Auch schon ein paar Wochen am Tresen des Musikalienhändlers Ihres Vertrauens zu erwerben: Der vielbeschäftigte und mit zahlreichen Talenten gesegnete Justin Broadrick hat sich neben dem zuletzt doch etwas lauen Kollaborieren unter seinem Postrock-Pseudonym Jesu mit Mark Kozelek/Sun Kil Moon und diversen anderweitigen Aktivitäten im vergangenen Jahr auf die Zusammenarbeit mit seinem alten Basser-Spezi G.C. Green besonnen und nach drei Jahren ein neues Godflesh-Album eingespielt. Auf „Post Self“ hält sich das hundsgemein-brachiale Metal-Element für die Verhältnisse des britischen Duos weit mehr im Hintergrund als auf den Vorgänger-Alben, selbstredend gibt es auch hier die erwarteten, direkt aus dem Höllenschlund entsprungenen Verzweiflungs-Brüllattacken und die schwer ins Hirn fräsenden Postmetal-/Doom-Gitarrenriffs im Geiste schwarzer Sabbath-Messen, weitaus mehr pflegen die Herrschaften Broadrick und Green jedoch die hohe Schule des Experimentierens in Richtung zentnerschwerer Industrial-Rhythmik, düsterer Noise-Drones, Postpunk-Attacken und einer Art kraut-spaciger, Tonnen-gewichtiger Trance-Ambient-Variante.
„Sind sie zu stark, bist Du zu schwach“ hat der Hustenpastillen-Hersteller Fisherman’s Friend vor gut zwanzig Jahren als Werbeslogan rausgehauen, wie das Lakritz-Zeug aus der englischen Grafschaft Lancashire zum Rachen-Reinigen taugt der tonale Intensiv-Sport des Duos aus Birmingham maximalst zum Gehörgänge-Durchpusten.
Ist jetzt beileibe nix grundlegend Neues und auch kaum ein Großwurf wie seinerzeit das zurecht hochgelobte Meisterwerk „Streetcleaner“, beansprucht aber mit jedem zusätzlichen Durchlauf mehr Platz in den Hirnwindungen, dort, wo die angenehmen Erinnerungen daheim sind, direkt neben dem Ohrensausen…
(**** ½)
Sun Kil Moon & Jesu – 30 Seconds To The Decline Of Planet Earth (2017, Caldo Verde)
Mark Kozelek und Justin Broadrick haben mit ihrem selbstbetitelten Kollaborations-Debüt im vergangenen Jahr eine bezwingende Arbeit aus Post-Metal, Drone-Ambient-Experiment und großer Songwriter-/Free-Folk-Kunst abgeliefert, die in ihrer ausladenden Epik und ihrer tonalen Wucht von nahezu zeitloser Erhabenheit ist, wer ein ähnlich profundes, spannungsgeladenes Meisterwerk in der Wiederholung der Zusammenarbeit des amerikanischen Sun-Kil-Moon-Kopfes und seines britischen Drone-Metal-Sparringspartners erwartet, muss mit einer herben Enttäuschung rechnen. Kozelek zelebriert im Verbund mit Broadrick im Wesentlichen eine Neuauflage sein jüngsten Werks „Common As Light And Love Are Red Valleys Of Blood“: Wie dort bereits geradezu austauschbar vor ein paar Monaten zum Besten gegeben, schwadroniert der kalifornische Songwriter in einer zwischen Abgeklärtheit, Nonchalance und Lamentieren wandelnden Tonlage seine in die Länge gezogenen Endlos-Geschichten über Michael Jackson, Muhammad Ali, die skurrilen Momente des Tour-Lebens und allem möglichem anderem Erwähnenswertem und Belanglosem, was ihm an Gedanken durch den Kopf schießt, getragen von einer Mixtur aus Trip Hop, Ambient, Electronica-Indie, frei fließendem Akustik-Folk und rhythmisch pochendem Trance-Flow, auch diese musikalischen Beigaben erscheinen vertraut vom letzten SKM-Doppel-Album. Einmal in der Machart reicht eigentlich, „Bis repetita non placent“, wie der Lateiner so schön sagt…
(*** ½)
Oceans Are Zeroes – Oceans Are Zeroes (2017, Oceans Are Zeroes)
Junges Quintett aus Boise/Idaho, dass in seinem euphorischen, überbordenden und schwer melodischen Postrock-Ansatz eine gehörige Portion an emotionalen Ausbrüchen und hymnisch-luftigem Gesang zwischen Klagen und Frohlocken dazupackt, die Band jongliert mit dem Genesis-Prog-Rock der Peter-Gabriel-Phase, neoklassizistischen Einschüben und der berauschenden, cineastischen Breitband-Soundwand, wie sie exemplarisch der Mogwai- und Mono-Hörerschaft bestens vertraut ist. Die Mannen um Band-Vorsteher Joseph Lyles halten ab und an einige Elemente zuviel in der Luft, eine klarer konzipierte Marschrichtung und stringenteres stilistisches Abgrenzen hätte dem Debüt-Werk gut zu Gesicht gestanden, trotzdem: brauchbare Ansätze sind zuhauf vorhanden, da könnte was ranwachsen, was aktuell noch nicht in Formvollendung gelungen ist, kann noch werden.
(****)
„That’s fantastic that you’re passionate about cardboard and listening to music on multi colored plastic You’re a collector of rare vinyl, a total fanatic, that’s completely absolutely hip, motherfucking fantastic But I’m more concerned with how I feel“ (Jesu/Sun Kil Moon, Good Morning My Love)
Tonträger-Ranking 2016. Eine rein subjektive Zusammenstellung, die keinerlei Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt und selbstredend viele Lücken aufweist, man kann bei weitem nicht alles hören und gebührend würdigen, was von Interesse wäre.
Weg von der klassischen Songstruktur, hin zu instrumentalen Klang-Epen, so die individuelle Hörer-Tendenz im dahinscheidenden Jahr. Viele alte Helden haben sich reihenweise mit im besten Fall uninspirierter Durchschnittsware in die Belanglosigkeit verabschiedet, eine der wenigen rühmlichen Ausnahmen war Leonard Cohen mit seinem finalen „You Want It Darker“-Werk, aber der hat sich dann leider postwendend nach Veröffentlichung endgültig ganz woanders hin verabschiedet.
Kulturforum-Top-100 2016, ein paar Scheiben auch noch aus 2015, aufgeteilt in die Sparten Reguläre, Sampler, Bergungskommando, here we go:
(09) Russian Circles – Guidance (2016, Sargent House)
Das Postmetal-Trio aus Chicago bleibt eine verlässliche Größe des Genres und liefert mit „Guidance“ eine ihrer bis dato besten Arbeiten ab.
Das war’s für 2016. Kein schlechtes Musikjahr. Der schmutzige Rest in der realen Welt: Für die Zukunft viel Luft nach oben, keine Frage. Gerhard Polt würde sagen: „Wir stehen vor schwierigen Herausforderungen, die sehr schwierig sind.“
Kommt gut rüber ins neue Jahr, ich wünsche Euch für 2017 nur das Beste, bleibt auf Sendung, habt Glück und bleibt vor allem gesund. Danke an alle, die hier mitgelesen haben, danke für die Rückmeldungen, Anmerkungen, Kritik und Ergänzungen in den Kommentaren. Highly appreciated. Und jetzt hoch die Tassen…
Sun Kil Moon & Jesu – Sun Kil Moon/Jesu (2016, Rough Trade)
Wenn das keine sich gegenseitig befruchtende Zusammenarbeit ist: der Indie-Folker Mark Kozelek aka Sun Kil Moon kollaboriert mit Justin Broadrick und dessen Ambient-/Drone-/Post-irgendwas-Projekt Jesu, spannender sind auf den ersten Blick fremde Welten lange nicht mehr aufeinander geprallt, was die beiden Herrschaften mit Unterstützung von Will Oldham und Musikern von Low, Slowdive und Modest Mouse aus dem Hut zaubern, begeistert in zehn zum Teil ellenlangen Midtempo-Epen abwechslungsreich auf das angenehmste.
Den Hang zur extended version frönten die beiden Protagonisten schon in der Vergangenheit, Kozelek schätze das ausladende Format bereits beim Geschichtenerzählen mit den Red House Painters, Jesu/Broadrick ist im Bereich Post-Metal/Post-Rock sowieso das weite Ausholen gewohnt, im Opener „Good Morning My Love“ bringt er zudem eine gehörige Portion unterschwellige Härte mit ins Spiel, die Godflesh-/Industrial-Metal-Vergangenheit des Gitarristen ist unüberhörbar. Grandioser Song, unendlich erhaben, und endlich singt mal wer beim Postrock.
Wesentlich entspannter gestaltet sich der Vortrag beim Indie-Pop-Titel „Last Night I Rocked The Room Like Elvis And Had Them Laughing Like Richard Pryor“, feines (Self-)Namedropping auch bei „America’s Most Wanted Mark Kozelek And John Dillinger“, „Fragile“ ist als typischer Sun-Kil-Moon-Folk erkennbar, „Father’s Day“ kommt als dezent elektronisch unterlegtes, subtiles Spoken-Word-Trip-Pop-Epos und im 14 Minuten langen Lounge-Sound von „Beautiful You“ treffen sich Bill-Callahan-artiger Gesangs-Stil mit Lambchop-hafter Relaxtheit auf höchstem Niveau. „Exodus“ hingegen ist auch thematisch ganz schwere Kost, die 10-Minuten-Ode an die Eltern, die am Tod ihrer Kinder verzweifeln, setzt sich inhaltlich vor allem mit dem tragischen Unfall-Tod von Nick Cave’s Sohn im Juli 2015 auseinander.
Wie es gerne mal heißt: das Werk ist mehr als die Summe seiner Einzelteile, ein erstes, beglückendes Highlight im noch jungen Jahr. Die Arbeiten, die Kozelek und Broadrick voneinander getrennt in den letzten ungefähr 25 Jahren in völlig unterschiedlichen Sparten ablieferten, sind schon aller Ehren Wert, aber das hier, puhu…
(*****)