Top-Forty-Gigs 2019, Culture-Forum-Edition: die erinnerungswürdigsten, am längsten nachhallenden Konzerte des vergangenen Jahres, selbstredend wie immer rein subjektiv gewertet. Unterstützen Sie Ihre lokalen Festival- und Konzertveranstalter, knausern Sie nicht rum, wenn der Hut rumgeht, haben Sie im neuen Jahr 2020 bitte Spaß mit den MusikantInnen Ihres Vertrauens, zur Not auch für über 1000 Taler im VIP-Bereich des Stadions bei einem aufgewärmten Rock’n’Roll-Derivate-Scheißdreck wie Gewehre n‘ Rosen: Jeder nach seiner Fasson, the show must go on…
Gent
Reingehört (544): A-Sun Amissa
Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und dein Stab trösten mich.
(Psalm 23:4)
A-Sun Amissa – For Burdened And Bright Light (2019, Gizeh Records / Consouling Sounds)
Das Kollektiv A-Sun Amissa wurde 2011 vom englischen Multimedia-Künstler Richard Knox in Manchester ins Leben gerufen, Größen wie Amenra-Frontmann Colin H. Van Eeckhout, die wunderbare Experimental-Cellistin Jo Quail, Frédéric D. Oberland von der französischen Ausnahme-Postrock-Band Oiseaux-Tempete oder der kanadische Multiinstrumentalist Aidan Baker haben sich in den vergangenen Jahren sporadisch ins Projekt eingebracht, beileibe nicht die schlechteste Reisegesellschaft für groß angelegte Klang-Expeditionen – und die personelle Fluktuation Garant für permanenten musikalischen Progress.
Auf dem fünften Longplayer entwickelt Richard Knox in DIY-Eigenregie als Komponist, Musiker und Mixer mit Unterstützung von (Gattin?) Claire Knox an der Klarinette und David Armes an der Lap-Steel-Gitarre das Konzept des Vorgängeralbums „Ceremony In The Stillness“ weiter, „For Burdened And Bright Light“ wartet mit zwei jeweils über 20-minütigen Instrumental-Sätzen in sinfonischer Pracht und Komplexität auf. Gedehnte, dunkle Kompositionen, die im unausweichlichen Sog in tonale Schattenwelten hinüberziehen, Sound-Landschaften, die von dichten und schwer ergreifenden Ambient-Passagen und beklemmenden Drones durchdrungen werden, in denen massive Postrock-Gitarren mit Drift zur metallenen Industrial-Kälte als Orientierungshilfe in der Nebel-verhangenen Finsternis dienen. Abstrakte Elektronica, geisternder Hall und knirschende Maschinen-Beats prägen die ätherische Atmosphäre, Reminiszenzen an freien Doom-Jazz, die Strukturen des Post-Metal und die dahinfließenden Endlos-Schliefen der minimalistischen Neo-Klassik durchdringen das orchestrale Werk wie sphärischer Neo-Kraut, eingeflochtene Samplings aus Feld-Aufnahmen und schwermütige Trance-Passagen. Wo Schatten ist, ist auch Licht, und so leuchten diese emotional anrührenden Aufnahmen trotz bedeutungsschwangerer und erhabener Schwergewichts-Melancholie in unfassbarer Schönheit, in einem geheimnisvoll schimmernden Licht, das die Hoffnung auf einen Ausweg aus dem finsteren Tal der bedrängenden Sorgen und mentalen Abgründe am Leben erhält.
„For Burdened And Bright Light“ erscheint am 13. September als Co-Release von Richard Knox‘ Indie-Label Gizeh Records in Manchester und der belgischen Postrock/Experimental-Institution Consouling Sounds in Gent.
(*****)
A-Sun Amissa sind live am 3. Oktober in der Münchner Glockenbachwerkstatt zu sehen, weitere Konzert-Termine auf dem europäischen Festland und der abgespaltenen Insel:
29.08. – Glasgow – Stereo – w/ Nadja
30.08. – Newcastle – Cluny – w/ Nadja
16.09. – London – Corsica Studios – w/ Efrim Menuck & Kevin Doria
17.09. – Manchester – Soup Kitchen – w/ Efrim Menuck & Kevin Doria
01.10. – Brno – Kabinet Muz
02.10. – Wien – Venster99
08.10. – Dresden – Zentralwerk
09.10. – Hamburg – FSK-HH
10.10. – Rotterdam – WORM
11.10. – Gent – Herberg Macharius
12.10. – Diepenheim – HANS Festival
05.12. – Sheffield – Record Junkee – w/ Hundred Year Old Man & E-L-R
dunk!Festival 2019 @ Zottegem/Velzeke, Belgien, 2019-06-01
dunk!Festival 2019, the third and final report: Das Wetter präsentierte eitel Sonnenschein in Flanderns Auen und Fluren zum Start in den Juni und sorgte bereits vor den ersten Gigs für hochsommerliche Temperaturen, dafür war das gebotene Tagesprogramm beim Veranstaltungs-Finish umso durchwachsener. Den Weckruf zur letzten Runde bespielte das Trio Le Temps Du Loup aus Madrid mit ihrer Interpretation des melodischen Postmetal/Postrock-Crossover, mit ordentlichem Druck-Volumen und variantenreichen Tempi-Wechseln. Den instrumentalen Flow der Spanier hat man in der Form im großen Zelt sicher nicht zum ersten Mal gehört, zu überzeugen wusste die tonale Druckbetankung aufgrund grundsolide durchexerzierter Metal-Riffs, einem satten Klangbild und einhergehender, überwältigender Wucht nichtsdestotrotz.
Im Wald wartete als Opener für den finalen Reigen in der Natur mit Summit eine weitere spannende, noch weithin unbekannte belgische Instrumental-Band der jungen Generation, neben dunklen Postmetal-Riffs und energischen Gitarrenwänden glänzte das Quartett aus Gent in der Nummer „Icarus“ mit unerwartetem wie feinem Desert-Rock-Flow im Mittelteil des Stücks, das sich später zur euphorischen Postrock-Hymne aufschwingen sollte. Dem „Ethereal rock for body and soul“ der vier jungen Musiker bleibt für die Zukunft zu wünschen, dass er über die regionalen Grenzen Ostflanderns hinaus seine aufmerksame Hörerschaft findet.
In anderen Erdteilen, im asiatischen Raum bekannt sind bereits Paint The Sky Red, die Formation aus Singapur überzeugte im ersten Teil ihrer Aufführung mit angenehm gleitenden, tiefenentspanntem Gitarren-Flow, der zur repetitiven Ambient- und Trance-Hypnose neigte, mit Fortgang des Konzerts untermauerte die vierköpfige Combo eindrucksvoll, dass ihr die vehementere Gangart im Uptempo-Drive mindestens genauso leicht von der Hand geht. Sehr deutliche Ansage zum Thema Raubkopien im Übrigen auf der Bandcamp-Seite der Band, spread the word: „In a world of digital piracy which heavily affects independent bands like us, it speaks volumes if you choose to purchase our music in the best manner and to listen to it on vinyl which we guarantee will be the most immersive experience you can get from our music.“
Die belgische Avantgarde-Perkussionistin Karen Willems ist stets ein gern gesehener Gast auf der dunk!-Bühne, 2016 mit ihrem Projekt Inwolves, 2017 zusammen mit dem kanadischen Musiker Aidan Baker, und auch in diesem Jahr sollte mit ihrem Landsmann Jean D.L. ein unkonventioneller Gitarrist an ihrer Seite stehen. Kennern der belgischen Experimental-Szene war klar: Damit war freie Improvisation als Barriere-freies und Grenzen-sprengendes Motto des Auftritts angezeigt. Ulrich Stock zitierte in einem „Zeit“-Artikel über den legendären Gitarristen Fred Frith vor kurzem den amerikanischen Jazz-Saxophonisten Steve Lacy, der den Unterschied zwischen Komposition und Improvisation in 15 Sekunden erklären sollte und das Stakkato-schwadronierend auch schaffte: „Der-Unterschied-zwischen-Komposition-und-Improvisation-in-15-Sekunden-ist-wenn-man-eine-15-sekündige-Komposition-zu-schreiben-hat-kann-man-sich-dafür-so-viel-Zeit-nehmen-wie-man-möchte-und-wenn-man-eine-15-minütige-Improvisation-spielen-soll-hat-man-dafür-15-Sekunden“ – exakt derart spontan gestaltete sich auch das Zusammenspiel von E-Gitarren-Saiten und freiem Trommeln, Jean D.L. ließ seine abstrakten Gitarren-Drones völlig losgelöst von jeglicher gängigen Grifftechnik oder Noten-Lehre zum erratischen Takt von Karen Willems lichtern, die Perkussionistin wirbelte im freien Flow über Becken und Trommeln, schmetterte spontan tibetische Jodler in das Rund und untermalte mit Glocken, E-Bows und Klangschalen das freigeistige Musizieren. Der Vortrag des Duos forderte Aufmerksamkeit und belohnte reichlich mit neuen Hörerfahrungen und Horizonterweiterungen.
Der Auftritt des spanischen Prog/Post/Math-Rock-Quartetts Jardin De La Croix auf großer Bühne fiel notgedrungen dem Essenfassen zum Opfer, den folgenden Set im Wald bespielte die amerikanische Band Shy, Low aus Richmond/Virginia. Gitarrist Gregg Peterson war bereits im Jahr zuvor mit der US-Band Au Revoir beim Festival zugange, zusammen mit seiner Stammformation brachte er bei seiner Rückkehr frischen Wind in die Gitarren-dominierte Postrock-Landschaft. Im Bühnengebaren einer hart ackernden und extrovertiert agierenden Speed-Metal-Band drückten die Musiker schwer nach vorwärts gewandt ihre harten Riffs und brachialen Rhythmus-Anschläge durch die in der Lautstärke nach oben gefahrenen Boxen, die Postmetal-Wucht konterten sie selbst geschickt mit hymnischem, erhebendem Flow aus, heller Wohlklang und finsteres Dröhnen bedingten sich wie Licht und Schatten. Mit ihrem intensiven, emotional ausufernden Set und ihrem unverstellten, authentischen Auftreten bereicherte die Band die Riege der klassisch besetzten Postrock-Bands ungemein, es braucht nicht immer meterhoch aufgeschichtete Soundwände – Riff-dominiertes, straightes Abrocken kann so simpel, effektiv wie erfrischend sein im Postrock und weit aus der Masse herausragen lassen. Shy, Low lieferten mit dieser Rezeptur einen schwer begeisternden Auftritt und eines der unzweifelhaften Festival-Highlights.
Böse Zungen unkten im Vorfeld, dass zum Auftritt der französischen Band Silent Whale Becomes A Dream vermutlich große Teile des Publikums im Zelt einfach sanft entschlummern würden, ob das so stattfand, müssen die beurteilen, die dabei waren, von der Ferne vernommen war der entschleunigte Postrock-Sound mit sorgfältig getragener Langsamkeit und gedehnt anschwellender, entwickelter Intensität hin zum erlösenden Höhepunkt eine angenehme Nachmittags-Beschallung des Festival-Treibens und vor Ort erlebt vermutlich eine ergreifend emotionale Konzert-Erfahrung.
Das war ohne Zweifel auch der Auftritt der chinesischen Band Zhaoze 沼泽 auf der Waldbühne. Die Formation aus der südchinesischen Millionenstadt Guangzhou begeisterte bereits im Vorjahr im großen Zelt mit ihrer ureigenen Spielart des Postrock-Crossovers unter Verwendung traditioneller chinesischer Instrumente. Im Rahmen ihres Aufenthalts nahm das Quartett seinerzeit im Nachgang auf der Anlage der Waldbühne das aktuelle Album „Birds Contending 争鸣“ auf, ein 40-Minuten-Stück, das beim diesjährigen Gig in Gänze am Ort seiner Entstehung zum konzertanten Vortrag gebracht wurde. Die Band und allen voran Leader Hoyliang spielten sich in einen wahren Rausch, mit klassischer Postrock-Linie aus Bass/Gitarre/Drums und den einmal mehr faszinierenden Klängen der elektrisch verstärkten, traditionellen Griffbrett-Zither Guqin, die Meister Hoyliang neben konventionellem Spiel zuweilen mit dem Geigenbogen malträtierte. Daneben bezauberte er mit seinem Langflöten-Spiel in fernöstlichen Ambient-Folk-Variationen, einem wunderschönen, ergreifenden Soundflow, den er im Verbund mit der Band in die cineastische Breitband-Epik der instrumentalen, fernöstlich angehauchten Rockmusik ausufern ließ. Die Klangvielfalt der vier Chinesen kannte offensichtlich keine Grenzen, die Musiker scheuten sich nicht, selbst experimentelle Ausbrüche und Noise-Rock-artige Schlaglichter in den Wohlklang einzuflechten. Wo das Werk in der Studio-Aufnahme in getragener Euphorie zum Ende hin dem Licht in den Baumspitzen (und den dort nistenden Vögeln aus dem Album-Titel) entgegen strebt, trieben Zhaoze 沼泽 das Finale von „Birds Contending 争鸣“ live im minutenlangen Stakkato intensiv gesteigert der explodierenden Klimax entgegen. Mehr euphorisiertes Glücksgefühl ob des dargebotenen Auftritts war beim dunk! 2019 zu keiner Zeit, nirgends. Unzweifelhafte #dnk19-Kulturforums-#1 im diesjährigen Ranking. Hinsichtlich Intensität, Spielfreude, bunt lichternder, Ohren-schmeichelnder Klangvielfalt und experimenteller Wucht war der Auftritt allenfalls mit dem sensationellen Wald-Gig von Bart Desmet und seiner Postrock-Formation Barst beim dunk! 2017 vergleichbar, und so war es nur angezeigt, dass es für diesen herausragenden konzertanten Großwurf von Zhaoze 沼泽 minutenlange, hochverdiente Standing Ovations gab. Im Wald, da sind nicht nur die Räuber, da war beim #dnk19 auch die musikalische Exzellenz daheim…
Nach dem Auftritt von Zhaoze 沼泽 ging nicht mehr viel, da war die Luft hinsichtlich weiterem, aufmerksamem Konzert-Besuch einfach raus, die Nummer mit dem Aufhören, wenn’s am Schönsten ist, bewahrheitete sich einmal mehr. Was sollte nach einem derart überwältigenden Aufführung noch an Steigerung kommen?
Der Auftritt der wiedervereinigten US-Postrocker Gifts From Enola mit ihrer von scharfen Gitarrenriffs, in den Postmetal reichenden Spielart hätte unter anderen Umständen sicher mehr Aufmerksamkeit verdient, wie auch das bombastische, extrovertierte Experimentieren mit Progressive- und Noise-Sounds der australischen PR-Vertreter von Tangled Thoghts Of Leaving.
Freude kam noch einmal zum Auftritt der UK-Formation Bossk aus Kent auf, die Band präsentierte bei ihrem dunk!-Debüt eine facettenreiche Postrock-Mixtur aus nüchterner, wuchtiger Postmetal-Härte, herrlichen Trance-Elegien und psychedelischen Halluzinationen für die Freunde der Progressive- und Space-Trips. Damit entzog sich die Combo jeglicher Schubladen-Kategorisierung, wusste mit einem voluminösen, komplexen Klangbild völlig zu überzeugen und ließ damit die Bäume im Wald, das Publikum und die restliche Fauna ein letztes Mal erbeben.
Der Würdigung des allerletzten Konzerts vor Bandauflösung der britischen Formation Her Name Is Calla mögen sich andere in Ausführlichkeit hingeben, der saumselig-dick aufgetragene Weltschmerz-Postfolk beim finalen Gig im Wald mochte so wenig konvenieren wie der Shoegazer-Kitsch der Festival-beschließenden Headliner von Alcest, die Franzosen waren in der Funktion mindestens so diskussionswürdig wie die Hauptacts der Tage zuvor. Anyway, die Geschmäcker und Vorlieben sind bekanntlich verschieden, und selbst bei einigen Streich-Ergebnissen im Line-Up konnte sich in den drei Festival-Tagen niemand über mangelnde Vielfalt, exzellente Konzert-Beschallung, viele spannende Neuentdeckungen, die erwartet guten Auftritte alter Helden und die ein oder andere freudige Überraschung beschweren.
Sowenig, wie über die einmal mehr hervorragende Organisation, ein friedliches, angenehmes, fachkundiges und zumeist hochkonzentriertes Publikum, eine freundliche und zugewandte Festival-Crew, bestes Catering, einen grandiosen Job der Leute hinter den Soundboards und Lichtreglern – und selbst der Verantwortliche hinter den Wolken hat wieder mitgespielt, irgendeiner da oben muss ein Faible für dieses Festival haben, so soll es sein: Null Niederschlag, ein Traum.
Very special thanks an Joni Sadler von Constellation Records und Wout Lievens von der Festival-Organisation.
Eine Frage bleibt bis auf weiteres jedoch ungeklärt: Wo war Festival-Man? Sein Luftgitarren-Spiel wurde schmerzlich vermisst. War er auf einer anderen Veranstaltung zugange? Ist er hoffentlich wohlauf? Sachdienliche Hinweise nimmt jede Kulturforums-Diensstelle entgegen. Vielleicht ist er beim nächsten Mal wieder dabei, denn: Nach dem Festival ist vor dem Festival – das dunk! findet im kommenden Jahr von 21. bis 23. Mai 2020 an gewohnter Stelle statt, hinterm Vereinsgelände, in Ostflanderns grünen Auen und Fluren. Man darf schon gespannt sein. Wie die Luftgitarren-Saiten vom Festival-Man…
Osorezan + Ingrina @ Muziekcentrum Kinky Star, Gent, Belgien, 2019-05-29
Die traditionell zum Himmelfahrts-Fest anstehende Auswärts-Dienstreise zu den dreitägigen Postrock-Festspielen beim dunk!-Festival in Zottegem startete wie im Jahr zuvor mit einem Besuch in Ostflanderns Schmuckstück und Regierungssitz Gent, neben altehrwürdigen, imposanten Sakral-, Verwaltungs- und Wehr-Bauten im prachtvollen Stadtzentrum, dem alljährlichen Food-Truck-Festival und der einhergehenden Verköstigung vollmundiger belgischer Brauerei-Erzeugnisse wurde am vergangenen Donnerstag-Abend thematisch maßgeschneidert passend als Ouvertüre ein kostenfreies Dreierpack aus Postrock, Postmetal und Sludge in zentralster Stadtlage geboten. Das No Name Collective, eine Non-Profit-Organisation zur Promotion alternativer Rockmusik, lud ins Muziekcentrum Kinky Star, einen kleinen, feinen Indie-Club, von dem die Münchner Szenerie ob der moderaten Bierpreise und vor allem aufgrund der nachbarschaftlichen Toleranz hinsichtlich Lärmerei der Musikanten wie des ungezwungenen und vor allem unreglementierten Kommunizierens des Publikums vor dem Lokal bei Getränk und Zigarette selbst zu vorgerückter Stunde nur träumen kann.
Den launigen Abend eröffnete die Formation Osorezan aus Santiago de Chile mit ihrer Europa-Premiere, der in weniger als 24 Stunden der zweite Streich beim dunk!-Fest folgen sollte, somit tatsächlich ein überaus stimmiges Warm-Up zum anstehenden Gipfeltreffen im nahe gelegenen flämischen Hinterland. Die siebenköpfige Band orientierte sich in ihrem opulent angelegten Klangbild konzeptionell an großen Vorbildern wie dem kanadischen Ausnahme-Kollektiv Godspeed You! Black Emperor, ohne ins Plagiat zu verfallen oder an irgendeiner Stelle anbiedernd zu agieren. Wie die experimentelle Postrock-Institution aus Montreal lieben die jungen Chilenen die umfänglich ausformulierten, großen, oft weit über zehn Minuten zelebrierten Klang-Entwürfe und Sound-Monumente, die sich mit Violinen- und Keyboard-Instrumentierung und einem zweiten Perkussionisten aus den zusehends enger werdenden Gitarren-Wänden des Postrock befreien. Die ausufernden, vorwiegend vom selbst-betitelten 2018er-Band-Debüt stammenden Kompositionen zogen sich von einer düsteren, getragenen Stimmung kommend selbst aus dem Sumpf der depressiven Schwermut, hinein ins erlösende, explodierende Licht der Euphorie, in einem voluminösen, nahezu orchestralen Ausleben und Grenzen-Sprengen der instrumentalen Wucht. Die ausgedehnten Klangreisen von Osorezan sind ein mutiges und wiederholt gelungenes Unterfangen, mehrschichtig von dunkler Schwere und Melancholie bis hin zu hymnischem Überborden ausholend, den Tönen ihren freien Lauf lassend und Raum gebend. Der geheimnisvolle, surreale Charakter dieses höchst gelungenen Experiments aus Postrock, Ambient, Neoklassik und Drone wurde beim Kinky-Star-Auftritt von bewegten Bildern aus alten Schwarz-Weiß-Filmen unterstrichen, die beglückenden Momente der großformatig angelegten Soundscapes erschütterte die Band final mit einem minutenlang anhaltenden, ausufernden und vor allem massiv und atonal lärmenden Feedback- und Noise-Gewitter ohne jegliches Harmonieren und Zusammenspiel, von sämtlichen Schranken und Konventionen befreiter Free Jazz ohne Jazz, wenn man so will. Sollte sich in ähnlicher Weise wie bereits erwähnt tags darauf auf großer Zelt-Bühne beim dunk!-Reigen wiederholen, aufgrund der Darbietung der Südamerikaner im Jeugd- en Muziekcentrum zu Gent durfte da der Vorfreude ungezügelt Ausdruck verliehen werden.
Die Luft aus dem Glas mit diesem schweineleckeren belgischen IPA gelassen, und sofort ging es weiter mit lautstarker Vollbedienung, den zweiten Gig des Abends bespielte die französische Band Ingrina, die ihre schweren Geschütze üblicherweise mit dem satten Sound von drei Gitarren und zwei Drum-Kits auffährt, der zusätzliche Trommler musste dem munteren Treiben an dem Abend fern bleiben, die fehlende Instrumentierung war offensichtlich den beengten Platzverhältnissen der kleinen Club-Bühne geschuldet. Auch ohne zusätzliche Takt-Gebung konfrontierte die Combo das anwesende Auditorium mit einem auf die Hörerschaft einstürmenden Orkan aus Postmetal-, Doom- und Postcore-Druck und Sludge-Härte, in dem sich trotz Gehör-schädigendem Lärm immer wieder Momente erhabener Shoegazer-Schönheit und filigran angestimmte Math-Rock-Finessen herauskristallisierten. Vereinzelte Schrei-Attacken und Gesangs-Einlagen verzerrten den instrumentalen Großwurf, in dem die Band ihre nachdenklichen, melancholischen Stimmungen in finster dräuenden, kraftvollen Kompositionen mit wiederholten Wendungen hin zum wütenden, erschüttenden Ausbruch tonal umsetze. Die Musiker von Ingrina präsentierten sich an diesem Abend wie die Kollegen aus Chile als hervorragend agierende, massiv zupackende und völlig überzeugende Einheit, die in der Form nicht weniger Bereicherung für das kommende Festival in Zottegem gewesen wäre.
Das Beiwohnen und die Würdigung des dritten, den Abend beschließenden Auftritts des belgischen Trios OLDD WVRMS fiel dem vehement zunehmenden Bedürfnis nach Schlaf zum Opfer, das Kriechen aus den Federn um vier Uhr morgens und eine anschließende neunstündige Autofahrt forderten letztendlich ihren Tribut. Eine eingehende Auseinandersetzung mit dem dunklen, Gesangs-freien, experimentellen Doom/Sludge-Metal-Gewerk der drei Wallonen aus Tenneville etwa über Bandcamp scheint im Nachgang indes allemal ein lohnendes Unterfangen zu sein.
Reingehört (540): Kludde
Kludde – In de Kwelm (2019, Consouling Sounds)
Kludde ist eine fiktive Figur aus der flämischen Folklore, ein Quälgeist oder Dämon, der vielerlei Gestalten annehmen kann. Seit gut fünfzehn Jahren erscheint er sporadisch in diversen Inkarnationen als vierköpfiges Black-Metal-Monster vornehmlich in der belgischen Stadt Aalst, die Bühnen-Namen der vier aktuellen Musikanten – Cerulean, Snoodaert, Basstaerd & Vellekläsjer – klingen selbst nach Fabelwesen aus der Fantasy-Schwarte. Mystisch bleibt es in den Texten von Nummern wie „Schabouwelijke Praktijken II – De Commerçant“ oder „Schramoeille“ vom jüngst erschienenen Longplayer „In de Kwelm“ – im Mindesten voll umfänglich für alle, die des belgischen Niederländisch nicht mächtig sind. In den Klangwelten des schwarzen Metal im geschmeidigen Crossover zum dunklen Sludge sprechen Kludde hingegen eine über die Grenzen Ostflanderns hinaus verständliche Sprache, der grölende Kehlgesang und der stramme Instrumenten-Anschlag des Quartetts brauchen keine internationalen Vergleiche scheuen. Das direkte und aggressive Draufhauen flankieren bisweilen schemenhaft durchschimmernde, angedeutete Melodien und flotter Hardcore-Punk-Drive, was die metallene Härte betrifft, wird damit alles nicht so heiß gegessen, wie es im brodelnden Höllenschlund eingekocht wird. Country-Ikone Johnny Cash hat in den Achtzigern die irgendwie ziemlich unhumorige Nummer „Heavy Metal (Don’t Mean Rock And Roll To Me)“ geträllert (dabei war er zeitlebens selbst ein „Man in Black“ und in seinen alten Tagen Auftraggeber für Metal-Produzent Rick Rubin), den ignoranten Text aus der Feder der Herren Clark/McBride widerlegen Kludde mit ihren acht aktuell veröffentlichten Nummern erschöpfend und jegliche Widerrede platt walzend, wobei das über zehn-minütige Finale „De Laatste Reis“ als eingangs zäher Doom-Brei mit hintenraus gesteigerter Speed-Variante und finsterem Drone-Abgang etwas aus dem Konzept-Rahmen des Albums fällt – Diversity Rules, sowieso, da ist der Dämon tolerant, die Spielarten des Metal waren schon immer (m/w/d), mindestens…
„In de Kwelm“ ist seit vergangenem Freitag über das belgische Experimental/Postrock/Metal-Label Consouling Sounds aus Gent am Markt.
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