„The poem I write is a colorful affair within the body of a man playing dead – a man whose fingers secretly twitch just enough to work the typewriter, who, when it is dark enough will hitchhike from the scene of his death.“ (Steven Jesse Bernstein, 1991)
Steven Jesse Bernstein – Prison (1992, Sub Pop)
Mit „Prison“ hat das Sub-Pop-Label 1992 das einzige Album des amerikanischen Underground-Dichters Steven Jesse Bernstein veröffentlicht, ein faszinierendes Konglomerat aus der Spoken-Word-Performance des Poeten und den Sound-Samples, die der Nirvana-, Soundgarden- und Beat-Happening-Produzent Steve Fisk als musikalische Grundlage beisteuerte, „spoken-word-meets-sampledelica“ hat das der Autor und Musik-Journalist Michael Azerrad in seinem Standardwerk zum US-Indie-Rock „Our Band Could Be Your Life: Scenes from the American Indie Underground 1981–1991“ genannt.
Fisk entwarf mit Hilfe von Sampling und Tape-Manipulationen eine schmissige Mixtur aus Lounge-Jazz, Hip Hop und Ambient-Psychedelic, die mitunter Assoziationen an US-TV-Soundtracks und die heile Welt der Fünfziger-Jahre-Serien weckt und so im krassen Kontrast zu den mit schneidernder Stimme vorgetragenen, Unbehagen wachrufenden Texten Bernsteins steht, die sich mit Entfremdung, Verzweiflung, Verfall, Selbsthass, erniedrigenden Kindheitserinnerungen und – in der Tradition von Bukowksi und Burroughs, mit letzterem war Bernstein im Übrigen gut befreundet – mit den traumatischen Alkoholexzess- und Drogenerfahrungen des Autors auseinandersetzen.
Für „Prison“ hatte Bernstein ursprünglich ein ähnliches Konzept wie Country-Star Johnny Cash bei seinen legendären Gefängnis-Auftritten Ende der Sechziger geplant, die Idee wurde später wieder verworfen, von seinem für eine Live-Aufnahme angedachten Auftritt im State Penitentiary Special Offenders in Munroe/Washington wurden nur die Fotos für das spätere Album-Cover verwendet.
Zur Zeit der Arbeiten an „Prison“ litt Steven Jesse Bernstein unter manischer Depression und unter einem schweren Rückfall in seine Alkoholsucht, an der Veröffentlichung seines Poetry-Grunge-Meisterwerks konnte er sich nicht mehr erfreuen, im Alter von vierzig Jahren hat sich Bernstein im Oktober 1991 das Leben genommen. Produzent Fisk stellte die Rohentwürfe der zehn Arbeiten mit Hilfe seiner Samples fertig, zum Zeitpunkt des Selbstmords war erst ein Stück komplett abgemischt, im April 1992 wurde das Album veröffentlicht. Der New Yorker Regisseur Oliver Stone, der ein großer Fan Bernsteins war, verwendete einige Jahre später das Stück „No No Man“ im Soundtrack für seinen albtraumhaften cineastischen Serienkiller-Roadtrip „Natural Born Killers“.
Steven Jesse Bernstein war fester Bestandteil der Seattle-Grunge-Szene, mit seinen rohen, provokanten Live-Lesungen hat er für Bands wie Soundgarden, Mudhoney, Nirvana und viele andere Alternative-Bands Konzertabende eröffnet.
„We believe ‚Prison‘ to be an exceptional project of character and endurance. Steven Jesse Bernstein was a brilliant and unique individual. We will miss him deeply.“ (Sub Pop)
„About the album’s title, I’ll never forget the time all those years ago when I asked Roky what psychedelic music was. Ever the gentlemen, Erickson looked at me with shining eyes and said, „Don’t you know, man? That’s where the pyramid meets the eye.“ You’re right, Roky, and you’re the person who put it there.“ (Bill Bentley)
„…there are a several moments of very real beauty and power here, especially from the artists who share Erickson’s Texas heritage — Doug Sahm and ZZ Top rock out on their contributions, the Butthole Surfers‘ version of ‚Earthquake‘ is one of their finest moments on wax, and T-Bone Burnett’s take on ‚Nothing in Return‘ is a heart-tugging gem.“ (Mark Deming, allmusic.com)
„The Syd Barrett of Texas.“ (Joe Nick Patoski, No Depression)
Various Artists – Where The Pyramid Meets The Eye: A Tribute To Roky Erickson (1990, Sire)
Gab mal eine Welle Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger, in deren Flut wurden alle möglichen Größen und auch das ein oder andere kleinere Licht der Populären Musik mit Werkschau-artigen Tribute-Werken bedacht, Coverversionen der jeweiligen „Greatest Hits“, eingespielt von musizierenden Fans und Genre-verwandten Künstlern, Weggefährten und auch ein paar Verirrten, die man mit dem gewürdigten Star oder der Band im Einzelfall nie und nimmer in Zusammenhang gebracht hätte.
Schöne Sammlungen gab’s da, „The Bridge: A Tribute To Neil Young“ (1989, Caroline) etwa, mit dem die Creme der damaligen Indie-Szene auch gleich noch etwas Münzen für Pegi Young’s Bridge School für Kinder mit Behinderungen sammelte, oder „I’m Your Fan: The Songs of Leonard Cohen“ vom französischen Oscar-Label aus dem Jahr 1991 zur Würdigung des kürzlich verstorbenen kanadischen Songwriters. Einiges ging auch grob in die Binsen, Bands wie XTC, die Membranes oder That Patrol Emotion konnten nur scheitern an der singulären Genialität eines Don Van Vliet aka Captain Beefheart, hinsichtlich der drei Teile der „Heaven & Hell“-Serie als Verneigung vor den Werken der Velvet Underground herrschte auch nicht eitel Sonnenschein, zuviel Ausschuss tummelte sich zwischen wenig Gelungenem, wer aber uneingeschränkt mit erbaulichen bis begnadeten Fremd-Interpretationen des eigenen Werks in das Bewusstsein der Hörerschaft zurückgezerrt wurde, war Psychedelic-/Garagen-Rock-Gott Roky Erickson, „Where The Pyramid Meets The Eye“ ist bis dato eines der gelungensten und anrührendsten Exemplare dieser Tribute-Sampler-Gattung.
Produziert und zusammengestellt hat das gute Teil der Journalist, ZZ-Top-Spezi und „Music Industry Executive“ Bill Bentley, der wie Roky Erickson aus Texas stammende Geschäftsmann versammelte eine illustre Musikantenschar zur Neueinspielung der Erickson-Solo- und 13th-Floor-Elevators-Perlen des Psychedelic-Rock-Pioniers.
Wenn man mit den Rauschebärten persönlich so dicke ist, spricht nichts gegen eine Eröffnung des Reigens mit dem Elevators-Kracher „Reverberation (Doubt)“ durch ZZ Top im treibenden Bluesrock-Gewand, die Nummer taucht abschließend in selbstredend mutierter Form von den schottischen Noise-/Indie-Rockern Jesus & Mary Chain dargeboten noch einmal auf. Aus dem Fundus der 13th Floor Elevators bedienen sich unter anderem Dough Sahm mit „You’re Gonna Miss Me“, Primal Scream mit einer gelungenen Rave-Adaption von „Slip Inside This House“ und die geistesverwandten Weirdos von den Butthole Surfers mit der entfesselten, wie für sie geschriebenen „Earthquake“-Nummer.
Dass der in seinem Leben phasenweise von Schizophrenie geplagte Roky Erickson als Solokünstler verdienten Kult-Status erlangte, belegen Solo-Alben wie der mit dem Creeedence-Clearwater-Revival-Bassiten Stu Cook eingespielte 1980er Meilenstein „I Think Of Demons“ (CBS) oder seine „Halloween“-Live-Aufnahmen Ende der Siebziger mit den Explosives, bei der Neubearbeitung von Werken aus dieser Ära tun sich auf dem Tribute-Album vor allem Julian Cope mit einer treibenden Prog-/Rave-Version von „I Have Always Been Here Before“ und R.E.M. mit Byrds-artigem Gitarren-Geschrammel in „I Walked With A Zombie“ hervor, die Truppe um Michael Stipe nimmt der Nummer zwar jegliche Schärfe, arbeitet aber dafür nicht geahnte, große Pop-Momente heraus. T-Bone Burnett und Bongwater glänzen mit ureigener Balladen-Kunst in „Nothing In Return“ und „You Don’t Love Me Yet“, John Wesley Harding verbrät „If You Have Ghosts“ zu grundsolider Indie-Rock-Intensität. Mit „Red Temple Prayer (Two Headed Dog)“, „Don’t Slander Me“ und „Burn The Flames“ treiben Sister Double Happiness, Lou Ann Barton und die großartigen Thin White Rope ihr jeweils eigenes Spiel in Sachen Blues-infizierter Garagen-Trash, in allen drei Fällen mit individueller Note versehen und im Resultat mehr als hörenswert.
Die Vinyl-Ausgabe des Tonträgers enthielt drei zusätzliche Stücke von den Angry Samoans („White Faces“!), den Lyres und The Mighty Lemon Drops.
Eine formvollendete, gelungene und stimmige Verneigung vor einem der ganz Großen der amerikanischen Rockmusik, der in erster Linie von allem zuviel abbekommen hat, zuviel Irrsinn, zuviel bewusstseinserweiternde Drogen, zuviel Medikamenten-Missbrauch, zuviel Aufenthalte in Hospitälern, zu viele Horror-Filme auf zu vielen Bildschirmen gleichzeitig, bedauerlicherweise nicht zuviel vom Ruhm, der einem wie Roky Erickson im Musik-Business einer besseren Welt zuteilgeworden wäre.
(*****)
Den geerdeten Indie-Slide-Gitarren-Blues haben sie nicht erst im Muddy-Roots–Umfeld erfunden, man muss im Plattenregal nur ein wenig in der Arizona-Abteilung wühlen, dann stolpert man zwangsläufig über einen Mann, der in dem Bereich bereits vor Jahrzehnten großartige Pionier-Arbeit geleistet hat.
Rainer Ptacek, 1951 in Ost-Berlin als Sohn deutsch-tschechischer Eltern geboren und Mitte der fünfziger Jahre zusammen mit der Mischpoke dem Arbeiter- und Bauern-Paradies in Richtung Chicago/Illinois entflohen, ist in der nordamerikanischen Metropole intensiv mit dem Blues der großen schwarzen Urväter des Genres in Berührung gekommen. In den frühen Siebzigern zieht es ihn in die Wüste nach Tucson/Arizona, wo er sein eigenes Trio Rainer & Das Combo betreibt und zusammen mit Howe Gelb die Combo Giant Sandworms gründet, aus der später Gelb’s Band Giant Sand hervorgehen wird.
Billy Gibbons von ZZ Top und Robert Plant sind schwer beeindruckt von seiner Arbeit, mit dem ex-Zeppelin-Frontmann arbeitet Ptacek später im Rahmen der „Fate Of Nations“-Sessions zusammen.
1996 fällt er vom Fahrrad und erleidet einen Gehirn-Schlaganfall, im Rahmen der medizinischen Untersuchungen wird bei Ptacek ein nicht operabler Gehirntumor entdeckt. Bedingt durch die folgende Chemotherapie muss er das Gitarrenspiel neu erlernen, nach zwischenzeitlicher Erholung verschlechtert sich sein Zustand ab Mitte 1997, am 12. November desselben Jahres stirbt Rainer Ptacek im Alter von 46 Jahren, er hinterlässt in der zeitgenössischen Blues-Musik eine nicht mehr zu schließende Lücke und bleibt ein großer Unvollendeter seines Fachs.
Zur finanziellen Unterstützung der kostspieligen Therapien organisierten befreundete Musiker zwei Tribute-Sampler, auf der von Robert Plant und Howe Gelb initiierten Sammlung „The Inner Flame – A Tribute to Rainer Ptacek“ (1997, Atlantic) interpretieren Größen wie etwa Gelb und Plant selbst, Emmylou Harris, Jonathan Richman oder Evan Dando Rainer-Material, das Album ist 2012 in erweiterter Version bei Fire Records wiederveröffentlicht worden. Herausragend sind das LoFi-Kleinod, das Vic Chesnutt mit seiner Frau Tina beisteuert und der schräge Vaudeville-Kracher von PJ Harvey, John Parish und dem langjährigen Beefheart-Gefährten Eric Drew Feldman, der Glitterhouse-Katalog hat seinerzeit über die Harvey-Bearbeitung von „Losin‘ Ground“ den folgenden Schenkelklopfer rausgehauen: „PJ Havey läßt ihr ich-bin-ja-so-eine-intensive-Frau-Gehabe größtenteils bleiben, was dem Stück nicht schlecht bekommt“ ;-)) Besonders erwähnenswert ist auch die „Life Is Fine“-Interpretation von Madeleine Peyroux, die das Stück als entspannten New-Orleans-Sumpf-Blues bringt, auch in der Version bleibt der Titel eine exzellente Nummer.
Weitaus weniger prominent besetzt, dafür stilistisch stimmiger und homogener gestaltete sich das Fundraising-Tribute „Wood For Rainer – A Wooden Ball Compilation“ (1996, Epiphany) im Geiste des Alternative Country und Folk-Blues (mit einem nicht weiter störenden Soul-Ausreißer), live eingespielt im Club Congress in Tucson/Arizona, mit unter anderem Rainer himself („Top Of The World“, einer seiner größten Würfe, in jedweder Version), Howe Gelb, dem Rich-Hopkins-Spezi Billy Sedlmayr und Szene-Größen wie Al Perry („The Only Thing That Hurts Now Is The Pain“ !!!), Greyhound Soul und Naked Prey.
Rainer & Das Combo – Barefoot Rock With Rainer & Das Combo (1998, Glitterhouse)
Bereits 1986 als LP veröffentlicht, hat das verdiente Beverunger Label Glitterhouse das mit seiner Stamm-Combo eingespielte Rainer-Werk in den Neunzigern mit vier zusätzlichen Bonus-Tracks wieder aufgelegt. Allein schon wegen „Life Is Fine“ im Band-Gewand jeden Cent wert. Das Opus offenbart sich als abgehackte Blues-Feedback-Orgie, hätten Pink Floyd in der Frühphase der Band schlechte Drogen konsumiert (haben sie wahrscheinlich sowieso) und im Bereich der afroamerikanischen Volksmusik weiterexperimentiert, wäre wohl etwas Vergleichbares in der Güte entstanden.
Ansonsten bietet das Album eine launige Sammlung von trashigem Bottleneck-Bluesrock, gestandenen Garagen-Boogie-Stampfern, süffigen Slide-Instrumentals und eine Handvoll psychedelische Prog-Blues-Perlen, die von der charakteristisch-fiebrigen Stimme Rainers gekrönt werden, die seltsamer Weise in etlichen Phrasierungen an Bryan Ferry in der Roxy-Frühphase erinnert, andere Hörer haben vermehrt den Talking Head David Byrne als Vokal-Referenz genannt. Neben Eigenkompositionen Coverversionen zuhauf von Robert Johnson, Willie Dixon, Billy Boy Arnold und anderen Ahnherren des Blues.
Rainer & Das Combo – The Texas Tapes (1996, Glitterhouse)
In Billy Gibbons‘ Gold Star Sound Services Studio abgemischt, aufgepeppt und klangtechnisch exzellent produziert. Seine eingängigste Platte, böse Zungen würden wohl „Mainstream“ und „Gary Moore“ motzen, was Wunder, die Stücke wurden mit den Rauschebärten von ZZ Top als Backing-Band eingespielt, Gibbons und Co durften aber aus rechtlichen Gründen namentlich nicht auf dem Platten-Cover genannt werden.
„Merciful God“ ist allerdings eine großartige Instrumental-Slide-Bluesrock-Ballade, die einer wie Ry Cooder wohl auch gerne eingespielt hätte.
Inklusive dreier Bonus-Tracks in gewohnt erstklassiger Rainer-Solo-/Akustik-Manier, in der Fremdkomposition „Another Man“ verneigt er sich würdig vor einem seiner vermutlich größten Vorbilder, der Delta-Blues-Legende Big Joe Williams.
Rainer – Nocturnes (1998, Glitterhouse)
Sechs Instrumental-Meditationen, mit National Steel Guitar und elektronischen Loops atmosphärisch dicht in Szene gesetzt, der „Paris, Texas“-Soundtrack von Ry Cooder mag ab und an als Bezugspunkt durch’s Hirn zucken, tribalistische Beschwörungs-Töne und Verneigungen vor American-Primitive-Guitar-Größen wie Leo Kottke oder John Fahey runden den Wüsten-Blues zu einem stimmigen Ganzen ab. „Within You, Without You“ vom Beatles-Fußeinschläferer Harrison treibt er in der Instrumental-Version in geradezu spannende Gefilde.
Das Glitterhouse-Label schrieb seinerzeit in der Presse-Info: „Etwa wie Ry Cooder auf schlechtem Acid. Perfekte late night music“, da mag man nicht widersprechen.
Als Bonus-Beigabe gibt es als The-Grid-Remix das extrem entspannte Trance-/Ambient-Stück „Nod To N2O“ als 12-minütigen, sphärisch-meditativen Rausch.
Rainer – Live At The Performance Center (2000, Glitterhouse)
Aufzeichnung des Solo-Konzerts, dass der Ausnahme-Musiker am Vorabend zu seinem 46. Geburtstag (es sollte sein letzter sein) in seiner Wahlheimat Tucson/Arizona gab.
Schwerer, dem angeschlagenen Gesundheitszustand entsprechender Solo-Slide-Blues, 20 ausgewählte Werke auf der National Steel dargereicht, gewichtige eigene Werke und Fremdmaterial aus der Feder von unter anderem Billie Holiday, Willie Nelson und J.B. Lenoir.
Die prägnant-eindringliche Stimme schwebt über dezentem Anschlag, beherztem Akkord-Greifen und dem Spiel mit zwei alten Bandschleifen, mit Hilfe derer Rainer Ptacek oft mehrere Riffs und Licks gleichzeitig gegeneinander oder ein darübergespieltes Solo laufen lässt, ohne je in undefinierbarem Soundgebräu zu scheitern, immer einer klaren Songstruktur verpflichtet. Selten war Akustik-Blues spannender.
Das Album dokumentiert einen vor Leben strotzenden Künstler, der auf der Höhe seines Könnens agiert. Fünf Monate später erliegt er seinem Krebsleiden.
Rainer – Worried Spirits (2000, Glitterhouse)
Wiederveröffentlichung des bereits 1992 in den Staaten erschienenen Solo-Albums, das die Intensität der Live-Auftritte perfekt widerspiegelt. Die Schwere der Einsamkeit und die Weite der Wüste Arizonas, es findet sich alles an Assoziationen auch hier im Existentialisten-Blues des Rainer Ptacek, der seine Slide-Gitarren-Kleinode oft bis auf das blanke Skelett der Songstrukturen freilegt und so diese traditionelle Musik in ihrer reinsten Erscheinungsform zeigt.
Eine intensive Folk-Blues-Messe mit Verweisen auf Roosevelt Sykes, Willie Nelson und Greg Brown. Enthält zudem die Solo-/Akustik-Version seines „Life Is Fine“-Krachers und eine sensationelle Fassung des Traditionals „Long Long Way To The Top Of The World“.
Stilistisch angelehnt an die großen Country-Blues-Solo-Scheiben der alten Helden John Lee Hooker, Big Joe Williams, Lightnin‘ Hopkins und Fred McDowell aus deren Schaffensphase von circa Ende der 50er bis Mitte der 60er-Jahre und somit ganz großer Sport.
Rainer – Alpaca Lips (2000, Glitterhouse)
Posthum veröffentlichte Studioaufnahmen, in denen Rainer größtenteils solistisch unterwegs ist, lediglich auf der sagenhaft intensiven Interpretation der Stevie-Wonder-Nummer „Pastime Paradise“, die er in der Version in Richtung schwerst ergreifende Ballade treibt, wird er von den beiden führenden Calexico-Köpfen John Convertino und Joey Burns optimalst unterstützt.
Das Album bewegt sich stilistisch zwischen instrumentalen Akustik-Drone-Experimenten und klaren Songstrukturen, in beiden Extremen eine gelungene Ergänzung und Erweiterung zu seinen zu Lebzeiten erschienenen Alben. Ambient und der immer zeitgemäße Country-Blues der Vorväter gehen eine gelungene Symbiose ein. Man kann mit diesem Album mehr als nur erahnen, was da noch gekommen wäre…
Rainer – 17 Miracles / The Best Of Rainer (2006, Glitterhouse)
Schöne Best-Of-Compilation des Hauses Glitter mit Schwerpunkt auf die Alben „Alpaca Lips“, „The Farm“ und „Live At The Performance Center“.
Ideale Übersicht als Einstiegspunkt in die wundersame Blues-Welt des Rainer Ptacek.
Rainer with Joey Burns & John Convertino – Roll Back The Years (2011, Bandcamp)
Im Sommer 1997 mit der ehemaligen Giant-Sand-Rhythmusabteilung eingespielt, die hier das Grundgerüst für den Rainer-Wüsten-Blues liefert. Der relaxte „Desert Noir“-Ansatz der beiden Calexico-Vorturner harmoniert perfekt mit dem National-Steel-Anschlag des Ausnahmegitarristen, der hier im Haus von Howe-Gelb-Freund Bill Carter eine der letzten Male für Studioaufnahmen zugange war. Stimmig restauriert, abgemixt und posthum veröffentlicht.
Muddy Waters – Baby Please Don’t Go – Live At ‚Jazz Jamboree 76‘ (1992, ITM Media)
Vor kurzem die restliche monetäre Weihnachtszuwendung im Münchner Second-Hand-Mono-Laden verblitzt und diese Live-Perle aus dem Regal gefischt. Anfangs noch skeptisch beäugt, das Werk findet weder in der Waters-Biografie von Robert Gordon noch bei Wikipedia Erwähnung, hätte sich im schlimmsten Fall auch um ein Bootleg in schwindliger Ton-Qualität handeln können, für die paar Kröten war das Risiko aber überschaubar, erfreulicherweise hat sich die Scheibe als Volltreffer erwiesen.
Der große alte Mann des Chicago-Blues 1976 konzertant bei einem Jazz-Festival in Warschau mit seiner Band in der Besetzung Jerry Portnoy / Bob Margolin / Luther Johnson / Pinetop Perkins / Calvin Jones / Willie Smith, sozusagen am Vorabend vom Johnny-Winter-Einstieg, der Texas-Albino hat mit Muddy Waters bekanntlich ab Oktober 1976 vier exzellente, finale Alben produziert, auf der Polen-Aufnahme funktioniert die Band auch ohne seine Beteiligung vorzüglich und liefert ein beschwingtes, vor Spielfreude strotzendes Set aus weniger bekannten Blues-Nummern und Muddy-Waters-Live-Standards wie dem Titelstück, „(I’m Your) Hoochie Coochie Man“, „I Got My Mojo Working“ und „Everything Is Gonna Be Alright“.
Wunderbare Ergänzung zu ‚Fathers And Sons‘ (1969, Chess) und mit wesentlich mehr Drive als die ‚Muddy „Mississippi“ Waters – Live‘-Einspielung (1979, Blue Sky) aus den folgenden Jahren.
Empfehle beherztes Zugreifen, falls der Tonträger irgendwo aus der Grabbelkiste rauslunzt…
(*****)
Coco Schumann Quartett – Coco Now! (Live) (1999, Trikont)
Der „Ghetto-Swinger“ auf der Höhe seiner Kunst: Der 1924 in Berlin geborene und durch alle Höhen und Tiefen des Lebens gegangene Gitarrist Coco Schumann zieht auf dieser Live-Einspielung alle Register der Swing-, Blues- und Jazzgitarren-Kunst, zusammen mit seinen Berliner Mitmusikanten Hans Schaetzke, Sven Kalis und Kalle Böhm spielt er sich von der Muse geküsst durch Klassiker wie „Take the ‚A‘ Train“, dem vor allem durch Ray Charles populär gemachten „Georgia On My Mind“, durch das von Jazzern und Bluesern gleichermaßen geschätzte „Autumn Leaves“ oder dem Lester-Young-Standard „Lester Leaps In“, selbst eine irgendwie schon lange nicht mehr wohlgelittene, da nahezu tot-gecoverte Schickse wie das „Girl From Ipanema“ erscheint im neuen Gewand wieder als aufgedonnerte Schönheit in strahlendem Glanz auf dem Laufsteg.
Die Platte enthält zuhauf diese exzellenten, vom Swing beflügelten, glasklaren Gitarrenläufe Schumanns, die dem Grateful-Dead-Fan zwangsläufig die Frage aufdrängen, ob Ober-Dead Jerry Garcia mit dem Werk des Berliner Ausnahme-Gitarristen vertraut war und sich in seinen Endlos-Jams seiner Technik bediente, es gibt da zahllose Passagen im Live-Katalog der kalifornischen Cosmic-American-Music-Institution, da möchte man wetten…
Aufgenommen im Sommer 1999 während des „Festival Jazz Classica“ auf Schloß Elmau, dem am Fuße des oberbayerischen Wettersteingebirges gelegenen „Luxury Spa & Cultural Hideaway“, was hat der Coco eigentlich mit seinem Berliner Kaschemmen-Blues in diesem Upper-Class-Schuppen verloren?
(**** ½)
Eric Dolphy – The Illinois Concert (1999, Blue Note Records)
Mit „Softly, As In A Morning Sunrise“ und dem Billy-Holiday-Klassiker „God Bless The Child“ erklingen zwei Jazz-Standards, plus fünf eigenkomponierte Originale ergeben einen spannenden, ergreifenden und hochenergetischen Mix, mit dem der kalifornische Multi-Instrumentalist Eric Dolphy mit Unterstützung des Rhythmus-Duos Eddie Khan und J.C. Moses und des damals 22-jährigen Pianisten Herbie Hancock eindrucksvoll unter Beweis stellt, dass Free- und Avantgarde-Jazz bei ihm noch hochmelodisch und auch für diese Richtung weniger aufgeschlossene Ohren jederzeit gut hör- und verdaubar klingt, vor allem, wenn Dolphy zu seinen unvergleichlich-einfühlsamen Sound-Meditationen auf der Flöte und der Bass-Klarinette an- und abhebt.
Bereits im März 1963 in Champaign bei einem Konzert an der University of Illinois mitgeschnitten, wurde dieses exzellente Live-Album erst 1999 vom Blue-Note-Label veröffentlicht.
Der großartige Eric Dolphy war unter anderem an der Einspielung von Klassikern des Genres wie Ornette Coleman’s ‚Free Jazz‘ (1961, Atlantic), zahlreichen Charles-Mingus-Alben und den John-Coltrane-Perlen ‚Africa/Brass‘ (1961) und ‚Impressions‘ (1963, beide: Impulse!) beteiligt, seine eigenen Veröffentlichungen waren und sind hochgelobt, ein Reinhören in die Live-Aufnahmen ‚At The Five Spot‘ (1961, New Jazz), in das zweite Studio-Album ‚Out There‘ (1960, New Jazz) oder den kurz nach seinem Tod veröffentlichten Meilenstein ‚Out To Lunch!‘ (1964, Blue Note Records) lohnt immer.
Eric Dolphy ist im Juni 1964 während einer Europa-Tournee viel zu früh im Alter von 36 Jahren in Berlin an den Folgen einer nicht diagnostizierten Diabetes-Erkrankung gestorben.
Frank Zappa, der Dolphy zu seinen maßgeblichen Einflüssen zählte, setzte ihm 1970 auf der LP ‚Weasels Ripped My Flesh‘ (Bizarre) mit der Instrumental-Nummer „Eric Dolphy Memorial Barbecue“ ein musikalisches Denkmal.
(**** ½ – *****)
„Überzeugend. Leider in englisch.“ (Hans Keller, Sounds 9/80)
39 Clocks – 13 More Protest Songs (1987, What’s So Funny About)
Man kann durchzählen, so oft man will, mehr als 11 Songs werden es nicht auf dem einzigen Comeback-/Reunion-Tonträger des Psychedelic-Underground-Duos 39 Clocks aus Hannover, die Herren Jürgen „J.G.39“ Gleue und Christian „C.H.39“ Henjes hatten’s nicht nur mit dem Addieren nicht, auch als Native Speakers gingen sie aufgrund ihres unüberhörbaren teutonischen Akzents beim Vortrag ihrer englischen Lyrics kaum durch, ansonsten gab und gibt es beim akustischen Velvet-Underground-Psychedelic-Folk/-Blues der beiden Niedersachsen nichts zu beanstanden, wie auf den beiden Vorgänger-Longplayern ‚Paint It Dark‘ (1981, No Fun Records) und ‚Subnarcotic‘ (1982, Psychotic Promotion) bot das Duo nach zwischenzeitlicher Auflösung auf dem 1987er-Werk eklektischen Psycho-Trash-Blues-Folk im LoFi-Format zu einer Zeit, als die Prägung des Begriffs LoFi noch in weiter Zukunft lag.
Schönes Plattencover auch im Stil der alten Nikki-Sudden-/Jacobites-Scheiben, die musikalische, latent-morbide Geistesverwandtschaft zum Londoner Kult-Barden ist überdies unüberhörbar.
1987 hätte es fast mit einer Live-Begutachtung geklappt, beim „59:1“-Festival in der Münchner Alabamahalle – unter anderem mit John Cale – standen sie auf Programmzettel/Plakat/Ticket, wurde dann nix draus, das Duo war wohl bereits wieder in Auflösung begriffen, als Ersatz spielte die Berliner Trash-Combo Lolitas um die heutige Stereo-Total-Musikerin Françoise Cactus. War auch nicht schlecht.
(****)