Frankreich

Korto + Le Singe Blanc @ Glockenbachwerkstatt, München, 2019-04-28

Am vergangenen Sonntagabend fegte ein schwerer Orkan an psychedelischen, progressiven und lärmenden Heftigkeiten durch den Saal der Münchner Glockenbachwerkstatt, und so ziemlich das gesamte in Frage kommende, betreffende Münchner Konzert-Volk hat es verschlafen, shame on you. Konzert-Organisator Chaspa Chaspo präsentierte ein französisches Doppel-Pack, das mit den jeweils höchst individuellen Ansätzen frisches Sturm-Gebläse der Windstärke 12 im Progressive Rock wehen ließ, die Psychedelic-Spielart mit Frischzellen-Kuren entschlackte und alleine schon damit einen weitaus größeren Zulauf verdient hätte als die paar Unerschrockenen und Neugierigen mit offenen Ohren, die sich zum Ausklang des Wochenendes in der „Glocke“ einfanden.

Den Auftakt bespielte das Power-Trio Korto aus dem Département Haute-Savoie, im Osten Frankreichs gelegen, an der Grenze zum Schweizer Kanton Genf. Die Band gibt selbst über ihren Stil Auskunft: „Korto is a diesel motor launched without mercy on the highway of supersonic kraut rock married to space punk and drugged by synthetic pop“ – bei Korto geht das psychedelische Gelichter und der Space-Rock tatsächlich eine mehr als gedeihliche Symbiose ein, mit nervös treibendem Post-Punk, mit alles andere als saumseliger Shoegazer-Melodik, und in den wiederholt ausgedehnten, erhebenden Instrumental-Passagen sollten sogar die beinharten Postrock-Puristen ihr Glück finden. Eine Stunde an Live-Präsentation verging kurzweilig wie im Flug, kaum im Flow, schien das Glück bereits wieder verrauscht, die Band nahm den Fuß selten vom Gas-Pedal, Drummer Léo Mo trieb vehement mit Afrobeats und heftiger Punk-Rhythmik, Marius Mermet ließ seine neo-psychedelischen, lärmenden Gitarren-Riffs atmosphärisch durch die Songs schneiden und Bassist Clément Baltassat als vor Energie berstender Basser wummerte wuchtig mit seinem Rickenbacker-Instrument wie einst der legendäre Lemmy Kilmister. Das, was bei Korto unter Kraut und Prog firmiert, bekommt in dem Kontext weit mehr Erdung durch die Spielarten des beherzt zugreifenden Indie- und Alternative-Rock als abgehobenes Fortdriften in kosmische Regionen, einen frischen Anstrich mit buntesten und faszinierenden Klang-Malereien, die zum berauschten Mit-Nicken und -Wippen animieren, weniger zur Trance-entrückten Meditation – die zukunftsorientierte Richtung eines ureigenen, exzellenten Progressive-Drives.

Korto sind in den kommenden Tagen zu folgenden ausgewählten Terminen zu sehen, zahlreiches Erscheinen ist dringend empfohlen, der Tiefschlaf des Münchner Publikums sollte ein regional begrenztes Phänomen bleiben:

06.05.Berlin – Schokoladen
07.05.Bamberg – Pizzini
09.05.Heilbronn – Emma 23
10.05.Heidelberg – Schmitthelm Gelände Projekt
11.05.Basel – Renée Bar

Die zweite Etappe der Tour de France/Tour de Force bespielten die Mannen von Le Singe Blanc, was das Dreiergespann aus Metz mit zwei E-Bässen und einem Schlagzeug auf der Bühne treibt, grenzt ans schier Unbeschreibliche. Muss man gesehen und gehört haben, um es zu glauben, und selbst dann ist es kaum völlig in all seinen Facetten zu erfassen. Man stelle sich eine minimalistische King-Crimson-Ausgabe vor, die mit den experimentellen Postpunk-Klangforschern von This Heat und den kanadischen Jazzcore-Punks von NoMeansNo eine High-Speed-Session als wilden Ritt aus Psycho-Jazzrock/Punk/NoWave-Gelärme spielen, dann hat man’s ungefähr an Vorstellung, aber tatsächlich nur ungefähr: Polyrhythmischer Mathcore-Irrwitz auf der Überholspur, mit den Lautsprecher-Reglern und dem Heizkessel-Druck auf maximale Voll-Auslastung gefahren. Drei völlig entfesselte, wilde Berserker in ihrer eigenen Welt, die sich den Gesang als absurdes Sprech- und Schrei-Theater im Stakkato teilen, Hip Hop goes Ionesco mit anderen Mitteln, mit permanent sich überschlagenden und ins Hysterische kippenden Vokals. Kaum nachvollziehbare, irrsinnig schnelle Breaks im Überschall-Tempo. Krachende, wummernde, siedende und berstende Bassläufe, die brachial lärmende Riffs, abrupt eingeworfene Soli und abgehackte, spontan wechselnde Rhythmen spielen. Im Zentrum ein Drummer, der diesen erratischen Overflow zusammenhält wie gleichzeitig mit frei wirbelndem Anschlagen befeuert und als Entertainer mit gut gelauntem, überdrehten Grimassen-Feixen den Clown im Auge des Hurrikans gibt. Le Singe Blanc nennen ihr durchgeknalltes Sound-Monster „Regressive Rock“, sie haben damit eine eigene Klangsprache gefunden zum Auswurf des tagtäglichen Gedanken-Wirrwarrs, zur lärmenden Interpretation des brodelnden, vorzeitlichen Chaos und des tonalen Urknall.
Le Singe Blanc lieferten in der vergangenen Sonntag-Nacht ausgesucht exzellenten, komplexen wie intelligenten Noise-Rock der Sonderklasse, und wer das versäumt hat (also im Isar-Dorf fast alle), die- oder derjenige darf sich im Nachgang bis zur krampfhaften Deformation verrenken und sodann herzhaft in den Allerwertesten beißen.
Once again tausend Dank an den unermüdlichen Chaspa, der uns in den vergangenen Monaten im GBW-Saal mit begnadeten Crossover-Kapellen wie Ni, Spinifex, !GeRald! oder eben Le Singe Blanc beglückte.

Fred Raspail & Rosario Baeza @ Café Schau Ma Moi, München, 2019-04-04

Rosario Baeza: „People don’t talk that much, cause they’re permanently drinking…“
Fred Raspail: „You got it, that’s how things go here!“

Wenn sich beim Café Schau Ma Moi das Leben an der Tegernseer Landtraße weit mehr vor dem Lokal am Gehsteig als im Gastraum selbst abspielt, ist sehr wahrscheinlich Drittliga-Spieltag und Heerscharen von Sechzig-Fans umzingeln das beloved Giesinger Wohnzimmer, um die nächsten eingefahrenen Punkte gegen den Abstieg zu feiern oder den Frust über eine schwache Partie der „Löwen“ mit dem Kellerbier der nahe gelegenen, ortsansässigen Brauerei wegzuspülen. Drängeln sich dagegen die Gäste dicht gestaffelt im kleinen Cafe, ist derzeit entweder Lesung oder Vortrag zum hundertjährigen Jubiläum der Bayerischen Revolution und Räte-Republik angezeigt oder die Obergiesinger „Ordnungszelle“ wird kurzerhand zum „Telasoul Ballroom“ ausgerufen, zwecks musikalischer Beschallung der vermutlich kleinsten – und ganz sicher neben dem KAP37 und dem Club-Keller der Polka-Bar schönsten – Münchner Konzert-Lokalität. So geschehen once again am vergangenen Donnerstag-Abend zur Präsentation des kürzlich erschienenen Albums „Radio Primitivo“ (Gutfeeling Records) vom französischen Trashblues-Folker und Los-Gatillos-Musikanten Fred Raspail, der hier bereits bestens bekannte und beleumundete Barde aus Lyon stellte sein bewährtes One-Man-Band-Konzept hintenan, Raspail und sein mysteriöses Primitive Ghost Orchestra durften sich an dem Abend alles andere als primitiv und äußerst charmant von der argentinischen Musikerin Rosario Baeza begleiten lassen.
Nicht nur optisch ein fesches Paar, harmonierten die beiden auch im gemeinsamen Aufspielen prächtig. Die junge Musikerin aus Buenos Aires demonstrierte ihr Multitalent an Violine, Bluesharp, Gitarre wie Keyboards und verlieh damit der scheppernden Chanson-Folklore, dem ungestüm lärmenden Rock and Roll, dem Trash in Moll von Fred Raspail geschmeidige Eleganz und die zusätzlichen Facetten an Gypsy-Swing, Balkan-Melancholie und Americana-Roots. Nicht nur an diversem Instrumentarium, auch als Duett-Partnerin im Gesang wie im gelegentlichen Lead wusste die Argentinierin zu gefallen, das unverstellt Verruchte und Schmutzige in ihrer betörenden Blues-Stimmlage begeisterte wie ihr Talent als schmalzende Balladen-Croonerin im südamerikanischen Herz-Schmerz-Drama, das die Hörerschaft im gesteckt vollen Café ergriffen die Luft anhalten ließ.
Eingangs bot das Duo eine feine Auswahl an amerikanischen Blues- und Folk-Standards im schrammeligen Gewand, die erwartet grandios vorgetragene, tieftraurige Gospel-Ballade „Wayfaring Stranger“, der rohe, schmissig polternde „Folsom Prison Blues“ als Verneigung vor dem großen Cash und eine durch die Violine Rosa Baezas zum Country-Blues mit Irish-Folk-Einschlag veredelte Interpretation des Leadbelly-Klassikers „In The Pines“, zu der sich die ehemalige Giesinger Bahnwärter-Station für einige Minuten in die Nachbarschaft von windschiefen Holzschuppen und illegalen Schnapsbrennereien irgendwo am Rande der Baumwollfelder des US-amerikanischen Südens teleportierte.
Den unterhaltenden Conferencier und launigen Anekdoten-Erzähler zwischen den einzelnen Nummern hielt Fred Raspail dieses Mal im Zaum, zuviel an neuen Songs vom aktuellen Tonträger stand auf der Setlist zum konzertanten Vortrag, als dass die Zeit zum ausladenden Parlieren gereicht hätte, vielleicht mochte er sich im Duo-Verbund auch nicht als großer Geschichten-Zampano hervortun und gab sich darum galant bedeckt. In einem babylonischen Sprachgewirr an französischen, spanischen, englischen und deutschen Lyrics trashte, jaulte und schepperte sich das gemischte Doppel durch das Primitiv-Radio-Programm für Kirmes-Veranstaltungen, Blues-Garagen und verrauchte Kaschemmen, wo der biblische Turmbau am gegenseitigen Unverständnis der beteiligten Parteien scheiterte, gelang das Konzert der europäisch-lateinamerikanischen Connection im transkontinentalen Schulterschluss zu einem höchst gelungenen Kunststück der abendlichen Unterhaltung, die Entertainment-Qualitäten der gebotenen Aufführung waren allein schon am rasenden Verfliegen der Zeit festzumachen, die eineinhalb Stunden im Schau Ma Moi hatten sich am Donnerstagabend scheint’s zu einem kurzweiligen, vor allem gefühlt viel zu kurz geratenen Konzentrat verdichtet. Wegen der Giesinger Nachbarschaft muss halt irgendwann notgedrungen Schluss sein, dabei wäre man Fred Raspail und Rosario Baeza gerne noch weiter bis tief in die Nacht hinein bei ihren beseelten Exkursionen durch die bunte und schräge Welt der Folk- und Blues-Abseitigkeiten gefolgt.

Fred & Rosa Powerduo-Supertrash-Folklore-Blues erfreulicherweise demnächst bald wieder in München, am 22. Mai im Rahmen der regelmäßigen Fish’n’Blues-Veranstaltung der Glockenbachwerkstatt, Blumenstraße 7, 20.00 Uhr. Bei entsprechender Witterung im heimeligen Biergarten. Have a Fischgräte, have a few Unertl Weißbier, have some delicious Primitive Folk Chansons…

Reingehört (524): Lost In Kiev

Lost In Kiev – Persona (2019, Pelagic Records)

Im Mai 2017 vermochten sie im Rahmen des dreitägigen Postrock-Hochamts beim belgischen dunk!Festival mit ihrer Electronica-gestützten Spielart des Genres und vor allem mittels groß angelegter, exzellenter Video-Show bleibenden Eindruck zu hinterlassen, dieser Tage bringen sich die vier Franzosen von Lost In Kiev mit einem neuen Longplayer wieder ins Gespräch. Zweieinhalb Jahre nach der letzten Veröffentlichung „Nuit Noire“ beim dunk!-eigenen Label geben die jungen Musiker aus Paris mit dem aktuellen Werk „Persona“ eine Vorstellung davon ab, wohin die Reise des Postrock in Zukunft gehen kann, böse Zungen würden mit fortschreitender Austauschbarkeit diverser Bands in dem Zusammenhang wohl von ersten ernsthaften Wiederbelebungsversuchen der instrumentalen Indierock-Spielart sprechen.
Lost In Kiev vereinen auf ihren groß angelegten, cineastischen Breitwand-Klangentwürfen ein ganzes Spektrum an Stil-prägenden Elementen des Genre-übergreifenden Progressive- und Post/Core-Sounds. Die handelsüblichen Postrock-Gitarren-Crescendi werden in dem Kontext prominent platziert und entfalten sich damit prächtig. Substanziellen Tiefgang, Fläche und individuelle Ausgestaltung gewinnen die Nummern mit einem Horizont-erweiternden Blick über die altbekannten Gitarren-Soundwände hinweg, mit einem Schweifen hinein in die Sphären des Synthie-Space, in ausgewählte Momente strahlender Krautrock-Glückseligkeit, Lichtjahre zurückliegend, in die zeitlose Supernova aus der „Phaedra“-Ära der deutschen Elektronik-Pioniere von Tangerine Dream und des „Neu!“-Debüts von Michael Rother und Klaus Dinger. Die französischen Musiker erweisen sich in den aktuellen Kompositionen als versierte Experimental-Protagonisten im futuristischen Neo-Prog/Postrock-Crossover, neben den atmosphärischen, Sound-dominierenden Synthesizer-Sequenzen und den markanten Gitarren-Timbres spielt das Quartett mit Drum-Machine-getriebenen New- und Dark-Wave-Zitaten, digitalen Samplings, Loops und der Sog-artigen Wirkung ihres Electronica-Trance-Flows. Der Analog/Synthetik-Hybrid lässt die Stimmungslage in permanenter Unruhe zwischen melancholischer Schwere und euphorischer Losgelöstheit wandern. Wo andere Bands die Spoken-Word-Samples oft völlig zusammenhanglos aus Field Recordings, hochtrabenden Politiker-Reden oder Film-Dialogen entlehnen, produzieren Lost In Kiev ihre digital verfremdeten Monologe und Zwiegespräche zum Durchbrechen der rein instrumentalen Strukturen des Postrock selbst, damit erzählen sie ihre eigenen Geschichten, die von implementierten menschlichen Erinnerungen in Robotern zwecks Überwindung der Vergänglichkeit, rein technischer, Maschinen-gestützter Kriegsführung, Robotern als Lebens- und Liebes-Partnern, künstlicher Intelligenz und anderen zukunftsorientierten, erschreckenden Sci-Fi-Themen handeln.
Summiert man die eingesammelten Pluspunkte nach diesem ergiebigen wie zuweilen Reiz-überflutenden Sound-Trip, kommt man auf nicht eben wenig, was dieses Album von herkömmlicher Instrumental-Durchschnittsware unterscheidet, Lost In Kiev dürften damit auf die drohende (böse Zungen: längst eingetretene) Stagnation im Postrock eine brauchbare Antwort gefunden haben.
„Persona“ erscheint am 26. April beim Berliner Independent-Label Pelagic Records.
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