Dub

Reingehört (551): H

H – H (2019, Echokammer)

Die Münchner Musiker Leo Hopfinger und Tom Simonetti kennen selbst bei ihrer nicht zuletzt deswegen so herausragenden Desert-Blues-Band DAS Hobos keine Berührungsängste mit den Möglichkeiten der digitalen Electronica-Gerätschaften. In ihrem Indie-Disco-Zweitwohnsitz Rhytm Police fanden sie sich in jüngster Vergangenheit zwecks Einspielen neuen Materials zusammen, haben im Studio aber irgendwann einen anderen Eingang an den Pforten der Wahrnehmung erwischt und auf diesem Weg das fehlende H des Duo-Bandnamens gefunden. H wie Hypnose. H wie Heavy-Trance-Vollrausch. Oder Herrliche Halluzinationen. Oder Hofmann, Albert, Doktor der Chemie, der selbst ähnlich zufällig über die entsprechende psychedelische Wirkung des LSD stolperte, wie Autor Pico Be im Pressetext in Analogie anmerkt, eine Geschichte, die auch der US-Literatur-Star T. C. Boyle vor Kurzem in seinem jüngsten Roman „Das Licht“ über den amerikanischen Psychologen und Drogen-Pionier Timothy Leary als Prolog erzählt.
Zusammen mit dem Giesinger Studiobetreiber Albert Pöschl generieren die beiden Experimental-Musiker tatsächlich selbst bunteste Klangfarben in analoger und digitaler Dualität. In mitnehmenden Trance-Beats, mit zugänglichen, repetitiven Minimal-Melodien aus der Synthie-Kiste, die sich spätestens nach dem zweiten Durchlauf als die berühmten Ohrwürmer in den Hirn-Kompost krallen. Mit abstrakten Digital-Drones aus dem Sounddimensionen- und Horizont-erweiternden Elektro-Zauberkasten, eingebetet in einen vierzig-minütigen Endlosschleifen-Flow zwischen nordafrikanisch-arabischen Tribal-Beschwörungen und hochmodernen, synthetischen Electronica-Kraut- und Dub-Vibrationen. Die reduzierten, dadaistischen Sprach-Samplings entwickeln als permanent wiederholte Slogans eine eigene Rhythmik neben der Eindringlichkeit der monotonen Maschinen-Beats, dem analogen Trommeln und Wummern der Bässe. Durch gesampelte Verfremdung klingt etwa die kurze, permanent wiederholte Ansage in der Dub-Nummer „Nebenan zieht’s“ nach französischem Akzent und das liebliche „I Love You“ im letzten Song des Albums nach großem Elektro-Pop.
Die hypnotische Tanzveranstaltung von Hopfinger, Simonetti und Pöschl entwickelt trotz schmaler Band-Besetzung, minimalistischer, monoton wiederholter Taktgebung im handwerklichen Anschlag und gezielt reduzierter, elektronischer Anreicherung ungeahnten Tiefgang, die Klangfarben-Explosion funktioniert auch völlig ohne zusätzliche, stimulierende chemische Substanzen, womit wir irgendwie wieder beim Eingangs-Thema wären. „Mei, is des schee“ schallt es in „Alpensee“ in entrückter Verzückung aus dem Off, im oberbayerischen Idiom, etwas Lokal-Kolorit darf schon sein auf einer Münchner Produktion, und damit ist eigentlich alles gesagt zu diesem massiv anregenden Flow von internationalem Dub-Experiment-Format.
„H“ ist Ende August beim Münchner Indie-Label Echokammer von Albert Pöschl erschienen. H wie „Haben muss!“
(***** – ***** ½)

H spielen live am 10. Oktober im Münchner Glockenbachviertel-Club Milla, Holzstrasse 28, 20.00 Uhr.

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Reingehört (515): Deadbeat & Camara

Deadbeat & Camara – Trinity Thirty (2019, Constellation Records)

Die Vorgeschichte ist weitgehend bekannt: Im November 1987 spielten die Geschwister Timmins unter vorgeblich falscher Flagge als The Timmins Family Singers zusammen mit Basser Alan Anton in der Kirche der heiligen Dreifaltigkeit im kanadischen Toronto nicht die angekündigten Weihnachtslieder, stattdessen eine geplante Auswahl an Eigen- und Fremdwerken als Live-Mitschnitt ohne Publikum ein, aufgenommen mit rudimentärem Equipment und einem einzigen Mikrophon. Das Material erschien ein Jahr später unter dem Titel „The Trinity Session“ als zweites Album der Cowboy Junkies. Die im Nachgang weitgehend unbehandelten Aufnahmen bestachen durch den Engels-gleichen, reinen wie betörenden Gesang von Margo Timmins, der nicht von dieser Welt zu sein schien, und einen ultra-relaxten, entschleunigten Country-Blues-Sound, der vor allem von einer unerschütterlichen, inwendigen Ruhe und vom nachhallenden Klang der Instrumente umweht wurde, ein atmosphärischer und tatsächlich fast sakraler Klang, wie er wohl nur in weitläufigen Kirchen-Gemäuern einzufangen ist.
Als etwas verspätete Würdigung zum 30-jährigen Veröffentlichungs-Jubiläum des Achtziger-Jahre-Meilensteins mit dem unverkennbaren Sound erscheint Ende April „Trinity Thirty“, eine Co-Produktion von DJ und Minimal-Electronica-Klangforscher Scott Monteith aka Deadbeat zusammen mit der Ambient/Techno-Musikerin Fatima Camara, die beiden in Berlin ansässigen Kanadier sind erklärte Fans der „Trinity Session“ und zaubern auf ihrer Neuinterpretation mit filigraner Indie-Electronica und narkotischen Zeitlupen-Trips zwischen Ambient, Synthie-Drones und Experimental-Pop einen zeitgemäßen, modern renovierten Entwurf.
Scott Monteith wie auch Fatima Camara bringen zum ersten Mal ihre eigenen Sangeskünste auf einem Tonträger zum Vortrag, die Premiere wird von Caoimhe McAlister (→ Dear Reader) in den Harmonien unterstützt, in Summe schwebt ein ätherisches wie ästhetisch ansprechendes Hauchen durch die Slow-Motion-Klangsphären, dahingehend durchaus den Originalen vergleichbar wie ebenbürtig.
Die „Trinity“-Wiederaufbereitung ist für einen von elektronischen Spielereien, Verfremdungen und Samplings geprägten Entwurf überraschend Wärme spendend und emotional anrührend, kaum eine Spur von technischer Kälte, konstruierten Effekten oder verkopfter Distanz.
„Sweet Jane“, das seinerzeit herausragende Velvet-Underground-Cover im Interpretationsansatz der Cowboy Junkies, bleibt in der synthetisch behandelten Version erstaunlich blass, eine geradezu überflüssige weitere Auslegung dieser nicht eben selten zitierten Lou-Reed-Nummer, der weitaus größte Teil von „Trinity Thirty“ ist hingegen geprägt von digital exzellent umgesetzten Ideen, die den ursprünglichen Arbeiten viele neue Aspekte und den ein oder anderen Dreh in eine ungeahnte Richtung angedeihen lassen.
Deadbeat und Camara orientieren sich nicht sklavisch am Original, „I Don’t Get It“ und „Walkin‘ After Midnight“ wurden zum Medley verdichtet, die Abfolge der einzelnen Nummern abgewandelt und eine Handvoll an Titeln zur Extended Version im flächendeckenden Flow gedehnt.
Die elektronisch-experimentelle Tiefenentspannung aus dem Berliner Chez-Cherie-Studio überzeugt weit mehr als das eigene 2007er-Rework der Cowboy Junkies zum 20-jährigen, „Trinity Revisited“ fiel damals unter Beteiligung von Kollegen wie Natalie Merchant, Ryan Adams und dem leider viel zu früh dahingeschiedenen Vic Chesnutt dann doch eine Spur zu dick aufgetragen hinsichtlich Kitsch und Pathos aus.
„Trinity Thirty“ von Deatbeat & Camara erscheint am 26. April beim kanadischen Indie-Label Constellation Records.
(*****)

Remembering Nico: Leonie Singt, G.Rag/Zelig Implosion Deluxxe, DAS Hobos & Franz Dobler @ Polka Bar, München, 2018-12-05

Release-Show zur jüngst erschienenen Single „Remembering Nico“ aus dem Hause Gutfeeling Records am vergangenen Mittwochabend im Keller-Club der Haidhausener Polka Bar: Schöne, stilistisch breit gefächerte Gala des Münchner Indie-Labels – als Tribute-Veranstaltung für die deutsche Avantgarde-Ikone und ehemalige Velvet-Underground-Chanteuse allerdings grandios am Ziel vorbeigeschossen. Nicht wenige Gäste erwarteten zu der Gelegenheit eine ausgedehntere Würdigung handverlesener Perlen des schwermütigen Nico-Œuvres, wer vermutete, dass die MusikantInnen die letzten Wochen im Übungskeller zwecks Einstudieren diverser zusätzlicher Coverversionen zu Originalen von Frau Päffgen verbrachten, sollte bei der Veranstaltung indes eines Besseren belehrt werden.
Dabei wähnte sich das Publikum mit Eröffnung des bunten Abends noch auf der richtigen Fährte, Leonie Singt starteten ihren kurzen Gig mit der Interpretation des „Marble Index“-Outtakes „Nibelungen“, zu der Bandleaderin Leonie Felle die teutonische Kälte des Originals mit verzerrter Singstimme durch das Megaphon zu imitieren suchte – das war es aber dann auch schon für’s Erste im Set der feschen Leonie und ihrer Jungs mit Nico-Verneigung, den thematischen Faden nahm die Formation dann erst wieder mit ihrer Auftritt-beschließenden Live-Präsentation der B-Seite der jüngst erschienenen Single auf, „Femme Fatale“ als wunderbarer LoFi-Indiepop-Chanson, der in der Version locker alle bekannten Interpretationen von R.E.M. bis Big Star in den Schatten stellt. Zwischen der thematischen Klammer der beiden Nico-Songs packten Leonie Singt mit Hilfe von Aushilfs-Drummer Zelig ihre eigenen Arbeiten in Gestalt schöner, nachhallender Chanson-Folklore, beherzt schrammelnder Neo-Alternative-Country-Seligkeit, schmissigem Uptempo-LoFi und größtenteils deutsch gesungenen, vehement ohrwurmenden Gitarren-Indiepop-Perlen, die in einer besseren Welt längst alle Hits wären und in dieser immerhin der Spielart neues Leben fernab jeglicher aktueller Tocotronic-Schlager-Peinlichkeiten einhauchen. Singen kann sie sowieso, die Leonie, sagt ja schon der Bandname, charmant moderiert sie, und das Songmaterial taugt eh, nur die morbide Nico-Welt, die hat sie mithilfe ihrer Musikanten zwischendrin gut versteckt.

Die mochte sich auch beim folgenden Auftritt der geschätzten Trio-Formation G.Rag/Zelig Implosion Deluxxe nicht offenbaren, das Kleinformat von Bandleader und Gutfeeling-CEO Andreas Staebler schrammte, lärmte und postpunkte sich in gewohnt exzellenter Manier durch ihren ureigenen No-Wave- und Neo-Electronica-/Kraut-Space-Kosmos, in reduzierter, dabei unvermindert virtuoser Gitarre/Drums/Synthie-Dreifaltigkeit, mit hartem, zuweilen psychedelischen Anschlag und offensichtlichem Zitieren der nur kurz andauernden, guten, von spontaner Aufbruchstimmung geprägten Frühphase der sogenannten Neuen Deutschen Welle.
Zwecks thematischem Bezug spielte die Kapelle eine eigens für den Anlass komponierte No-Wave-Cumbia mit dem Titel „¿donde esta mi camino?“ zu Ehren Nicos, eine weithin schmissige und schräg aus der Garage heraus verzerrt vor sich hingroovende Nummer – die Cumbia kommt ursprünglich aus Kolumbien, die harten Drogen in vergangenen Zeiten aus dem selben Eck, vielleicht lässt sich so eine Brücke zu Christa Päffgen konstruieren, wer weiß, was sich die Herrschaften bei dem Wurf gedacht haben?

Zum krönenden Abschluss des Abends gab sich kein Geringerer als der hochverehrte schwäbisch-bajuwarische Dichterfürst, Country-DJ, Johnny-Cash-Biograf und Trikont-Sampler-Kompilierer Franz Dobler die Ehre, zusammen mit dem ortsansässigen Trio DAS Hobos kredenzte die Kollaboration aus Literatur und artifiziellem Neo-Blues ein gelungenes Crossover aus lakonischem Spoken-Word-Vortrag und Trance-artigem, ultramodernem Prärie-Country, der als melancholischer Soundtrack für die brennenden Lagerfeuer der Wüste nicht weniger taugt als für einen gedehnten, unaufgeregten und tiefenentspannten Ambient-, Electronica- und Dub-Flow im Großstadt-Club. DAS Hobos haben offensichtlich nichts weniger als eine eigene musikalische Sprache gefunden, die die uralten Traditionen des Blues und des Country grandios stimmig mit experimentellen Ansätzen aus der weiten Welt von Samplings, Loops und Electronica-Tranquillität verbindet.
Dobler erwies sich in kongenialer Begleitung einmal mehr als der einzig legitime Erbe des großen Hardboiled-Schreibers Jörg Fauser und wollte am Türsteher vorbei, um im exklusiven Laden wie einst der alte Thorogood einen Bourbon, einen Scotch und ein Bier am Tresen wegzukippen, gedachte des letzten DJs, der nicht nur sich selbst, erschwerend auch seine besten Schallplatten im Trubel der Zeit verlor, und er spürte der archaischen Sehnsucht nach, auf vorbeifahrende Güterzüge aufzuspringen und einfach zu entschwinden – was man halt so macht, wenn man mit drei Hobos unterwegs ist, und wer will es ihm verdenken, mitunter ist diese Welt ab und an ja nichts anderes als eine einzige ranzige Jauchegrube, der man nur noch zu entfliehen trachtet.
Hintenraus, um den thematischen Aufhänger des Abends noch irgendwo ins Spiel zu bringen, erzählte Dobler die Geschichte über die „Verhängnisvolle Frau“, eine prägnant umrissene Anekdote aus einem der letzen Nico-Konzerte, welches von einem krakeelenden Idioten gestört wurde, der mit seinen permanenten Zwischenrufen vehement den Vortrag von „Femme Fatale“ forderte und von der Underground-Diva dafür seinerzeit mit der gebotenen Verachtung gestraft wurde, musikalisch von der begleitenden Band eingebettet in einen Trance-artigen Slow-Motion-Desert-Blues. Anders als beim skizzierten Nico-Konzert Mitte der Achtziger gab’s am Mittwochabend „Femme Fatale“ anstatt gar nicht gleich zweimal, final nochmal in Komplett-Besetzung dargereicht von allen aufführenden Akteuren der Veranstaltung, mehr muss nicht unbedingt besser sein bei derartigen Jam-Sessions, und damit ließ man’s dann zu fortgeschrittener Stunde gen Mitternacht auch gut sein in der Polka.

Sollte im kommenden Sommer – nur mal so als exemplarische Spekulation – eine Metallica-Nacht vom Gutfeeling-Label angezettelt werden, an der Isar oder in der Polka oder irgendwo anders: findet Euch bedenkenlos ein, es wird zu großen Teilen der feine Stoff aus eigenem Hause zur Aufführung kommen, Reminiszenzen an die amerikanischen Stadien-Kracher werden im Fall des Falles maximal in homöopathischen Dosen verabreicht… ;-)))

FACS + WhåZho @ Maj Musical Monday #90, Glockenbachwerkstatt, München, 2018-11-19

Wo bei der Oktober-Ausgabe der Do-It-Yourself-Serie Maj Musical Monday für Indie-, Post-, Experimental-, Noise-Rock, Artverwandtes und Multimedia-Installationen mit dem britischen Postrock/Neoklassik-Duo VLMV die ruhigen, getragenen, elegischen Töne dominierten, verfiel die Nachfolge-Veranstaltung in der 90. Auflage am vergangenen Montagabend an gewohnter Örtlichkeit im Glockenbachwerkstatt-Saal mit den beiden Formationen FACS und WhåZho in das andere Extrem: für die geneigte Hörerschaft der lärmenden Rockmusik-Beschallung blieben zu der Gelegenheit kaum Wünsche offen.

Für den ersten Teil des Doppelpacks stieg das Münchner Duo WhåZho in den Ring, Bassist Christian Riedel und Drummer Philip Gross veröffentlichten im vergangenen März ihr Debütwerk „100 Ways To Look Great“ beim Münchner Indie-Label Gutfeeling Records, dem bestens beleumundeten Hort für alles Wahre, Schöne und Gute, was diese Stadt an musikalischen Abenteuer-Reisen zu bieten hat. Schlagwerker Gross ist in der konzertanten lokalen Szenerie kein unbekanntes Gesicht, neben zahlreichen Auftritten mit Kompagnon Riedel ist er in der Vergangenheit bereits mit etlichen Beiträgen zu den G.Rag-Inkarnationen Hermanos Patchekos wie den Landlergschwistern in Erscheinung getreten. Polka, Texas Bohemia und Carribean Folk Trash kann man bei WhåZho-Aufführungen indes lange und vergebens suchen, das Duo entwickelt aus dem Stand offensiven Druck mit einer instrumentalen, von intensiven Rhythmen und schweren Bass-Linien dominierten Crossover-Spielart aus unkonventionellem Postrock, orientalisch durchwirkter Psychedelic und einer modernen, gleichfalls tanzbaren Version des Krautrock. WhåZho trimmen dieses fein abgestimmte Gebräu in Richtung Postpunk a la Joy Division auf Speed und geizen daneben nicht mit voluminösen Dub-Elementen, das erste Slits-Album dürfte in der Vergangenheit vermutlich des Öfteren durch die Gehörgänge der Musikanten gerauscht sein und seine entsprechenden Spuren hinterlassen haben.
Neben dem versierten Bespielen der rudimentären Drum&Bass-Rhythmus-Gerätschaft ergingen sich Gross und Riedel in allerlei Effekt-steigernden Sounduntermalungen mittels Loops, digitaler Drums, Einsatz des Pedal-Sets und atmosphärischer Samplings, die das experimentelle Treiben des Duos zu einem vollen und vielschichtigen Klang im Bandformat anschwellen ließen.
Mit den letzten beiden Nummern brachte das Doppel ihren bis dahin stringenten Instrumental-Vortrag leider Gottes zum Kollabieren, die Hinzunahme eines ansonsten nicht unsympathischen gemischten Duos zwecks unterstützendem Vokalvortrag warf die Frage auf, was seichte NDW- und Reggae-Verirrungen in diesem Rahmen zu suchen hatten – belanglose Mainstream-Berieselung, die als tonaler Beihau weit mehr in die mittlerweile abgesetzte, unsägliche Samstagabend-Fernsehshow vom kalifornischen Brandopfer Gottschalk denn zu einer gepflegten Maj-Musikmontag-Veranstaltung harmoniert hätte.
Muss ja nicht gleich auto-aggressive Selbstkritik im stalinistischen oder maoistischen Geiste sein, ein eingehendes Überdenken dieses Konzert-beschließenden Abgangs täte an der Stelle nichtsdestotrotz Not. Positiv formuliert, denn das Wohlwollen muss in dem Fall bei Weitem überwiegen: Fulminantes Postpunk-Dancehall-Gedröhne, mit zwei Streich-Ergebnissen hintenraus, ansonsten alles paletti.

FACS aus Chicago wussten in der zweiten Runde des MMM #90 hinsichtlich Lärm noch eine gehörige Schippe draufzupacken. Das Trio rekrutiert sich aus Mitgliedern der 2016 dahingeschiedenen Indie-Rock-Band Disappears, die zwischenzeitlich Anfang der 2010er Jahre mit dem Sonic-Youth-Drummer Steve Shelley prominente Verstärkung im Tourbetrieb an Bord hatte. Ex-Disappears-Gitarrist/Sänger Brian Case und der Shelley-Nachfolger Noah Leger an den Trommelstöcken werden bei FACS mit weiblicher Anmut durch die ehemalige Cat-Power-Musikerin Alianna Kalaba und ihr Wirken am Bass ergänzt. Das Trio definiert ihren Sound wie folgt: „Using minimalism and space, FACS make abstract and modern art rock“. Live klingt das nach vehementestem Noise-Rock, der die klirrenden, jaulenden und gerne auch dissonanten Gitarren-Riffs in den Vordergrund stellt und nicht zuletzt mit den Sangeskünsten von Frontmann Case durch beinharte Industrial-Ästhetik und anonyme Großstadt-Unwirtlichkeit charakterisiert wird. Das schneidende Organ des Gitarristen klingt, als hätte sich Throbbing-Gristle-Vorturner Genesis P-Orridge in die Experimental-Garage einer lautmalenden Postpunk-Combo verirrt, mitunter flammten kurze und prägnante Assoziationen zum unorthodoxen Gitarren-Behacken der frühen Mission Of Burma und die kalte, schneidende, berechnende Wut der ersten PiL-Arbeiten inklusive beißendem Lydon/Rotten-Zynismus durch die Hirnwindungen, im inspirierten, dunklen Lärmen des Trios ist neben diffusen Reminiszenzen an ausgewählte Noise-Pioniere gleichwohl und zuforderst viel Raum für eigene Ideen, emotionale Ausbrüche und tonal/atonale Exzesse.
Die schöne Alianna Kalaba bediente in formvollendetem Stoizismus ihren Bass, Gitarrist Brian Case ließ den virulenten Lärm seiner flirrenden sechs Saiten unterschwellig bedrohlich und konstant anhaltend durch den Saal lichtern und Drummer Noah Leger kannte nur eine Richtung im Bearbeiten der bespannten Becken: straight forward, mit maximalem Druck und in nicht nachlassender Intensität, der beherzte Schluck aus dem Jägermeister-Flachmann war dem guten Mann nach verrichtetem Tagwerk mehr als gegönnt. Wie allen MusikantInnen der wohlverdiente Applaus für die einstündige Druckbetankung und die folgende, dringend erforderliche Erholungs/Ruhe-Phase für die strapazierten, blutenden, gleichwohl beglückten Gehörgänge des Publikums. Rasiermesser-Postpunk from Chicago at its best. Haben’s mal wieder eine goldene Hand bewiesen bei der Programmzusammenstellung, die MMM-Macher Josip Pavlov und Chaspa Chaspo, Hut ab.

Soul Family Tree (52): 50 Jahre Trojan Records

Black Friday, heute mit einem Gastbeitrag von Stefan Haase vom Hamburger Freiraum-Blog über das erste halbe Jahrhundert des englischen Trojan-Labels:

Im Juli 1968 gründeten die beiden Engländer Lee Gopthal und Chris Blackwell von Island Records in London das unabhängige Plattenlabel Trojan Records. Intention hinter dem Unternehmen war, Reggae- und Dub-Musik nach Europa zu bringen. Der Name Trojan kommt wohl daher, dass der jamaikanische DJ Duke Reid seinerzeit mit seinem Sound-System auf einem Trojan-Truck von Ort zu Ort tourte. Die ersten sieben Jahre waren die wichtigste Ära für die Kulturinstitution. Durch die Musik erreichte Trojan von Beginn an die Jugendlichen. Und mit den Skinheads als Kunden, der ersten multikulturellen Bewegung in England, kam einiges an Singles von Trojan Records in die Charts. Die Skins warten zu Beginn in erster Linie an Mode und Musik interessiert und weniger an Randale. In den 1970er Jahren setzte sich der rechte Flügel der zusehends gewaltbereiteren Jugendbewegung durch.

Trojans Blütezeit, von 1968 bis 1975, bereitete den Boden für die spätere Punk-/Reggae-Welle der späten Siebziger Jahre. Ohne Trojan hätte es keinen Ska, Dub oder Punk gegeben. Der Reggae war jamaikanischer Punk und ein klares Statement gegen Rassismus. Bis heute tauchen Trojan-Songs in Werbeclips auf oder werden gesampelt von Rappern wie Jay-Z und vielen anderen. Obwohl das Label bereits 1975 verkauft wurde, blieb es bis heute in London beheimatet und ist mittlerweile englisches Kulturgut. Zum 50. Geburtstag wurde eine üppige CD- und LP-Box „Trojan 50“ veröffentlicht. Darüber hinaus publizierte Trojan ein Coffeetable-Book: „The Story Of Trojan“. Mehr Infos gibt es drüben bei www.trojanrecords.com. Dort finden sich auch jede Menge Musiklisten zum Nachhören.

„If every generation really learned from the one before, we’d be gods by now.“
(Don Letts)

Das Label machte zahlreiche jamaikanische Musiker wie Jimmy Cliff, Desmond Dekker, Lee „Scratch“ Perry und natürlich den jungen Bob Marley bekannt. Trojan brachte damit den Reggae und Dub nach Europa. Und ohne Trojan hätte es keinen Ska gegeben, keine Madness oder Specials. Don Letts, Sohn jamaikanischer Eltern in London, brachte den Reggae zum Punk und den Punk zu Bob Marley → Punky Reggae Party“.

Wie Letts in einem Interview erzählte, gab es in den 1970er Jahren in der Kings Road in London nur zwei coole Mode-Shops, Acme und einen Laden, der von Vivienne Westwood und dem späteren Sex-Pistols-Manager Malcolm McLaren geführt wurde. Letts heuerte bei Acme an. Dort kauften auch viele Punk- und Rock-Musiker ein, und Letts schloss schnell mit ihnen Bekanntschaft. Als 1976 Manager des Londoner Roxy Clubs bei Letts anfragten, ob er nicht bei ihnen als DJ auflegen möchte, sagte er zu und spielte Punk, hauptsächlich aus den USA, vor allem Songs der New York Dolls, von Patti Smith oder Television. Doch es gab zu der Zeit noch nicht so viele Punk-Platten, und so legte er aus der Not heraus auch Reggae- und Dub-Singles auf. Und die Punks liebten es. Alles weitere ist Geschichte.

Jimmy Cliff – „Guns Of Brixton“ (The Clash Cover)

Bob & Marcia – „Young Gifted And Black“ (Nina Simone Cover)

Toots And The Maytals – „54-46 That’s My Number“

Harry J. All Stars – „The Liquidator“ (wird heute noch immer beim FC Chelsea im Stadion gespielt)

Mikey Dread – „Roots And Culture“

„It was Trojan’s music that united black and white youths. On the playgrounds, on the streets and on the dance floor.“
(Don Letts)

Don Letts brachte den Reggae zum Punk. Er ist mittlerweile längst ein renommierter englischer Moderator, Filmemacher, Musiker, Journalist und DJ. Beim Radiosender BBC 6 Radio legt er jeden Sonntagabend für zwei Stunden Musik auf. Die Sendung ist bei uns ab 23.00 Uhr zu hören. Wem das zu spät ist, kann die Sendung 4 Wochen lang nachhören, ganz ohne Geoblocking. Der Link zur Sendung → Don Lett´s Culture Clash Radio.

Nachdem er den Reggae zu den Punks brachte, machte er als Video-Regisseur der Band The Clash von sich reden. In den ersten Jahren der Band-Historie hatte er alle Videos des Quartetts gedreht. Auf dem Album „Black Market Clash“ ist er auf dem Cover zu sehen. Seine spätere Dokumentation über die Band „Westway To The World“ erhielt einen Grammy.

Vor einigen Wochen hatte er in seiner Sendung eine „Summer Bass-Heavy Reggae Selection!“ Leider ist die Sendung nicht mehr nachzuhören. Aus dieser Sendung habe ich 5 Songs ausgesucht:

Benjamin Zephaniah – „Earth Liberation Sounds“

Gentleman’s Dub Club – „Hotter“

Dubmatrix & Ranking Joe – „War Inna Corner“

Dread Lion & Mr Biska meet Vibronics – „Zion Dubwise“

DJ Vadim – „Fussin‘ & Fightin'“

„Much has changed since the summer of 1968, yet despite the rise and fall of numerous music trends and the development of new formats on which music can be acquired, Trojan Records has consistently maintained a significant and relevant presence in an ever-competitive market. And such is the vast wealth of music at its disposal there is no reason why it should not continue to do so for many, many years to come.“
(Trojan Records)

Peace and Soul

Stefan aka Freiraum