Johnny Rotten

Reingelesen (45)

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„So habe ich aus irgendeinem Grund nie was von den Beatles gehalten, während meine Eltern vernarrt in sie waren. Immer dieses „She loves you, yeah, yeah, yeah“-Zeug. Igitt! Ich hasste ihre Frisuren, ich hasste alles an ihnen.
(…)
Authentizität? Aufhören! Diese Leute, die den authentischen Blues predigten, das waren so Typen wie Eric Clapton – geh mir bloß weg! Dass er dafür aus dem falschen Land kommt, ist nur eine Sache. Aber er imitiert was und hat dann plötzlich zu bestimmen, was geht und was nicht? Er kapiert nicht, das Musik von Menschen für Menschen geschrieben wird.“
(John Lydon, Anger Is An Energy, Roots And Culture)

John Lydon mit Andrew Perry – Anger Is An Energy: Mein Leben unzensiert (2015, Heyne)

This Is Not A Love Song: Englands schillerndste Punk-Ikone hat seine Vita zu Papier gebracht, wenn einer wie der unvergleichliche John Lydon aka Johnny Rotten zu einem derartigen Wurf ausholt, liegt es auf der Hand, dass er bei der Nummer kein Blatt vor den Mund nimmt.
Die von der katholischen Kirche und dem Irisch-stämmigen Arbeiterklassen-Elternhaus geprägte Kindheit und Jugend verlebte der junge Johnny im multikulturellen Londoner Stadtteil Holloway/Finsbury, der ortsansässige Fußball-Club Arsenal, dessen Hooligan-Umfeld und vor allem die lebensbedrohliche Menengitis-Erkrankung Lydons im Alter von acht Jahren waren maßgebliche Einflüsse in der kindlichen und jugendlichen Prägung des späteren Punkrock-Stars.

„In unserem Haus war vollkommen klar, dass der Nikolaus entweder brennen oder zu Brei geschlagen würde, falls er versuchte, den Kamin runterzukommen. Als zutiefst suspekte Erscheinung, die er war – ein Pfaffe und potenzieller Kinderschänder!“
(John Lydon, Anger Is An Energy, Born For A Purpose)

Seine Eindrücke aus erster Hand aus der spannendsten Zeit der durch Punk bedingten musikalischen Revolution im London Mitte der siebziger Jahre sind die Würze des Buchs, seine Erlebnisse mit den Pistols, die Anekdoten und Anmerkungen zum schwierigen Verhältnis zu den Bandkollegen Matlock, Jones und Cook, zu seiner offenen Feindschaft zum Pistols-Manager Malcolm McLaren, dem hinlänglich bekannten Bill-Grundy-Scharmützel, seinen nicht in den Punk-Kontext passenden Vorlieben für Musiker wie Peter Hammill, Captain Beefheart, Neil Young und den Krautrockern von Can und zu den Aufnahmen und dem Release-/Plattenlabel-Zirkus zum Punkrock-Meilenstein ‚Never Mind The Bollocks, Here’s The Sex Pistols‘ (1977, Virgin) sorgen für amüsante Lektüre, aufschlussreich und so manche Legende geraderückend sind seine Ausführungen zur seit seiner Schulzeit bestehenden Freundschaft mit dem Glen Matlock ersetzenden Sex-Pistols-Bassisten Sid Vicious, der laut Lydon maximales Talent als Junkie hatte, als Musiker jedoch ein Totalausfall war, da blieben selbst die gutgemeinten Übungsstunden, die ihm Motörhead-Basser Lemmy Kilmister angedeihen lies, fruchtlos – O-Ton Lemmy: „Sid hat keinerlei Begabung, kein Rhythmusgefühl, und er hat kein Gehör.“

„Es machte mich fertig, wenn ich merkte, das andere ihn ansahen und tatsächlich dachten, Heroin wäre richtig groovy. Sids Verhalten kommt für mich einem Verbrechen gegen die Menschheit nahe. Sein Leben war reine Selbstzerstörung.“
(John Lydon, Anger Is An Energy, Kämpfen oder untergehen)

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Unterhaltsam-informativ bleibt es im weiteren Verlauf der Dokumentation nach dem Pistols-Exit Lydons vor allem wegen den Entstehungsgeschichten zu den beiden mit seinem Folgeprojekt Public Image Ltd produzierten musikalischen Post-Punk-/Kraut-/Experimental-Wundertüten ‚First Issue‘ (1978) und ‚Metal Box‘ (1979, beide Virgin) und insbesondere der auch hier erneut auftretenden persönlichen Animositäten mit den weiteren maßgeblichen Bandmitgliedern, dem Bassisten John Wardle aka Jah Wobble und dem The-Clash-Gründungsmitglied Keith Levene, der mit dem Post-Punk-Ansatz in seinem Gitarrenspiel zu jener Zeit großen Einfluss auf den U2-Musiker The Edge gehabt haben soll, nach den Worten Lydons war er nichtsdestotrotz vor allem ein von Komplexen geplagter und verhaltensgestörter Zeitgenosse.
Hier erfährt der Leser auch, woher die Inspiration für die sperrige Blechbüchsen-Verpackung der Erstauflage von ‚Metal Box‘ herrührte: John Lydon bekam in jener Zeit die Probeaufnahmen zu ‚Quadrophenia‘ in einer Filmrollen-Metalldose zugeschickt, er war kurzzeitig auf Initiative Pete Townshends für die Rolle des Jimmy Cooper in der 1979er-Film-Adaption des Who-Klassikers angedacht.

„Meine Rolle bei dem Ganzen? Ich hatte ein völlig neues musikalisches Genre, ein völlig neues Musikverständnis erschlossen. Und wer strömte herein, nachdem ich die Tür aufgestoßen hatte? Lauter Penner, die auch noch stolz darauf waren, dass sie nichts im Kopf hatten.
Mir ging es darum, meine Lebenserfahrungen mit anderen zu teilen, nicht um die selbst gewählte Isolation, in die sich Punk dann begab. Durch so was verengt sich die Weltsicht – was der arme alte Joe Strummer für mich exemplarisch verkörperte. Er bildete sich ein, Anführer einer politischen Punk-Bewegung zu sein, und dass wir bei Solidarnosc mit Spruchbändern durch die Gegend laufen würden. Kompletter Schwachsinn.“
(John Lydon, Anger Is An Energy, Getting Rid Of The Albatross)

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Die ablehnende Einstellung Lydons zu einem Großteil seines sozialen und vor allem beruflich-musikalischen Umfelds, darunter etlichen Wegbegleitern aus der Hochphase des britischen Punk, zieht sich wie ein roter Faden durch das autobiografische Werk.
Selbst einem renommierten Musik-Journalisten wie Jon Savage spricht Rotten jegliche Kompetenz ab. Obwohl er selbst als Input-Geber an Savages von der Presse hochgelobtem Standardwerk ‚England’s Dreaming: Sex Pistols and Punk Rock‘ (1991) zur englischen Punk-Historie beteiligt war, ist letztendlich in der Dokumentation nach seinem Dafürhalten nahezu alles falsch dargestellt, Savage könne es auch nicht besser wissen, „er war ja kein Sex Pistol„.

„Die Sex Pistols hätten ohne ihn niemals diese Wirkung erzielen können. Trotz McLarens Spott war es eben genau Lydons Interesse an den Eigenheiten von Post-Hippie-Pop – dem Expressionisten Peter Hammill und dem hochexplosiven Captain Beefheart – -, die den Sex Pistols einen Ausweg aus der Nostalgie oder dem Jungsrock bot und den Zugang zu einem neuen, unbekannten Gebiet ermöglichte. Lydons Interesse an musikalischen Experimenten verlieh den Sex Pistols den Schneid, ihre immer extravaganteren Forderungen durchzuziehen.“
(Jon Savage, England’s Dreaming, 2/9)

So, wie der PiL-Output nach dem ‚Metal-Box‘-Release an Qualität zum Teil deutlich zu wünschen übrig lies, so verflacht auch die Biografie Lydons im weiteren Verlauf zusehends, für punktuelle Highlights sorgen seine schonungslose Replik gegen den Kinder-schändenden BBC-Moderatoren Jimmy Savile, seine Gedanken zum schwierigen Verhältnis zu seiner Stieftochter, der Slits-Musikerin Ari Up, seine Anmerkungen zu der von ihm geschätzten Reggae-Musik und die Entstehungsgeschichte des von Bill Laswell produzierten PiL-Tonträgers ‚Album‘ (1986, Virgin), auf dem illustere Gäste wie die Ausnahmemusiker Ginger Baker, Tony Williams, Steve Vai und Ryuichi Sakamoto zu hören sind, alles Könner ihres Fachs, die man zu jener Zeit nicht unbedingt als Mitmusikanten auf einem Johnny-Rotten-Album vermutet hätte.
Das letzte Drittel des Buchs ist tendenziell belangloses Geschwaller zu den Themen Pistols-Reunion, Lydons geplanter Teilnahme in der Rolle des Judas Ischariot bei einer letztendlich geplatzten Jesus-Christ-Superstar-Produktion am Broadway, seinem Auftritt bei „I’m a Celebrity…Get Me Out of Here!“, der britischen Ausgabe des Prekariatsfernsehen-Dschungelcamps und seiner Beteiligung an einem Werbespot für irische Butter. Wegen des lieben Geldes hat Rotten all diesen Firlefanz nicht veranstaltet, was sein jeweiliger Antrieb für die Aktionen war, kann er dem Leser in der Autobiografie aber leider auch nicht plausibel erläutern.
Seine Ergüsse, warum er nicht gern zum Zahnarzt geht, interessieren möglicherweise seinen Friseur oder den Gasmann, und seine Verehrung für Gandhi nimmt ihm bei gleichzeitiger Befürwortung der amerikanischen Waffengesetze – Lydon ist seit kurzem US-Bürger – irgendwie auch niemand ab…

Immerhin, aufgrund der weiterhin gepflegten und in der Biografie hinlänglich ausgekosteten Animositäten zu den ex-Pistols-Kollegen Matlock und Jones dürfte den Musik-Interessierten die Peinlichkeit einer erneuten Reunion erspart bleiben, aber hinsichtlich exzentrischer Ideen ist man bei John Lydon letztendlich vor nichts gefeit, wie die Lektüre seiner Autobiografie eindrucksvoll unter Beweis stellt.

So wie Lydon seine Erinnerungen, Anekdoten und Lebensweisheiten verbal rausgehauen hat, so hat sie Co-Autor Andrew Perry offensichtlich mehr oder weniger ungefiltert zu Papier gebracht, großes Rumfeilen und Ringen um gepflegtere Formulierungen sind nicht zu erkennen, literarischer Anspruch ist was anderes.
Anger Is An Energy: Nichts für Feinschmecker der gehobenen Schreibkunst, aber für Interessierte am Werdegang einer der schillerndsten Pop-Ikonen der vergangenen vierzig Jahre ist das Pamphlet alles in allem dann doch partiell lesenswert.

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„Ah-ha-ha. Ever get the feeling you’ve been cheated? Good night.“
(Johnny Rotten, Winterland Ballroom, San Francisco, 1978-01-14)

„The King Is Gone But He’s Not Forgotten,
Is This The Story Of Johnny Rotten?“
(Neil Young, Hey Hey, My My (Into The Black))

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Reingehört (78)

Reingehört Sept 10

Low – Ones And Sixes (2015, Sub Pop)
Nie waren sie wertvoller: Das Slowcore-Trio um das Mormonen-Ehepaar Mimi Parker und Alan Sparhawk aus Duluth/Minnesota (Hometown von Bob dem Meister) liefert mit ‚Ones And Sixes‘ ihr bis dato reifstes Werk ab. Grundsätzlich immer wohlwollend beäugt, war ihr 2011er-Album ‚C’mon‘ (Sub Pop) bereits ein Riesenschritt in Richtung schwergewichtiger Wohlklang, und so brilliert die neue Scheibe nun endgültig mit ätherischem Ambient-Indie, der dieses Mal nicht nur gewohnt filigran, sondern auch durchgehend wunderschön, elegant und vor allem spannend tonal die großen Gefühle transportiert.
Schenkt man der Presse Glauben, war Sänger und Gitarrist Alan Sparhawk in den letzten Jahren von Depressionen geplagt, in diesem Umstand mag der musikalische und thematische Tiefgang der zwölf neuen Songs begründet liegen, die trotz herrlicher Melodienlandschaften ein unterschwelliges, bedrohliches Unbehagen mitschwingen lassen, die dräuende Schwermut bietet perfekten Schutz gegen die Kitsch-Gefahr.
Jede Menge legales Live-Bootleg-Material von Low findet sich im Übrigen bei nyctaper.com und archive.org.
Das Trio ist im Herbst in unseren Gefilden konzertant zugange, unter anderem am 19. Oktober im Münchner Ampere.
(*****)

Public Image Ltd. – What the World Needs Now… (2015, PiL Official Ltd / Cargo)
„Anger Is An Energy“, immer noch, beim guten alten Johnny Rotten. Zusammen mit Musikern wie dem ehemaligen Mekons-Mitstreiter Lu Edmonds und dem in Sachen Post-Punk bestens prädestinierten The-Pop-Group-Drummer Bruce Smith wütet, mault und schimpft sich John Lydon durch das aktuelle Songmaterial, das Anfangs in seinem radikalen Stakkato-Vortrag Reminiszenzen des großen Vorbilds an Epigonen wie die derzeit schwer angesagten Sleaford Mods erkennen lässt und im weiteren Verlauf zwischen typischen Post-Punk-Fisimatenten und für PiL-Verhältnisse geradezu hymnischen Indie-Pop-Exerzitien changiert.
An der ein oder anderen Stelle mag das neue Werk allzu retrospektiv daherkommen, und ein Meisterwerk wie seinerzeit die kultisch verehrte ‚Metal Box‘ (1979, Virgin Records) ist es beileibe nicht, aber gut ins Ohr geht es allemal…
Notiz am Rande: In der aktuellen September-Ausgabe des Fußball-Magazins 11Freunde schwadroniert John Lydon in seiner Funktion als jahrzehntelanger Arsenal-Anhänger über den Niedergang der Fan-Kultur in England und fragt sich, was er in einem Stadion verloren hat, in dem er nicht mehr stehen, geschweige denn fluchen noch rauchen darf und führt so die schöne neue Uli-H.-Fußballwelt vor Augen, die nur noch den mit dicker Brieftasche ausgestatteten Jubelperser im Blick hat und das Gekicke jeglicher ‚Street Credibility‘ beraubt, indem Stimmung per Tonband in der Arena eingespielt wird, weil der gemeine FCB-Konsument zwecks Kaviar-Verzehr beim Torjubel verhindert ist…
Anyway, zum Finger in solche Wunden legen, dafür ist der ex-Pistol allemal der Richtige.
(****)

Beirut – No No No (2015, 4AD / Beggars)
Nach 4 Jahren ein neues Werk der Indie-Folk-/Balkan-Pop-Institution Beirut aus Santa Fe/New Mexico unter der wie immer maßgebenden Führung von Kapellmeister Zach Condon, der dem Vernehmen nach in den letzen Jahren wenig Spaß ob Scheidung, Krankenhaus-Aufenthalten und abgebrochener Tourneen hatte.
Der Kosmopoliten-Pop früher Tage ist auf ‚No No No‘ auf das wesentliche reduziert, die neun Songs erscheinen als Skelette früherer, aufwändig arrangierter Balkan-Soundtracks, der Bläser- und Orchester-unterfütterte Übermut der ersten Südeuropa-Indie-Pop-Großtaten fehlt hier völlig, blanke Song-Gerippe in einem für Beirut-Verhältnisse fast minimalistischen Gewand mögen das Herz nicht recht erwärmen, und so ist in dem Fall der Griff zu altem Material wie dem klangfarbenfrohen ‚Gulag Orkestar‘-Debüt (2006, Da Da Bing) und der noch exzellenteren, im Reissue dazugepackten ‚Lon Gisland‘-EP von 2007 empfohlen.
Weniger ist oft mehr, heißt es mitunter. Mag im ein oder anderen Fall was für sich haben, bei der Nummer hätte etwas mehr Opulenz nicht geschadet und so ist es gut, dass der neue Beirut-Aufguss nach 29 Minuten sein erlösendes Ende findet. Latent belanglos.
(***)