Jacques Brel

Soundtrack des Tages (197): Amsterdamer Hafenrundfahrt

Palmsonntag-Beschallung mit einem belgischen Chanson-Klassiker und einer Auswahl seiner Mutationen: Jacques Brel nahm den Song „Amsterdam“ 1964 live bei einem Konzert im Pariser Olympia auf, eine Studio-Aufnahme kam für ihn nicht in Frage, weil er das Lied – kaum nachvollziehbar – nicht mochte. Immerhin: der Inbrunst seines Vortrags hat das keinen Abbruch getan.
In späteren Jahren trieben sich zahlreiche weitere Sangeskünstler mit den Matrosen im Rotlichtviertel der holländischen Hauptstadt herum, Thin White Duke David Bowie etwa, 1973 exzellent auf der B-Seite der Single „Sorrow“, zu finden auf der 1982er-Raritäten-/Outtakes-Compilation „Bowie Rare“.
Oder der irische ex-Virgin-Prunes-Crooner und Bono-Spezi Gavin Friday, 1989 passenderweise im niederländischen Fernsehen, zur Promotion seines Albums „Each Man Kills The Thing He Loves“, auf dem sich die Interpretation „Next“ der Brel-Nummer „Au Suivant“ findet.
Am wenigsten hätte man wohl das Scharwenzeln und Rumhuren im Hafen vom ewigen Schwiegermütter-Traum und Country-Easy-Listening-Schmalzer Henry John Deutschendorf jr. aka John Denver erwartet, das Musik-Business treibt hin und wieder seltsame Blüten…

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Reingehört (417): Diamanda Galás

„Guttural and operatic, baleful and inconsolable, spiritual and earthy, polyglot and wordless, nuanced and unhinged.“
(New York Times)

Diamanda Galás – At Saint Thomas The Apostle Harlem (2017, Intravenal Sound Operations)

Schon etliche Monate abgehangen, aber unbedingt nach wie vor eine Erwähnung wert: Diamanda Galás live und solo aufgezeichnet im Mai 2016 in einer Kirche in Harlem/Manhattan, acht intensive Vorträge, von der Künstlerin unter dem thematischen Aufhänger „Death Songs“ in Reminiszenz an die Vergänglichkeit arrangiert. Für leichte Kost war die extrovertierte Sängerin aus Kalifornien mit den griechischen Wurzeln und einem Faible für düstere literarische wie musikalische Auswüchse und entsprechend schrillem Gothic-Outfit noch nie zuständig, schwergewichtige, den Schwermut fördernde Themen wie AIDS, Geisteskrankheit oder – wie auf der 1994er-Kollaboration „The Sporting Life“ mit dem ex-Led-Zeppelin-Musiker John Paul Jones – Prostitution bestimmten inhaltlich stets das Schaffen der Avantgarde-Musikerin.
In der Eröffnungsnummer „Verrá la more e avrá i tuoi occhi“ der Konzert-Aufnahmen vom denkwürdigen Abend in der Church of Saint Thomas The Apostle, der Vertonung eines Textes des italienischen Dichters Cesare Pavese, huldigt Diamanda Galás ihrer klassischen Ausbildung und trägt mit ausgeprägt wohlklingendem, voluminösem Sopran und virtuoser, akzentuierter Flügel-Begleitung Ohren-schmeichelnd im Stile alter Kunstlieder und großer Opern-Arien vor.
Nach diesen knapp neun Minuten zum Einstieg ist die reine Wohlfühl-Nummer speziell auch für Freunde der klassischen Musik im weiteren Fortgang der ergreifenden Aufnahmen abgehandelt und ad acta gelegt, der solistische Klavieranschlag wird experimenteller im Geiste der Neo-Klassik und verirrt sich punktuell auch in Gefilde der Piano-Blues-Phrasierungen und der freien Jazz-Improvisation, die Stimm-Akrobatik der Galás präsentiert sich – für langjährige Freunde und Verehrer der expliziten Tonkunst der Sängerin nicht weiter verwunderlich – weitaus facettenreicher und mitunter verstörender im Vortrag, der intensive Gesang passiert neben Himmelspforten eruptiv wiederholt Duzende von Höllentoren, sich in tonalen wie atonalen Spasmen verkrampfend, knurrend, anklagend, die Verzweiflung und den Abscheu herausspeiend, sich im Vortrag stimmlich verrenkend und mit einem Organ nicht von dieser Welt den Schmutz, das Abartige und Dämonische offenbarend, in der verträglicheren Variante dem rauen Gesangsstil einer übelgelaunten, boshaften Marianne Faithfull nahe, in vielen befremdlichen Ausprägungen im Ausloten der Möglichkeiten der menschlichen Stimme dem sich bahnbrechenden Wahnsinn Ausdruck verleihend.
Diamanda Galás ergeht sich im Vortrag in allen möglichen Sprachen, in „Die Stunde kommt“, einem Text des Lyrikers Ferdinand Freiligrath aus dem 19. Jahrhundert auch irgendwie in gebrochenem Deutsch, dessen abgehackte Akzentuierung sich wunderbar zu ihrem charakteristischen Gesangsstil fügt. In der umwerfenden Interpretation des Jacques-Brel-Chansons „Amsterdam“ räumt sie vollumfänglich mit dem Verdacht auf, dass die einzig brauchbare Coverversion der Hafen-Ballade von David Bowie stammt.
„At Saint Thomas The Apostle Harlem“ bleibt auch ein knappes Jahr nach Veröffentlichung ein uneingeschränkt faszinierender wie grandioser und zeitloser Konzertmitschnitt einer singulären Ausnahmekünstlerin, bei dem man bei Einspielung gerne selbst vor Ort zugegen gewesen wäre.
(***** – ***** ½)