, wenn du dich selber als Ich leben willst, dann kann es für dich nur darum gehen, daß du auf all diese Dinger mit’m zynischen Mundwinkel reagierst. Das Ich, relativ pur, wie Esso-Extra.“

Der „Horrorsänger von Eppendorf“ hat im Nachgang noch etliche Skandale produziert, in Interviews und bei Auftritten den totalen Radikal-Ungustl gegeben, mit Stühlen durch die Gegend geschmissen, in Madagaskar wurde er der Legende nach zwischenzeitlich als Fremdenlegionär verhaftet.
Irgendwann in den Neunzigern ist er komplett von der Bildfläche verschwunden.

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Nun also die Searching-For-Stingl-Man-Nummer: Unser liebster Wanderprediger Dirk Otten aka The Dad Horse Experience, der in seiner Jugend von der Musik Stingls geprägt wurde, hat sich auf die Suche nach dem verschollenen Poète maudit gemacht und ihn tatsächlich aufgespürt, zusammen mit dem Filmemacher Marc A. Littler bereitet er derzeit den Dokumentarfilm „No Erklaerungen“ über Kiev Stingl und sein Leben vor, Littler ist genau der Regisseur, dem man eine derartige Thematik blind anvertrauen kann, wie bereits seine herausragenden Dokumentationen über den Ausnahme-Folksänger Possessed By Paul James und den amerikanischen Country-Blues-Underground eindrucksvoll unter Beweis stellten.

So ein Film kostet selbstredend Geld, darum läuft noch bis 15. Mai das Crowdfunding zum Film, hier geht’s lang -> CROWDFUNDING indiegogo.com.

Also, falls Ihr noch schnell ein paar Schwarzgeld-Millionen aus der Steuerhinterzieher-Nummer verstecken müsst oder anderweitig ein paar Taler übrig habt, immer rein damit in den virtuellen Sammel-Hut, besser könnt Ihr die Kröten derzeit nicht anlegen, Zinsen gibt es sowieso dank Draghi keine mehr…

GLAM CUM VINYL #1 immer besser – immer reicher mit Isolation Berlin, Anna-Maria Hirsch, Heike Fröhlich und Stefan Natzel @ SalonG, Akademie der Bildenden Künste, München, 2016-02-28

#immer besser - immer reicher ---DSC00369

„Eine Live-Konzert-Theater-Talk-Performance“ wurde die Veranstaltung vom vergangenen Sonntagabend im SalonG der Münchner Kunstakademie untertitelt, ein spannendes Gebräu aus Poetry Slam, Talk-Show und krachigem Indie-Konzert wurde den BesucherInnen geboten in den heiligen Hallen des Kunst-Studiums.
„Ist München eine Hochburg von Reichtum und Schönheit oder eine Disneyland-Fassade, hinter der sich Fäulnis in die Seelen der Menschen frisst? Müssen wir bessere Menschen werden – und wenn ja, was heißt und wie geht das? Können wir lieben, wenn uns der Lebenssinn abhanden gekommen ist? Besiegt die Liebe die Depression?“ Fragen über Fragen, die die Welt, die Moderatorin und Schauspielerin Anna-Maria Hirsch, die Poesiemacherin Heike Fröhlich, den Philosophen und Dichter Stefan Natzel und den voll gefüllten SalonG bewegten, die aufführenden Performer versuchten sich den Themen über Spoken-Word-Vortrag mit musikalischer Untermalung der Band Isolatin Berlin, kurzen Ein-Mann-/Frau-Theaterstücken, Gedichtvorträgen und Diskussion unter Einbeziehung der Bandmitglieder zu nähern, zu den Themen Selbstoptimierung gingen die Ansichten weit auseinander, da reichte die Palette vom Kalender-bestimmten, durchgetakteten Tagesablauf bis zum spontanen Toiletten-Besuch, Fragen, ob das Leben als spontane Jam-Session ebenso zu Reichtum führen kann, oder ob das Leiden die notwendige Voraussetzung für das Schaffen großer Kunst ist, mussten notgedrungen individuell unbeantwortet bleiben, unstrittig war indes an dem Abend die positive Resonanz des Publikums auf die eingestreuten Deutschrock-Perlen der jungen Kapelle Isolation Berlin, mit viel Rio Reiser in der Stimme wusste Sänger Tobi ebenso zu gefallen wie der Rest der Band mit emotional-schepperndem, von der deutschen New Wave der End-Siebziger geprägtem Gitarren-Rock, da wurden große Gefühle und wütende Ausbrüche transportiert, die Band ist auf dem besten Weg, das neue Borstenvieh zu repräsentieren, das durchs Indie-Dorf getrieben wird. ‚Die Welt‘ schreibt dieser Tage bereits despektierlich „Das Debütalbum von Isolation Berlin, ‚Und aus den Wolken tropft die Zeit‘, müssen Sie unbedingt hören. Denn ihre nächste Platte wird wahrscheinlich schlecht.“ Wie auch immer, ab Ende März wird die Hauptstadt-Combo auf Deutschland-Tour gehen und vermutlich eine Schleifspur der Begeisterung hinter sich herziehen, in München werden sie in dem Rahmen am 10. April in der Kranhalle im Feierwerk aufschlagen, wer hin will, fängt sich besser vorab ein Ticket ein, könnte eng werden.
Die Veranstaltung am vergangenen Sonntag in der Akademie stieß nicht auf ungeteiltes Lob, aber so weit wie eine junge Besucherin möchte ich dann doch nicht gehen, die da meinte: „Das pseudo-philosophische Geschwätz ist voll daneben, aber die Band ist geil!“ ;-)))
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