„Trying is the problem; you’re trying to get somewhere as if you’re not somewhere.“
Siskiyou – Not Somewhere (2019, Constellation Records)
Im Folk ist längst nicht mehr alles Gold, was glänzt, zu vieles an austauschbaren Belanglosigkeiten, urfadem Geplätscher und ungenießbar ätherischen, manierierten Weibsen-Gesängen ist da in letzter Zeit als das nächste Wunderwerk angepriesen worden, Kroppzeug, das sich bei genauerem Hinhören dann doch nur als hübsch aufgebrezelte Mogelpackung und folkloristisch verbrämte Ware von der Stange herausstellte. Umso dankbarer darf man sein, wenn ab und an aus dem Dunstkreis verlässlicher Größen das tatsächlich Hörenswerte aus dem weiten Feld des Indie- und Alternative-Folk hereingeschneit kommt. Die kanadische Formation Great Lake Swimmers aus Toronto ist dahingehend seit jeher ein Quell der Freude, und auch bei den ehemaligen Weggefährten der Band lohnt eine eingehende Auseinandersetzung mit den jeweils neuesten Veröffentlichungen nach wie vor über die Maßen zwecks erbauendem Wohlklang-Konsum. War im vergangenen Jahr bei der prächtigen Experimental-/Indie-Pop-Wundertüte „In Another Life“ von Sandro Perri so, ist heuer beim demnächst erscheinenden aktuellen Album „Not Somewhere“ von Siskiyou nicht anders, wie das feine Teil von Sandro Perri für die geneigte Hörerschaft vom verehrten Constellation-Label in Montreal auf den Weg gebracht.
Hinter dem Pseudonym Siskiyou verbirgt sich Colin Huebert, der ehemalige Songwriter und Drummer der Great Lake Swimmers, der 2008 die Band verließ, um sich nach einem zwischenzeitlichen Engagement als Farm-Arbeiter dem eigenen Musik-Projekt zu widmen. Auf „Not Somewhere“ kehrt Huebert nach vierjähriger Auszeit zu den Wurzelns des selbstbetitelten 2010er-Debütalbums zurück. In einer Auswahl an Songs, zu denen er die meisten Instrumente selbst einspielte, bezaubert der Bandleader im Solo-Outfit mit seiner LoFi-Variante des Indie-Folk, in der ihm eine wunderbar ausgewogene Balance zwischen grandiosem Songwriting und einer eigenartigen, kaum greifbaren Fragilität gelingt.
Die ursprünglich als Home Recordings aufgenommenen, spartanisch arrangierten Nummern wurden im Nachgang von befreundeten Musikern unterstützt mit diskreten Streicher- und Bläser-Untermalungen in eine dezent opulentere, finale Form gebracht. Ein Zyklus von zwölf Songs, der von großen Gefühlen, ergreifenden Momenten und vor allem herrlich ins Ohr schmeichelnden Melodien durchwirkt ist, dabei unaufgeregt vorgetragen, schlicht konzipiert und instrumentiert, immer mit einem diffusen Hang zum Unfertigen, zum erfrischend Spontanen, mit Mut zu dissonanten Brüchen, zum Stillstand, zu abseitigen Spielereien wie eingestreuten Spoken-Word-Samplings aus Film-Monologen. Man möchte von DIY und LoFi in Formvollendung schwärmen, würde sich diese Begriffskombination nicht derart beißen.
Die entspannte, nonchalante Variante von Colin Hueberts Gesang, die oft ins Melancholische und im Extrem ins Resignative zu kippen droht, erinnert nicht selten an den Vortrag von Silver-Jews-Vorturner David Berman, bisweilen begnügt er sich mit einfachem Sprechen zum Mitteilen seiner Gedanken. In den intensiveren Nummern schwankt die Stimmung emotional zwischen sich ausbreitender Verzweiflung und hymnischer Euphorie, die der Songwriter aus Toronto jeweils nur schwer zu bändigen weiß. Von erhabener Schönheit sind die intimen Momente, in denen Huebert völlig geerdet ganz bei sich und seiner Kunst ist, hier schwebt sein Singen hinüber in ein zartes, vertrauliches Flüstern und die Akustik-Gitarren-begleiteten Lagerfeuer-Songs wandeln sich vom halbwegs solide Robusten zur filigranen Zerbrechlichkeit. Die Nummern atmen mehr als nur eine Ahnung von der Vergänglichkeit, vom Gefangensein in der ausweglosen Situation, vom Zweifel an der Sinnhaftigkeit jeglichen Strebens, dabei versinken sie nicht im schwarzen Abgrund der morbiden und finsteren Gedanken, auch das eine Gratwanderung, die gemeistert werden will. „Not Somewhere“ ist LoFi/Experimental/Indie-Pop in folkloristischer Pracht, die nicht beim ersten und auch nicht beim zweiten oder dritten Durchlauf des Tonträgers vollends zu begreifen ist, mit Ecken, Kanten, Tiefgang, Varianz – watch out, Mainstream-Tralala-Hanseln: Platte des Jahres in der Kategorie Folk, any styles, so far. „Not Somewhere“ erscheint am 17. Mai beim kanadischen Indie-Label Constellation Records.
(***** ½)
(01) And So I Watch You From Afar @ Ampere, 2015-05-23
War bereits im Frühjahr offensichtlich, dass der Auftritt schwer zu toppen sein wird. Die nordirische Band, die auf Tonträgern seltsamerweise eher weniger überzeugt, zog konzertant alle Register des Post- und Prog-Rock. Hat die Nase natürlich auch deshalb hauchdünn vorne, weil der Robert, der Anton, der Wojciech und ich unverhofft in einer Doku von ‚Delayed Cinema!‘ über die Band zu Kurzauftritten kamen. Noch nicht Hollywood, aber immerhin… ;-)
(02) Godspeed You! Black Emperor @ Freiheiz, München, 2015-04-09
Nochmal sechs Sterne für die Gattung Postrock: Weit über 10 Jahre haben wir in München warten müssen, bis die kanadische Speerspitze des Genres sich wieder die Ehre gab, im April wurde die elendigliche Warterei fürstlich belohnt.
(03) Great Lake Swimmers @ Hauskonzerte, München, 2015-10-04
Kanada, die zweite: Mehr Holzveranda-/Lagerfeuer-Seeligkeit geht nicht als in der Live-Präsentation des Rundumglücklich-Folk-Pakets der Great Lake Swimmers aus Toronto/Ontario.
(04) Hochzeitskapelle + Thisell @ Maximiliananlagen, München, 2015-08-03
Mundpropaganda-Konzert, auf die Beine gestellt von innen.aussen.raum: Ein perfekter Sommerabend und vielleicht das schönste Open Air seit Jahren, dank herrlichem Sommerwetter, einem wunderbaren Flecken Grün an der Isar, einigen gekühlten Bieren und zwei Musik-Kapellen der Sonderklasse: der Notwist-/Zwirbeldirn-Ableger Hochzeitskapelle und der schwedische Ausnahme-Folker Peter Thisell mit seinen hochsympathischen Begleitern. Die musikalische Krönung eines Jahrhundert-Sommers, nicht weniger.
(08) Steve Wynn @ Südstadt, München, 2015-02-28
Die Dream-Syndicate-Legende und eine Gitarre, mehr braucht es nicht für einen rundum gelungenen Konzert-Abend im ‚Südstadt‘. Und wenn dann auch noch der Publikumswunsch Gehör findet…
(13) Sleaford Mods @ Hansa39, München, 2015-04-28
Der hingerotzte Elektro-Punk aus Nottingham hat im Vorfeld nicht zuviel versprochen. Andrew Fearn und Jason Williamson halten die Fahne der Arbeiterklasse hoch und das Genre am Leben.
(18) Ryan Lee Crosby + Thisell @ Klienicum Hauskonzerte, Ampfing, 2015-03-16
Eike vom Klienicum-Blog und seine bezaubernde Frau Katrin haben in die gute Stube eingeladen und nebst exzellenter Verköstigung einen feinen musikalischen Doppelpack präsentiert: den schwedischen Folker Thisell, den wir im Sommer nochmals im Freien genießen durften, siehe oben, sowie den amerikanischen Blues-Musiker Ryan Lee Crosby, der den depperten Spruch widerlegte, nach dem der weiße Mann keinen Blues singen könne…
(20) Eric Pfeil @ Südstadt, München, 2015-06-16
Kaum jemand beherrscht die mit feinsinnigen Pointen gewürzte deutsche Liedermacherei lakonisch-relaxter als der Rheinländer Eric Pfeil.
Das Schlusswort zum Konzertjahr 2015 soll dem Mafioso gehören, der vor kurzem seinen 100. Geburtstag feierte (wo auch immer) – „It was a very good year!“:
Was für eine Eröffnung: die Münchner Hauskonzerte-Veranstalter luden zum Auftakt ihres einwöchigen Deeper Down Festivals zu einem fulminanten Doppel-Konzert in ein ehemaliges Posthallengebäude somewhere in Munich, in angenehmster, toll aufgemachter Umgebung inklusive origineller Bühnen-Deko, lecker Küche und Giesinger-Erhellung-Catering (100 Punkte allein dafür) bestritt den ersten Teil des Abends eine junge Hamburger Songwriterin mit Namen Lùisa, jede/r, der die erst 22-jährige Lady aus dem hohen Norden vorab nicht kannte, dürfte bei ihrem direkt zupackenden, oft gar hymnischen Vortrag angenehmst überrascht worden sein, mit der Energie von Straßenmusikern und mit dezentem Einsatz von Gitarren-/Elektro-Drum- und Gesangs-Loops breitete Lùisa einen wohltönenden Folk-Klangteppich aus, der den Rahmen für ihre außergewöhnliche Sangeskunst bildete, die die leisen Töne ebenso ergreifend traf wie den stimmlichen Ausbruch, der in ihrer emotional-brüchigen Tonlage mitunter an den Gesang der französischen Indie-Sängerin SoKo gemahnte, was in dem Kontext weiß Gott nicht die schlechteste Referenz ist.
Langanhaltender, die Künstlerin überwältigender, von Herzen kommender Applaus legte Zeugnis ab von der Güte des Solokonzerts, und allein die Tatsache, dass das Vorspielen Zugaben-mäßig in die Verlängerung ging, war Beleg dafür, dass bei der Darbietung der jungen Hamburgerin kaum jemand im Saal an lästiges Vorprogramm denken durfte.
Überlassen wir der Künstlerin das Fazit in ihren eigenen unverblümten Worten: „Meine Fresse!“ ;-)
(*****)
Nachdem solistisch an dem Abend mächtig vorgelegt wurde, kamen die Great Lake Swimmers aus Toronto/Kanada nicht umhin, noch einen draufzusetzen. Das Quintett, das in ihrer nordamerikanischen Heimat regelmäßig in mittelgroßen Hallen vor etwa 5000 Zuhörern spielt, fühlte sich auch in kleiner, intimerer Runde sichtlich wohl und beglückte die aufmerksamen Zuhörer mit ihrer Spielart des Sixties-Folk, der hinsichtlich der mystischen Songtexte die Naturverbundenheit ihres Sängers/Gitarristen Tony Dekker widerspiegelt, der Sänger und Kopf der Band benannte die Band zu Ehren der Marathon-Schwimmer, die ihre sportlichen Höchstleistungen beim Durchpflügen der kanadischen Great Lakes vollbringen.
Die tief ins Herz gehende, fragile, gefangennehmende Akustikmusik der Combo und der gefühlvolle Gesang Dekkers wurde um Elemente aus dem Irish Folk ergänzt durch das wunderbare Spiel der Geigerin Miranda Mulholland, die nicht nur optisch Assoziationen an die grüne Insel weckte.
Diese mitunter unfassbar schönen, nicht durch Worte zu beschreibenden Momente in der Musik zauberten die Great Lake Swimmers langanhaltend und vermehrt in den stimmungsvoll beleuchteten Saal, dessen Illumination ihr Übriges zum Rundum-Wohlgefühl an diesem Konzertabend beitrug. Die Band, die mit ihrer letzten Veröffentlichung ‚A Forest Of Arms‘ (Nettwerk, 2015) in einigen Songs nicht zur Gänze überzeugen konnte, zeigt sich in der Live-Präsentation ihres melancholischen Songmaterials ganz auf der Höhe, auch auf Konserve weniger anrührende Songs entfalteten im konzertanten Vortrag eine ungeahnte Pracht.
Den grandiosen Abend beschlossen die Kanadier in Reminiszenz an ihren großen Landsmann mit einer ehrfürchtigen Version des Leonard-Cohen-Klassikers „Hey, That’s No Way To Say Goodbye“ vom 1967er-Folk-Meilenstein ‚Songs Of Leonard Cohen‘ (Columbia), und allerspätestens zu dem Zeitpunkt dürften beim beseelt-glücklichen Publikum keine Wünsche mehr unbefriedigt geblieben sein. Ganz ganz großes Gefühls-Kino!
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