Der Sänger der österreichischen Punk-Band The Forum Walters aus Vöcklabruck haut einen raus: Ein Winterlied aus der alpenländischen Folklore. Mit Weißen Weihnachten is eh nix, da kann man auch im Dezember in Shorts rumrennen. Frohes Fest allerseits.
Der Sänger der österreichischen Punk-Band The Forum Walters aus Vöcklabruck haut einen raus: Ein Winterlied aus der alpenländischen Folklore. Mit Weißen Weihnachten is eh nix, da kann man auch im Dezember in Shorts rumrennen. Frohes Fest allerseits.
Wolf Haas – Junger Mann (2018, Hoffmann und Campe)
„Nett ist der kleine Bruder von scheiße“ sagt ein derbes Sprichwort. Der Österreicher Wolf Haas hat mit „Junger Mann“ ein nettes Buch über eine Dreiecks-Beziehung geschrieben, vordergründig und unter anderem. Und in dem Fall geht es ohne den Fäkal-Zusatz, denn an dem dünnen 240-Seiten-Schmöker gibt’s einschränkend nichts zu mäkeln, punktum. Alles nett, mittels unaufgeregtem Dahinplätschern und hinsichtlich Banalität auf die Spitze getriebener Dialoge: Wortwitz meets Weltschmerz-Blues in einer Coming-Of-Age-Biografie, schwer vermutlich mit wie auch immer gewichteten Anteilen aus der Vita vom Herrn Haas selbst, dazu veritables Weight-Watchers-Drama, literarisches Roadmovie und eingehende Auseinandersetzung mit der Seelenpein der platonischen Liebe, der Tristesse an der Tankstelle und den Eigenheiten der österreichischen Psychiatrie.
„Im Gegenteil. Du wirst es mir nicht glauben, aber ich bin gern hier.“ Da ist er, exemplarisch auf Seite 93, ein typischer Haas-Satz. In seinen Brenner-Romanen hätte er ihn anders formuliert, direkte Anrede des Lesers Hilfsausdruck. Ansonsten: alles leiwand und lakonisch unterhaltsam. Falls Ihr keinen Bock oder keine Zeit zum selber lesen habt – was ein schweres Versäumnis wäre – der Autor übernimmt das gern für Euch, unter anderem nach überstandener Weihnachts-Völlerei am 28. und 29. Dezember im Münchner Volkstheater, jeweils 20.00 Uhr.
The Bevis Frond – We’re Your Friends, Man (2018, Fire Records)
90 Minuten The Bevis Frond vom Feinsten, und das nach über dreißig Jahren on the road und unzähligen Tonträger-Veröffentlichungen, wer hätte gedacht, dass sich Nick Saloman und die Seinen nochmal zu solchen Höhen aufschwingen? Zu den Schlechten war die Londoner Indie-Psychedelic-Institution nie zu zählen, aber was hier an umfänglicher, erschöpfender Neo-Spacerock-Seligkeit, gewichtiger Progressive-Schwere und ausladender Psych-Folk-Melodik durch die Beschallungs-Anlagen gewuchtet wird, nötigt doch nochmal eine gehörige Portion mehr als üblich an Respekt ab. „Enjoy“ fällt als furioser Opener gefangen nehmend und rundum beglückend mit der Tür ins Haus und macht das Genießen zu einer der leichtesten Übungen, so wie in vergangenen Zeiten wunderbar erhebende Nummern vom Schlag eines „Coming Round“ oder „Johnny Kwango“ die Indie-Psychedelic-Messen eröffneten, und damit ist das qualitative Level der folgenden neunzehn Nummern an ausladenden Prog-Rockern und melancholischen Mid-Tempo-Folkrock-Balladen auf „We’re Your Friends, Man“ im Kern umrissen. Wer weiterhin dem Irrglauben aufsitzt, Dinosaur-Jr-Grunge-Grummler J Mascis hätte das exzessive Ausweiden von Weltschmerz, Melodie, Saiten-Gegniedel und Suhlen in süffigen, endlosen Moll-Akkorden in seinen beherzt-ausufernd dahinjaulenden Gitarren-Soli erfunden, lasse sich bitte von jeder beliebigen Bevis-Frond-Scheibe eines Besseren belehren, der aktuelle Tonträger bietet dahingehend beileibe nicht das schlechteste Anschauungs- oder vielmehr Anhörungs-Material zur nachhaltigen Korrektur.
(*****)
Ry Cooder – The Prodigal Son (2018, Caroline / Universal Music)
Klarer Fall von Schublade: Release zur Kenntnis genommen und dann postwendend in der Versenkung verschwinden lassen. Sowas geht heutzutage tatsächlich virtuell: Spotify-Download angeschmissen und dann monatelang nicht reingehört, schändlicher Weise und in dem Fall geradezu unverzeihlich. Dabei hat der alte Cooder im fortgeschrittenen Alter nichts verlernt und glänzt als profilierter Roots-Music-Veteran wie eh und je, weit entfernt von Geschmacks-beleidigenden Grausamkeiten seiner Rentner-Kohorte, den ungenießbaren Sinatra-Peinlichkeiten von der Nobelpreis-Bob-Müllhalde etwa, oder sterilem, glatt- und tot-produziertem Plastik-Ramsch, wie ihn der mittlerweile unsägliche Ungustl Van Morrison dieser Tage einmal mehr absondert.
„The Prodigal Son“ bietet alles, was die großartigen, ersten fünf Cooder-Alben aus den Siebzigern vom selbstbetitelten 1970er-Debüt bis zum fantastischen Americana/Tex-Mex/Blues-Crossover „Chicken Skin Music“ auszeichnete: Beseelten Swamp-Groove, zeitlosen Country-Blues, Appalachen-Bluegrass, Protest-Folk und spirituellen Gospel, Bottleneck-Trance, lässige Little-Village-Entspanntheit, kongeniales Fremd- wie Eigenwerk mit politischer Brisanz, sogar der verehrte, inzwischen leider im vergangenen Januar verstorbene Terry Evans ist als Gast-Sänger noch mit von der Partie, hier bleiben keine Wünsche für Cooder-Fans offen.
Schlechte Platten hat Ry Cooder sowieso seltenst abgeliefert, ein paar zu vernachlässigende Soundtracks mitunter, „The Prodigal Son“ dürfte mit zu seinen größten Würfen und rundum gelungensten Alben seit Jahrzehnten zählen. Schöner und gleichsam zeitgemäßer kann man den alten amerikanischen Volksmusik- und Protestsänger-Traditionen nicht nachspüren. Aber das wissen schätzungsweise mittlerweile eh schon alle, die es interessiert, die Scheibe gibt es bereits seit gut einem halben Jahr zu erwerben, und sie ist andernorts – shame on me! – nicht in der Schublade, sondern sofort und verdientermaßen im Soundsystem gelandet…
(*****)
Paulinchen Brennt – Wie Salz 7″ (2018, 30 Kilo Fieber Records / Different Records)
Paulinchen wird wohl eine Nette sein, oder gewesen sein, kommt drauf an, wie weit die Verbrennungsgrade fortgeschritten sind und ihre verheerende Wirkung taten. Jedenfalls eine Nette, sonst wäre ihr Name wohl kaum so putzig verniedlicht worden. Und dass sie dann wer anzündete, verstört schon ungemein. Befremdlich wie der Sound der gleichnamigen, dreiköpfigen Ost-West-Connection aus Leipzig und Nürnberg, im Mindesten für die Hörerschaft, die sich nicht ab und an eine gepflegte Prise Core, Metal und Noise reinpfeift.
Screamo meets Uptempo-Struktur, durchaus mit Anspruch und Provokations-Potential. Der als „Sänger“ agierende Brüller gibt in jedem Fall alles, was zu der Gelegenheit nicht wenig ist, knüppelhartes Core- und Metal-Gepolter, mit Verve, Herzblut und gezielten Breaks vorgetragen, und vor allem mit einer unverkennbaren eigenen Note gepfeffert. Schön auch der bluesige Unterton der längeren (nun gut, jedenfalls in diesem Kontext) Gitarren-Passagen.
(**** – **** ½)
Noise Raid – Trebellum EP (2018, Noise Raid)
Im Eigenverlag produzierte 3-Stücke-EP des Münchner Postmetal-Quartetts Noise Raid. Der Opener „Black Fog“ offenbart: Da ist Substanz in der musikalischen Vision der Instrumental-Combo. Druckvoller Losgeh-Indie mit dezenten Math-Rock-Einfärbungen inklusive nervöser, flirrender Gitarren-Breaks und vehement antreibender Rhythmik, not bad. Der Rest vom Schützenfest, sprich die beiden anderen Nummern: gefälliger State-of-the-Art-Postrock der härteren Gangart, schneidende Heavy-Riffs, die ganze gängige Palette des instrumentalen Polterns. „Würgegriff“ presst zuweilen den Achtziger-Hardrock aus den Verstärkern, Rainbow ohne Dio, quasi. Man könnte boshafter Weise fragen, wer braucht im fortgeschrittenen 21. Jahrhundert noch den Heavy-Sound der alten Garde, aber die fast ausverkaufte Münchner Olympiahallen-Show von Ritchie Blackmore und seiner Deep-Purple-Nachfolgeorganisation im Juni 2019 spricht da offensichtlich eine andere Sprache.
Unbrauchbare Vergleiche beiseite: Live sollen Noise Raid dem Vernehmen nach bereits auf sehr ordentlichem Intensiv-Niveau unterwegs sein, insofern: da kommt in Zukunft noch was angerauscht, aus heimischen Gefilden…
(**** – **** ½)
„Bella gerant alii, tu felix Austria nube“ – bei der Vereinigung der Herrscherhäuser via Hochzeits-Sause bewiesen die Österreicher einst eine glückliche Hand, auch heute noch mag die ein oder andere wie auch immer geartete Fusion geschmeidig, gegenseitig befruchtend und Besitzstands-mehrend über die Bühne gehen – auch wenn hierzu kein Walzer getanzt wird, kann dieser Tage beim stilistischen Verheiraten von Electronica/Industrial und Postrock ein großer Wurf aus der Alpenrepublik vermeldet werden: Die Wiener Formation Phal:Angst ist seit Ende September in die „Phase IV“ ihrer auf Tonträger veröffentlichten Arbeiten eingetreten, mit den fünf ausgedehnt überwältigenden Sound-Exzessen, die sich alle um die zehn Minuten Laufzeit bewegen, plus zweier nicht minder exzellenter, etwas kürzer gehaltener Remixe liefert das Quartett aus der Donaumetropole knapp über eine Stunde eindringliche Experimental-Beschallung, die mit elektronischem Beat und Bass-lastiger Polterei zum Zucken im Club-Bunker einlädt und sich einhergehend als Klang-epischer Hörgenuss nachhaltig in die Hirnwindungen fräst.
Schneidende Postrock-Gitarren wagen eine ausgewogen gelungene Symbiose mit elektronischem Ambient, treibenden Trance-Flows, dunklen Industrial-Rhythmen und abstrakten Digital-Drones, man möchte fast zum Begriff „harmonisch“ neigen, wäre der Spirit des Albums nicht von einer zutiefst nachdenklichen, selten aufgehellten, tendenziell geradezu pessimistischen Grundstimmung durchdrungen. Der zusätzlich mit EBM- und Electro-Wave-, Kraut- und modernen Progressive-Elementen angereicherte, mit melancholischer, klagender Stimme besungene und durch ausgedehnte Spoken-Word-Samples unterlegte Stil-Mix entwickelt hypnotische Sog-Kraft, der sich schwer zu entziehen ist, der dunkle Flow arbeitet gründlich, die Grundmuster der Songs werden ergiebig, opulent ausstaffiert und permanent mutierend durchexerziert.
Der „Deadverse“-Remix der Nummer „Despair II“ des amerikanischen Experimental-Hip-Hopers Will Brooks aka MC Dälek nimmt sich durch flirrende, verhallte Postrock-Gitarren geradezu luftig aus im Kontext des Gesamtwerks, am kontrastreichsten wohl zum massiven, Endzeit-Visionen befeuernden Drone-/Industrial-/Doom-Schwergewicht „They Won’t Have To Burn The Books When Noone Reads Them Anyway“, das nicht nur im Titel Erinnerungen an finsterste Momente der deutsch-österreichischen Geschichte heraufbeschwört. Eine scharfe Anklage und offene Wunde, die in metallener Härte und ergreifender Spannung noch vom JK-Flesh-Remix von Justin Broadrick gesteigert wird, da haben sich die vier Wiener mit dem Godflesh-/Jesu-Multiinstrumentalisten und Industrial-Metal-/Experimental-Großmeister genau den richtigen Hawara für diesen Job angelacht, zentraler ins abgrundtief Schwarze hätten sie zu dieser Rekrutierung nicht mehr treffen können.
Auch wenn das Plattencover einen vernichtenden Absturz suggerieren mag, ist „Phase IV“ ein einziger, rauschhafter Höhenflug in Staunen machenden, selten hell, oft dunkel funkelnden Electro-/Postrock-Sphären, in einem musikalisch weit reichenden Kosmos etwa von Coil bis Russian Circles, um ein paar referenzielle Fixsterne ins Spiel zu bringen – oder wie der Wiener und auch die Wienerin immer so schön kurz und knapp anmerken: eh olles leiwand!
(***** ½)
Die Münchner frameless-Reihe zur experimentellen Musik im digitalen Zeitalter startete mit Auflage 14 nach ausgedehnter Sommerpause in den Winterhalbjahr-Zyklus mit einer Auswahl an internationalen Künstlern, New Yorker Gitarren-Noise traf auf Wiener Klangexperiment und australische Videokunst, präsentiert von Karin Zwack sowie dem fördernden Kulturreferat der Landeshauptstadt München, wie stets charmant anmoderiert von Dr. Daniel Bürkner.
Zum Einstieg in den experimentellen Abend lotete der Wiener Klangkünstler Stefan Juster aka Jung An Tagen vom Virtual Institute Vienna die Möglichkeiten elektronischer Musik aus, die sich in seinem Vortrag mit Hilfe gesampelter Beats und abstrakter Töne wiederholt in Richtung verstörender Klangkollagen, weißes Rauschen, dunkler Klang-Explosionen aus den Tiefen des Raums und schwergewichtiger Industrial-Drones entwickelte, atonale Grenzerfahrungen, die an den Nerven der Hörerschaft zerrten und den Herzrhythmus partiell Stress-bedingt in die höheren Frequenzen zu treiben wussten. In den überwiegend strukturierteren Passagen pendelte die futuristische Electronica des jungen Österreichers zwischen reduzierter, repetitiver, hart wie artifiziell pochender Minimal Music, künstlichem Kraut-Space und – mitunter – tanzbarem, Melodien-andeutendem Techno-Flow, der zu den Gelegenheiten dann tatsächlich auch angenehm ins Ohr gehen mochte. Synthetische, konzeptionelle Verfremdung von Tönen und Rhythmen ist der Aufhänger, unter dem die avantgardistischen Klanglandschaften von Jung An Tagen zu verorten sind, nicht jede/r aus der Hörerschaft mochte an dem Abend den reinen Kunstgenuss aus der Aufführung ziehen, eine hochspannende wie alles andere als alltägliche konzertante Erfahrung war es in jedem Fall.
(**** – **** ½)
Die unter dem Pseudonym Noveller auftretende Sarah Lipstate aus Brooklyn ist in der Welt der Noise-Gitarre kein unbeschriebenes Blatt, die junge Amerikanerin hat bereits mit gewichtigen Namen des Genres wie der australischen Experimental-Koryphäe Ben Frost, dem ex-Sonic-Youth-Gitarristen Lee Ranaldo oder dem kürzlich hier vorgestellten Kanadier Eric Quach und seinem Projekt thisquitarmy kollaboriert, dementsprechend war der Vorschusslorbeeren-Strauch ein ausgewachsener hinsichtlich anstehendem frameless-Auftritt, die Erwartungen wurden am Mittwoch-Abend indes nur bedingt erfüllt. Optisch wurde das Konzert von einer Video-Arbeit der Komponistin und Filmemacherin begleitet, auch hinsichtlich der abstrakten, beliebig wie zusammenhanglos wirkenden, bewegten Bilder hielten sich die Begeisterungsstürme in Grenzen. Der musikalische Vortrag von Noveller war bestimmt von Loop-gestütztem, Ambient-Sampling-begleitetem, hypnotischem Gitarren-Drone und schwergewichtig angeschlagenen Indie-/Noise-/Post-Rock-Phrasierungen, punktuell bereichert vom Spiel mit dem Geigenbogen auf den sechs E-Gitarren-Saiten zur Erzeugung dezenterer, elegischer Sphären-Klänge, leidlich gefällig im rein instrumentalen Gewand als einzelne Skizzen und Miniaturen, im Gesamtbild aber kaum mehr. Zu erratisch und zerklüftet in der stilistischen Ausgestaltung, zu sehr auf optische Präsenz und Frickeln an den zahlreichen Gitarren-Effektgeräten als auf einen stringenten, ein Konzept erkennen lassenden Flow war das knapp 45-minütige Solo-Konzert von Sarah Lipstate ausgerichtet, als dass am Ende mehr als der höfliche Applaus der frameless-Besucher_Innen hätte herausspringen können.
(*** ½)
Im Nebenraum des Konzert-Gewölbes wurde parallel zu den instrumentalen Aufführungen die Videoarbeit „The Good Girl And The Other“ der australischen Künstlerin Clare Rae gezeigt, der repetitive Endlosschleifen-Film, realisiert im Stop-Motion-Verfahren, zeigt die Video-Artistin, wie sie in einem Restaurant mit sich selbst Plätze tauscht. Der Film will sich mit dem Rollenverständnis des „braven Mädchens“ und dem ambivalenten Verhältnis zu digitalen Identitäten und den daran geknüpften Erwartungen auseinandersetzen.
frameless15 findet am 14. November an gewohnter Örtlichkeit im Einstein Kultur statt, Einsteinstrasse 42, München, 20.00 Uhr, Eintritt frei.
Die inzwischen weit über die Grenzen Münchens bekannte und außerordentlich geschätzte „Rumpeljazz“-Combo Hochzeitskapelle wird in einem gemeinsamen Konzert auf den japanischen „Native-Underground“-Musiker Takuji Aoyagi aka Kama Aina treffen, man darf sich bereits jetzt in den Zustand freudiger Erwartung versetzen. Darüber hinaus präsentiert die 15. Ausgabe der Experimentalmusik-Reihe ein Konzert des australischen Electronica-Tüftlers John Chantler und digitale Medienkunst des unter dem Label Qubibi arbeitenden Japaners Kazumasa Teshigawara.
“Diese Band ist nicht respektlos sondern gnadenlos… Eine Beschwörung der radikalen Traurigkeit im Schlager.”
(Die Presse, Wien)
“Links und rechts sind die Haare, aber der Scheitel selbst ist nichts. Eine Demarkationslinie zwischen Kläglichkeit und dem Erhabenen, dem Pathos.”
(Fritz Ostermayer)
Guter Vorsatz für’s neue Jahr: Wiederbelebung dieser Reihe zur Vorstellung popularmusikalischer Glanzleistungen, die Schätze längst vergangener Zeiten kommen im hektischen Alltags-Betrieb mit permanent reindrückender, frischer Ware oft viel zu kurz.
Im Jahr 1994 haben sich Geistesmenschen wie der begnadete österreichische Musik-Journalist und Radio-DJ Fritz Ostermayer, sein Journalisten-Spezi Christian Schachinger, der Wiener Künstler Michael Krupica oder der auch heute noch bei den Buben im Pelz und zwischenzeitlich bei der Combo Neigungsgruppe Sex, Gewalt und Gute Laune aktive Christian Fuchs zum einmalig auf Tonträger dokumentierten Projekt Der Scheitel zusammengetan, um unter Mithilfe namhafter Gaststars eine einzigartige Songsammlung aus Traditionals, gut abgehangenen Schlagern und ausgewählten Preziosen aus der weiten Welt der Pop-Musik im Geiste von Trash-Kitsch, Freddy Quinn, Johnny Cash und dem unvergleichlichen Helmut Qualtinger unters Volk zu bringen.
Es gibt Musiker, deren Kunst ist einfach Abgrund-tief schlecht, Stichwort/Beispiele George oder Jackson Michael, da ist kein Platz für Komplizen-haftes Augenzwinkern, keine satirisch-ironisch angedachte Fußnote, kein „Das ist so schlecht, dass es schon wieder gut ist“, einfach nur synthetischer Sondermüll, und es gibt auf der anderen Seite jene Musiker, die haben im Vortrag des Banalen, des Billigen, des Schlager-haften diesen aus dem Erreichen des Bodensatzes mitgenommenen Aufschwung – der ab dem durchwanderten Tiefpunkt nur noch steil nach oben zeigt – implizit in ihrer Interpretation verankert, eben jenes Geniale im an sich Befremdlichen, Abgeschmackten, Sentimental-Geschmacklosen, und in genau diese Kategorie fallen die fünfzehn Interpretationsansätze auf „…in einem Haus das Liebe heißt“, die Scheitel-Band covert sich in einer unnachahmlichen Mixtur aus rumpelndem Schlager-Kitsch, Alternative-Country-Schräglage inklusive maximal ausgereiztem Pedal-Steel-Schmelz, Tanzcombo-Hammondorgel-Beschallung, latent angesoffenem Bierzelt-Combo-Gepolter und einer gehörigen Portion Wiener Schmäh durch Schlager-/Traditional-Allgemeingut wie „Carrickfergus“, dem Roy-Black-Schmachtfetzen „Wahnsinn“ oder „Follow Me“ mit der Münchner Künstlerin und F.S.K.-Musikerin Michaela Melián in einer Gastrolle als Amanda Lear. In der Udo-Jürgens-Glanznummer „Es war ein Sommertraum“ kommt Tav Falco als Special Guest am Gesang zu seinem großen Auftritt (nicht der naheliegende Hansi-Hölzel-Falco, sondern tatsächlich Granate Gustavo, der zusammen mit seiner Combo Panther Burns 1982 mit „Behind the Magnolia Curtain“ seinen großen Trash-Blues-Moment hatte und der mit „Like Flies On Sherbert“ Alex Chilton’s Genre-Meisterwerk den Titel gab, im Übrigen auch ein paar Kandidaten für diese Rubrik).
„The Hate Inside“ vom australischen Beasts-Of-Bourbon-Meisterwerk „Sour Mash“ (1988, Red Eye Records) wird mit „Da Hoß in mia“ eingewienert, eine Steigerung hinsichtlich fatalistisch herausgerotztem Nihilismus in der Textzeile „Wenn da Hoß in mia moi aussekummt, dann gehst in Oasch, du gschissene Wööd“ ist schwer denkbar, weitaus mehr positiv besetzter Humor macht sich in der lässig-schrägen Country-Interpretation der Bowie-Nummer „Helden“ breit, und die Attwenger-Ballade „Summa“ bleibt auch in der Scheitel-Bearbeitung eine ergreifende Angelegenheit mit viel Akkordeon und Schmalz, die Musikanten Hans-Peter Falkner und Markus Binder von dene Attwenger revanchieren und bedanken sich postwendend durch Beitrag zum Traditional „Mariana“.
„Selten war traurig so lustig“ hat mal ein schlauer Mensch über die Musik der Dad Horse Experience verlautbaren lassen, für das erste und einzige Scheitel-Album trifft diese Einschätzung nicht minder zu. Alle, die früher regelmäßig die Ö3-Musicbox gehört haben, heute noch bei „Willkommen Österreich“ von Stermann & Grissemann vor der Glotze hängenbleiben, den „Herrn Karl“ auswendig runterbeten können, den deutschen Schlager der fünfziger bis siebziger Jahre in ihrer wahren Pracht erkennen oder einfach nur einen Funken Zuneigung für den abseitig-morbiden Humor der notorisch schlecht gelaunten Hälfte der Bevölkerung der schönen Stadt Wien haben, sollten mindestens einmal im Leben dem Scheitel ihr Gehör leihen, eh klar.
Das lange vergriffene Wunderwerk ist dankenswerterweise 2007 beim Münchner Trikont-Label wiederveröffentlicht worden, ein Hoch auf die Giesinger Independent-Bastion des guten Musikgeschmacks.
(******)