Die Spielarten des Metal: Zwei ausgeprägt individuelle Formationen aus der Sparte der extrem lauten Gitarren-Musik waren am vergangenen Sonntagabend im Münchner Feierwerk zu Gast. Bevor die für das anstehende dunk!Festival im Vorfeld sehnlichst erwarteten, indes heuer beim belgischen Postrock-Gipfel erstmals seit Jahren leider in keiner einzigen Inkarnation vertretenen Church-Of-Ra-Kirchenväter den vollbesetzten Hansa39-Saal mit einem denkwürdigen Sound-Beben erschütterten, durfte ex-Chanel-Model Amelie Bruun und ihre Landsmänner der dänischen Black-Metal-Combo Myrkur den Gehörgänge-reinigenden Reigen eröffnen. Hinsichtlich nordischer Mystik und mittelalterlichem Firlefanz etwas dick aufgetragen, hauchte Bruun in weißes Linnen als Burgfräulein gewandet ihre elfenartigen Sirenengesänge zum brachialen, mitunter eine Spur zu simpel gestrickten Black-/Doom-Gothic ihrer in Henkers-Kutten vor sich hin lärmenden Mitmusikanten. Dass Amelie Bruun über eine exzellente Singstimme verfügt, ist spätestens seit der sakralen Choral-Interpretation/Neueinspielung „Mausoleum“ ihres eigenen Metall-Debüt-Albums „M“ bekannt, und so konnte die junge Frau auf der von Trockeneis-Nebel in diffuses Licht getauchten H39-Bühne neben dem handelsüblichen Heavy-Noise-Gepolter mit wunderschönen A-Cappella-Einlagen und einer intensiven, nur vom eigenen Handtrommel-Anschlag begleiteten, alten skandinavischen Folklore-Nummer begeistern, in der es inhaltlich um irgendeinen Kampf mit dem Troll ging – auch der Folk der Amelie Bruun mag sich nicht fortbewegen von dieser Game-of-Thrones-artigen, mystisch durchwehten Welt der Schwert-Schwinger, Magier und bösen Geister. 45 Minuten Nordländer-Härte aus der LARP-Ecke konträr-kontrastreich von der blonden Schönheit mit Engelszungen begleitet erfüllten allemal ihren Zweck zur Animation der freudig Beifall-spendenden Metaller-Fraktion vor der Bühne, ob das Konzept über die volle Konzertdistanz trägt, wird sich vermutlich beizeiten finden.
Im Hauptteil der Veranstaltung dann die sonntägliche Abendmesse als erhebendes Hochamt zelebriert von Amenra, den Postmetal-Hohepriestern der Church Of Ra, jenem Kollektiv gleichgesinnter belgischer Musiker, in dessen losem Verbund sich neben Bands wie The Black Heart Rebellion oder Oathbreaker auch die Soloprojekte Syndrome und CHVE der Amenra-Musiker Mathieu Vandekerckhove und Colin H. Van Eeckhout tummeln. Am Sonntag-Abend war erwartungsgemäß kaum etwas zu vernehmen von den entschleunigten Desert-Drones Vandekerckhoves oder den Drehleier-begleiteten CHVE-Ambient-Meditationen, wenn auch Sänger Colin H. Van Eeckhout das Amenra-Konzert eingangs rituell kniend und perkussiv trommelnd zur dräuenden, sich zusehends in der Intensität steigernden Postrock-Düsternis seiner Bandkollegen mit dem Rücken zum Publikum in kontemplativer Versenkung eröffnete, ein letztes Sammeln und Gewahr-werden der inwendig brodelnden Kräfte vor dem überwältigenden und mitreißenden Sturm, den das Quintett aus Westflandern dann für die nächsten gut 80 Minuten entfachen sollte. Begleitet vom verzweifelten Geschrei Van Eckhouts, der große Teile des Konzerts dann tatsächlich weiterhin dem Publikum abgewandt berserkerte, spielten die Musiker ihr ureigenes Hohelied des Post-, Doom- und Sludge-Metal, nach Momenten der wiederkehrenden Trance-artigen Versenkung entluden sich im Nachgang minutenlange, heftigste Sound-Wellen über das Publikum, einem „Sänger“ wie Van Eeckhout nimmt man die innere Pein und den Schmerz zu jeder Sekunde seines sich maximalst verausgabenden Ausbruchs ab, mehr Herausbrüllen und therapeutisches Verarbeiten der eigenen Dämonen ist selten, ein entsprechendes tonales Transportieren der Zustände durch die begleitenden, schwergewichtigen Gitarren-Flows nicht minder. Amenra-Auftritte sind die in Musik gegossenen Schmerzen und der in Töne gefasste Irrsinn des Lebens, ein fulminantes, wütendes Aufbegehren, dem eigenen Wahnsinn und der Verzweiflung eine Stimme gebend, Kontemplation und Katharsis, das alles getragen von einem kaum in Gänze fassbaren, intensiven Klangrausch. Das Nietzsche-Wort vom Starren in den Abgrund, der irgendwann zurückblickt, dürfte sich konzertant selten bei einer Band mehr bewahrheiten.
Neun Extrem-Exerzitien, von den aktuellen, exzellenten Arbeiten „Plus Près De Toi“ und „Diaken“ vom letztjährigen „Mass VI“-Großwurf bis weit zurückgehend in der Bandgeschichte mit spirituell-religiös durchwirkten Meisterwerken wie „Am Kreuz“, „Nowena | 9.10“ oder dem keine Fragen mehr offen lassenden konzertanten Abgesang „Silver Needle, Golden Nail“.
Kommunikation mit dem Publikum: Fehlanzeige. Hätte auch kaum ins Bild gepasst. Zugaben: auch keine. Tat auch nicht Not. Mehr Postmetal-Herrlichkeit – man ist geneigt zu behaupten: Postmetal-Gesamtkunstwerk – ist nicht vorstellbar. So oder so: das schwarzgewandete Quintett mit der exzessivst auf der eigenen Haut verewigten Tintenkunst aus der westflämischen Stadt Kortrijk ist ohne Zweifel eine Liga für sich. Amenra: die lange erwartete Krönungsmesse, endlich vor Ort, keine Absolution und keinen Exorzismus mehr offen gelassen, was will man mehr?
„That’s fantastic that you’re passionate about cardboard and listening to music on multi colored plastic You’re a collector of rare vinyl, a total fanatic, that’s completely absolutely hip, motherfucking fantastic But I’m more concerned with how I feel“ (Jesu/Sun Kil Moon, Good Morning My Love)
Tonträger-Ranking 2016. Eine rein subjektive Zusammenstellung, die keinerlei Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt und selbstredend viele Lücken aufweist, man kann bei weitem nicht alles hören und gebührend würdigen, was von Interesse wäre.
Weg von der klassischen Songstruktur, hin zu instrumentalen Klang-Epen, so die individuelle Hörer-Tendenz im dahinscheidenden Jahr. Viele alte Helden haben sich reihenweise mit im besten Fall uninspirierter Durchschnittsware in die Belanglosigkeit verabschiedet, eine der wenigen rühmlichen Ausnahmen war Leonard Cohen mit seinem finalen „You Want It Darker“-Werk, aber der hat sich dann leider postwendend nach Veröffentlichung endgültig ganz woanders hin verabschiedet.
Kulturforum-Top-100 2016, ein paar Scheiben auch noch aus 2015, aufgeteilt in die Sparten Reguläre, Sampler, Bergungskommando, here we go:
(09) Russian Circles – Guidance (2016, Sargent House)
Das Postmetal-Trio aus Chicago bleibt eine verlässliche Größe des Genres und liefert mit „Guidance“ eine ihrer bis dato besten Arbeiten ab.
Das war’s für 2016. Kein schlechtes Musikjahr. Der schmutzige Rest in der realen Welt: Für die Zukunft viel Luft nach oben, keine Frage. Gerhard Polt würde sagen: „Wir stehen vor schwierigen Herausforderungen, die sehr schwierig sind.“
Kommt gut rüber ins neue Jahr, ich wünsche Euch für 2017 nur das Beste, bleibt auf Sendung, habt Glück und bleibt vor allem gesund. Danke an alle, die hier mitgelesen haben, danke für die Rückmeldungen, Anmerkungen, Kritik und Ergänzungen in den Kommentaren. Highly appreciated. Und jetzt hoch die Tassen…
Myrkur – Mausoleum (2016, Relapse Records)
Das im letzten Jahr veröffentlichte Longplayer-Debüt „M“ des Ein-Frau-Black-Metal-Projekts Myrkur der dänischen Songwriterin Amalie Bruun ist in der einschlägigen Szene nicht überall auf Gegenliebe gestoßen, die Ergänzung der schneidenden Gitarren-Riffs und des Höllengebrülls der jungen Kopenhagenerin um klassische Choräle war manchem Vertreter der reinen Lehre im wahrsten Sinne des Guten zuviel und somit die ein oder andere finstere Verbal-Attacke wert. Anyway, für Freunde der mittelalterlichen Klassik und des Post-Metal war die Scheibe mit der ungewöhnlichen Stilmixtur allemal ein Reinhören wert.
Auf den vor Kurzem veröffentlichten Live-Einspielungen aus dem historischen Emanuel-Vigeland-Mausoleum im norwegischen Slemdal/Oslo finden sich neben einem neuen Werk und einer Coverversion von „Song To Hall Up High“ der schwedischen Black-Metal-Combo Barthory sieben reduzierte Neuinterpretationen von „M“-Songs, aus denen Amelie Bruun die Metal-Komponente herauskickte und ihre Vokalkunst auf einen ergreifenden Vortrag aus mystischem, sakralem Chorgesang treffen lässt, der in seiner ganzen Pracht von schwerem Klavier-Anschlag und mittelalterlichem Lauten-Spiel verstärkt wird.
Bruun an Gesang und Piano, massiv unterstützt vom Norwegian Girls Choir und dem norwegischen Gitarristen Håvard Jorgensen, treibt das Schwarzkittel-Inferno in Richtung Neofolk, Ambient, Darkwave, Thomas Tallis, Hilliard Ensemble. Schaurig-schöner, großartiger Stoff.
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