Patti Smith

Reingelesen (46)

patti_smith_m_train

„Als ich zu schreiben begann, gab es noch das Café `ino, mein Lieblingsmantel war noch da, meine Lieblingsshow lief noch im Fernsehen. Ich hatte keine Ahnung, das am Ende des Buches so vieles, was ich liebte, verschwunden sein würde. Sogar zwei meiner Katzen waren tot, als ich mit dem Buch fertig war.“
(Patti Smith im Interview mit Susanne Mayer, Zeit Literatur No. 13 / März 2016)

„In meiner Sehnsucht nach Dauerhaftem musste ich vermutlich daran erinnert werden, wie flüchtig Dauerhaftes ist.“
(Patti Smith, M Train, Abgeschrittene Erde)

Patti Smith – M Train. Erinnerungen (2016, Kiepenheuer & Witsch)

Der M Train als Titelgeber, die New Yorker U-Bahn-Linie, die bis 2010 nach Coney Island/Brooklyn fuhr, dort, wo sich Patti Smith in einem renovierungsbedürftigen Bungalow in der Nachbarschaft am Rockaway Beach ein neues Zuhause suchte, diese Geschichte wird auch erzählt im Buch, „M“ will die Autorin aber in erster Linie im Sinne von Mind, Gedanken verstanden wissen.
Nach den hochgelobten und eminent erfolgreichen Erinnerungen „Just Kids“ (2010, Kiepenheuer & Wirsch) an ihren langjährigen Freund und ‚Horses‚-Cover-Fotografen Robert Mapplethorpe nun im aktuellen Werk das Gedenken an verblichene literarische Helden, verschwundene Kaffeehäuser und die Toten aus dem engsten Familienkreis.
Patti Smith erzählt von Reisen nach Yorkshire an das Grab von Sylvia Plath und auf die zu Französisch-Guayana gehörende Teufelsinsel, um am Sehnsuchtsort des französischen poète maudit Jean Genet Steine von den Ruinen der örtlichen Strafkolonie für ihn zu sammeln, die sie ihm zu Lebzeiten nicht mehr überreichen konnte und bei einer Reise nach Marokko auf sein Grab in Larache legte, zu der Gelegenheit besuchte sie auch den Schriftsteller Paul Bowles für ein Interview für die deutsche Vogue. Die Nummer geht nicht ohne Pathos ab im Buch und das mitunter arg aufgesetzt wirkende Gewese um literarische Vorbilder/Helden muss von der Leserschaft des öfteren schwer verdaut werden, in Sachen Namedropping und Ikonenverehrung übertreibt das Werk in einigen Passagen gehörig in Richtung Besessenheit, weitere Größen wie Frida Kahlo, William Blake, Roberto Bolaño, Tolstoi, Schiller, Murakami erhalten die entsprechende (oft selbstredend trotz allem auch berechtigte) Beweihräucherung.

„Ich persönlich halte nicht viel von Symbolismus. Ich verstehe ihn nicht. Warum können Dinge nicht so sein, wie sie sind? Mir kam nie in den Sinn, Seymour Glass zu analysieren oder „Desolation Row“ aufzuschlüsseln. Ich wollte mich nur verlieren, mit etwas anderem eins werden, einen Kranz auf einen Turm stülpen aus dem einzigen Grund, weil ich es wollte.“
(Patti Smith, M Train, Tierkekse)

Weitaus unterhaltsamer ist die Schilderung ihrer Begegnung mit dem ehemaligen Schachweltmeister Bobby Fischer am Rande einer Tagung des dem Gedenken an den Polarforscher Alfred Wegener verpflichteten Continental Drift Clubs in Reykjavik, Smith war Mitglied der Gesellschaft bis zu deren Auflösung, nachdem Fischer rassistischen Müll und Verschwörungstheorien zum Besten gab (Patti Smith: „Hör mal, du verschwendest deine Zeit. Ich kann genau so widerlich sein wie du, nur in Bezug auf andere Themen.“), sang man gemeinsam Buddy-Holly-Lieder, an der Stelle endlich ein Bezug zur Popmusik ;-))
Parallel dazu ist die 330-Seiten-Textsammlung eine schöne Studie über die Kaffeehaus-Kultur, speziell das 2013 aus Patti Smith‘ Village-Nachbarschaft verschwundene Café `ino erhält ein würdiges literarisches Denkmal, stellvertretend für ihre geistige Heimat New York.

„Ich hatte keine Ahnung, ob Bachs Kaffeekantate ein geniales Werk war, aber seine Begeisterung für Kaffee zu einer Zeit, in der er als Droge verpönt war, ist wohlbekannt. Eine Gewohnheit, die Glenn Gould vermutlich übernahm, als er mit den Goldberg Variationen verschmolz und ziemlich verrückt am Klavier rief: Ich bin Bach! Nun, ich war niemand. Ich arbeitete in einem Buchladen und nahm Urlaub, um ein Buch zu schreiben, das ich nie wirklich schrieb.“
(Patti Smith, M Train, Wheel Of Fortune)

Großartig ist das Buch in den Momenten, in denen Patti Smith ihren Songtexten gleich scheinbar fließend die Themen und Bilder wechselt und oft unvermittelt ihrer verstorbenen Liebsten gedenkt, ihrem Vater Ian Smith und der Kindheit in New Jersey, ihrem im Jahr 1994 früh verstorbenen Ehemann, dem MC5-Gitarristen Fred ‚Sonic‘ Smith, und dem ebenfalls kurz darauf früh verblichenen Bruder Todd. Hier werden ihre Gedanken persönlich, zupackend, direkt, oft sehr berührend, trotz des fühlbaren Schmerzes aber immer auch tröstlich, im besten Falle transportiert Patti Smith hier religiös anmutende, Religions-freie Weisheiten.

„Ich möchte die Stimme meiner Mutter hören. Ich möchte meine Kinder als Kinder sehen. Kleine Hände, flinke Füße. Alles verändert sich. Der Junge ist erwachsen, der Vater ist tot, die Tochter ist größer als ich und erwacht weinend aus einem schlimmen Traum. Bitte bleibt für immer, sage ich zu den Dingen, die ich kenne. Geht nicht fort. Werdet nicht groß.“
(Patti Smith, M Train, Sturmluftdämonen)

Die Gedanken zur eigenen Vergangenheit, zu nicht immer angenehmen oder rätselhaften Träumen, das Reisen um die Welt zu den Gräbern und Lieblingsorten der Helden und Vorbilder sind ergänzt mit Schwarz-Weiß-Polaroid-Fotos der Künstlerin, vom Schachtisch etwa, an dem sich Fischer und Spasski 1972 gegenüber saßen, Bilder diverser Cafés oder vom Strand in Far Rockaway nach den Verwüstungen des Orkans „Sandy“, mit einer persönlichen Note versehen wie die individuellen Gedanken zu den angerissenen Themen.
„Just Kids“ war durchgehend großer Autobiographie-Stoff, bei „M Train“ muss der Leser in etlichen Passagen Abstriche machen, zu erratisch ist das Wandeln zwischen den Sujets, zu Stakkato-haft werden die Eindrücke und Gedanken geschildert, der sprichwörtliche rote Faden ist oft schwer zu erkennen. Die große thematische Klammer bleibt die Erinnerung, die in einigen Kapiteln zu vieles gleichzeitig dokumentieren und wachrufen will.
Um einen im schlimmsten Fall hinkenden Vergleich zu den musikalischen Patti-Smith-Werken zu wagen: Wo „Just Kids“ qualitativ im Transport großer Momente und eindrücklicher Bilder auf literarischer Ebene dem 70er-NY-Punk-Meilenstein ‚Horses‚ gleichkommt, stagniert „M Train“ auf ‚Gung Ho‘-Level (2000, Arista), bestenfalls oder immerhin, je nach Sichtweise.
Erfreulicher, unterhaltsamer und gewinnbringender ist die M-Train-Lektüre nichtsdestotrotz allemal mehr als der Konsum von Patti Smith‘ zuletzt veröffentlichten, tendenziell belanglosen Alben ‚Twelve‘ (2007) und ‚Banga‘ (2012, beide Columbia).

„Sie verschwanden hastig um die Ecke und ließen einen schrumpfenden silbernen Luftballon zurück, der über dem Gehsteig schwebte. Ich ging hin, um ihn zu retten, als er gerade schlaff den Boden berührte.
– Ein ziemlich gutes Sinnbild für alles, sagte ich laut.“
(Patti Smith, M Train, Umschalten)

PATTI SMITH AND HER BAND perform HORSES @ Tollwood München 2015-07-13 (7)

Werbung

Abgerechnet wird zum Schluss: Die Konzerte des Jahres 2015

Die Top-25 + x, irgendwie:

AND SO I WATCH YOU FROM AFAR @ Ampere München 2015-05-23 (2)

(01) And So I Watch You From Afar @ Ampere, 2015-05-23
War bereits im Frühjahr offensichtlich, dass der Auftritt schwer zu toppen sein wird. Die nordirische Band, die auf Tonträgern seltsamerweise eher weniger überzeugt, zog konzertant alle Register des Post- und Prog-Rock. Hat die Nase natürlich auch deshalb hauchdünn vorne, weil der Robert, der Anton, der Wojciech und ich unverhofft in einer Doku von ‚Delayed Cinema!‘ über die Band zu Kurzauftritten kamen. Noch nicht Hollywood, aber immerhin… ;-)

(02) Godspeed You! Black Emperor @ Freiheiz, München, 2015-04-09
Nochmal sechs Sterne für die Gattung Postrock: Weit über 10 Jahre haben wir in München warten müssen, bis die kanadische Speerspitze des Genres sich wieder die Ehre gab, im April wurde die elendigliche Warterei fürstlich belohnt.

GODSPEED YOU! BLACK EMPEROR @ Freiheiz München 2015-04-09 (19)

(03) Great Lake Swimmers @ Hauskonzerte, München, 2015-10-04
Kanada, die zweite: Mehr Holzveranda-/Lagerfeuer-Seeligkeit geht nicht als in der Live-Präsentation des Rundumglücklich-Folk-Pakets der Great Lake Swimmers aus Toronto/Ontario.

Great Lake Swimmers @ Deeper Down Festival, Hauskonzerte, München, 2015-10-04 (11)

(04) Hochzeitskapelle + Thisell @ Maximiliananlagen, München, 2015-08-03
Mundpropaganda-Konzert, auf die Beine gestellt von innen.aussen.raum: Ein perfekter Sommerabend und vielleicht das schönste Open Air seit Jahren, dank herrlichem Sommerwetter, einem wunderbaren Flecken Grün an der Isar, einigen gekühlten Bieren und zwei Musik-Kapellen der Sonderklasse: der Notwist-/Zwirbeldirn-Ableger Hochzeitskapelle und der schwedische Ausnahme-Folker Peter Thisell mit seinen hochsympathischen Begleitern. Die musikalische Krönung eines Jahrhundert-Sommers, nicht weniger.

HOCHZEITSKAPELLE @ innen.aussen.raum Maximiliansanlagen, München, 2015-08-03 (7)

(05) Reverend Deadeye + Brother Al Hebert @ Unter Deck, München, 2015-09-13
Joe Buck Yourself, Viva Le Vox, The Hooten Hallers @ Kranhalle, München, 2015-06-03
Carrie Nation & The Speakeasy, Milla, München, 2015-07-10
Delaney Davidson @ Unter Deck, München, 2015-07-01
Delaney Davidson presents Manos del Chango @ Unter Deck, München, 2015-11-03
The Dad Horse Experience, Ausstellungspark, München, 2015-01-20
The Dad Horse Experience + Pyrus @ Backstage free & easy Backyard Open Air Bühne, München, 2015-08-07
Muddy Roots„, nicht zu knapp im vergangenen Jahr, from the dark edge of your Soul, welche der Lord fixen und den Shit into Gold verwandeln möge, wie Dad Horse Ottn immer so schön sagt.

THE HOOTEN HALLERS @ Kranhalle München 2015-06-03 (6)

REVEREND DEADEYE & BROTHER AL HEBERT @ Unter Deck Munich 2015-09-13 (7)

(06) The Moonband @ Milla, München, 2015-05-14
Die inzwischen unangefochtene Nummer Eins der Münchner Folk-Bands hat heuer fleißigst ihr wunderbares Coverversionen-Album ‚Back In Time‚ (2015, Millaphon Records) promotet und am eindrucksvollsten gelang ihnen dies bei der Release-Party im Milla, ansonsten wie immer ganz exzellent auch zu folgenden Terminen:
The Moonband @ Kulturstrand, München, 2015-06-26
The Moonband @ Straßenfest Glockenbachwerkstatt, München, 2015-05-10

THE MOONBAND @ Straßenfest Glockenbachwerkstatt München 2015-05-10 (3)

(07) Antun Opic & Band @ Hades, München, 2015-06-25
Coco Schumann, Django Reinhardt und Tom Waits standen Pate beim Sound des Münchner Ausnahme-Musikers Antun Opic, der in diesem Jahr eine ganze Reihe herausragender Konzerte ablieferte, vor allem ein grandioses Fest im „Hades“, aber auch zu folgenden Gelegenheiten:
Antun Opic + Franziska Eimer + Die Schicksalscombo & Oansno @ Ander Art Festival, München, 2015-09-26
Antun Opic Duo + pourElise @ “Abendrot im Hinterhof”, KAP37, München, 2015-05-13

ANDER ART FESTIVAL München 2015-09-26 (4)

(08) Steve Wynn @ Südstadt, München, 2015-02-28
Die Dream-Syndicate-Legende und eine Gitarre, mehr braucht es nicht für einen rundum gelungenen Konzert-Abend im ‚Südstadt‘. Und wenn dann auch noch der Publikumswunsch Gehör findet…

STEVE WYNN @ Südstadt München 2015-02-28 (13)

(09) Steve Gunn Band @ Glockenbachwerkstatt, München, 2015-03-31
Der herausragende amerikanische Gitarrist zeigte, dass Indie-Rock nach wie vor eine spannende Angelegenheit sein kann.

STEVE GUNN + BAND Glockenbachwerkstatt München 2015-05-31 (2)

(10) Lost Name @ Theater Heppel & Ettlich, München, 2015-05-25
Der Münchner Andi Langhammer bot meisterhaften Experimental-Kammer-Folk im Vorprogramm zum Withered-Hand-Projekt des Schotten Dan Willson.

LOST NAME @ Theater Heppel & Ettlich München 2015-05-25

(11) Crippled Black Phoenix @ Strom, München, 2015-12-09
Vorweihnachtliches Prog- und Post-Rock-Deluxe-Paket vom englischen CBP-Kollektiv. Wie die Jahre zuvor ganz großer Sport.

Crippled Black Phoenix @ Strom München 2015-12-09 photo gerhard emmer_DSCF1367

(12) Nasmyth, Waves, Colaris @ Sunny Red, München, 2015-07-19
Terraformer, Nasmyth, Yakpilot @ Loft, München, 2015-04-12
Russian Circles + Majmoon @ Hansa39, München, 2015-06-18
München muss sich in Sachen Post-Rock weiß Gott nicht verstecken, grandiose Konzerte zuhauf auch dieses Jahr von Majmoon, Waves (die im Oktober ihr neues Album ‚Stargazer‘ veröffentlichten) und den leider im Herbst dahingeschiedenen Nasmyth, auf deren CD-Fertigstellung die Welt nichtsdestotrotz weiterhin sehnsüchtig wartet.

NASMYTH @ LOFT München 2015-04-12 (6)

(13) Sleaford Mods @ Hansa39, München, 2015-04-28
Der hingerotzte Elektro-Punk aus Nottingham hat im Vorfeld nicht zuviel versprochen. Andrew Fearn und Jason Williamson halten die Fahne der Arbeiterklasse hoch und das Genre am Leben.

SLEAFORD MODS @ Hansa 39 München 2015-04-28 (12)

(14) Gerner Zipfeklatscher @ KAP37, München, 2015-04-23
Unsere hiesigen most beloved Wirtshausmusikanten haben im KAP37 gezeigt, was alles geht, wenn das Publikum bei der Sache ist, einen Spaß versteht und schön mitsingt.
Des weiteren anno domini 2015 mitgegroovt zu folgenden Anlässen:
Gerner Zipfeklatscher @ Biergarten Herzkasperl-Festzelt, Oide Wiesn, Oktoberfest, München, 2015-09-27
Gerner Zipfeklatscher @ Fish ’n’ Blues Special, Glockenbachwerkstatt, München, 2015-07-15
Gerner Zipfeklatscher @ „Münchner Künstler bekennen Farbe“, Pelkovenschlössl, München, 2015-02-27

GERNER ZIPFEKLATSCHER @ KAP37 München 2015-04-23

(15) Hauschka & Musiker der Münchner Philharmoniker @ Muffathalle, München, 2015-01-07
Experimental-Klassik mit dem Pianisten Volker Bertelmann, spannend bereichert durch 8 MitmusikerInnen der Philharmoniker.

KULTURFORUM Hauschka & Münchner Philharmoniker @ Muffathalle München 2015-01-07 (17)

(16) The Handsome Family @ Ampere, München, 2015-09-25
„Far From Any Road“, das wahrscheinlich beste Alternative-Country-Ehepaar Amerikas, leicht verschnupft und trotzdem grandios.

THE HANDSOME FAMILY @ Ampere München 2015-09-29 (4)

(17) Lambchop @ Amerikahaus, München, 2015-02-07
Der Kurtl und seine Combo präsentierten den Meilenstein ‚Nixon‘ als Gesamtaufführung, da gab’s natürlich nix zu knurren…

LAMBCHOP @ Amerikahaus München 2015-02-07

(18) Ryan Lee Crosby + Thisell @ Klienicum Hauskonzerte, Ampfing, 2015-03-16
Eike vom Klienicum-Blog und seine bezaubernde Frau Katrin haben in die gute Stube eingeladen und nebst exzellenter Verköstigung einen feinen musikalischen Doppelpack präsentiert: den schwedischen Folker Thisell, den wir im Sommer nochmals im Freien genießen durften, siehe oben, sowie den amerikanischen Blues-Musiker Ryan Lee Crosby, der den depperten Spruch widerlegte, nach dem der weiße Mann keinen Blues singen könne…

THISELL @ KLIENICUM HAUSKONZERTE 2015-03-16 (11)

(19) JJ Grey & Mofro + Marc Broussard @ Technikum, München, 2015-03-21
Intensiv-schwerster Südstaaten-Swamp-Soul, ein schweißtreibender Abend bereits im März.

JJ GREY & MOFRO @ Technikum München 2015-03-22 (11)

(20) Eric Pfeil @ Südstadt, München, 2015-06-16
Kaum jemand beherrscht die mit feinsinnigen Pointen gewürzte deutsche Liedermacherei lakonisch-relaxter als der Rheinländer Eric Pfeil.

ERIC PFEIL @ Südstadt München 2015-06-16 (5)

(21) Amon Düül II @ Milla, München, 2015-06-10
Überraschungs-/Geheim-Konzert (oder so ähnlich) der süddeutschen Krautrock-/Prog-Legende.

AMON DÜÜL II @ Milla München 2015-06-10 (8)

(22) Tess Parks & Anton Newcombe @ Strom, München, 2015-07-09
Das neue Traumpaar in Sachen Indie-Psychedelic, ordentlich krachig und intensiv.

TESS PARKS + ANTON NEWCOMBE @ Strom München 2015-07-09 (2)

(23) Built To Spill @ Ampere, München, 2015-11-16
Doug Martsch ist und bleibt neben J Mascis das Maß aller Dinge in Sachen stramme Indie-Gitarre.

built to spill @ ampere münchen 2015-11-16__DSCF0464

(24) Giant Sand @ Hansa39, München, 2015-05-17
Howe und Freunde unterwegs in Sachen 30-jähriges Bühnenjubiläum, gut und auf den Punkt gebracht wie lange nicht.

GIANT SAND Howe Gelb @ Hansa39 München 2015-05-17 (12)

(25) Patti Smith @ Tollwood, München, 2015-07-13
Die Komplett-Aufführung von ‚Horses‘ war Weltklasse, die 2. Halbzeit dagegen eher ein laues Lüftchen…

PATTI SMITH AND HER BAND perform HORSES @ Tollwood München 2015-07-13 (13)

Auf den weiteren Plätzen, auch nicht schlecht:

(26) Attwenger @ Milla, München, 2015-03-26
(27) Melvins + Big Business @ Hansa39, München, 2015-10-05
(28) Sólstafir + Mono + The Ocean @ Backstage, München, 2015-10-28
(29) Lùisa @ Deeper Down Festival, Hauskonzerte, München, 2015-10-04
(30) Canto Dei Sass @ „Münchner Künstler bekennen Farbe“, Pelkovenschlössl, München, 2015-02-27
(31) The Godfathers @ Glockenbachwerkstatt, München, 2015-02-06
(32) Peter Doran @ Milla, München, 2015-05-14
(33) Tedeschi Trucks Band + Henrik Freischlader Trio @ Circus Krone, München, 2015-11-11
(34) Brian Lopez & Gabriel Sullivan @ Sunny Red, München, 2015-12-16
(35) Philip Bradatsch @ Willie Nelson Tribute, Unter Deck, München, 2015-11-09
(36) Terakaft @ Milla, München, 2015-05-03
(37) Ottmar Liebert & Luna Negra @ Carl-Orff-Saal, Gasteig, München, 2015-03-24
(38) The Bevis Frond + Nektar @ Backstage Club, München, 2015-10-02
(39) Jarboe & Helen Money with very special Guests Alexander Hacke & Danielle de Picciotto @ Ampere, München, 2015-02-18
(40) Attwenger @ Herzkasperl-Festzelt, Oide Wiesn, Oktoberfest, München, 2015-09-25
(41) The Great Park @ Südstadt, München, 2015-02-17
(42) Easy October @ Glockenbachwerkstatt, München, 2015-02-09
(43) Eugene Ripper, Colleen Brown, Mat Deveux @ Substanz, München, 2015-05-07
(44) A Forest + Lost Name @ Glockenbachwerkstatt, München, 2015-04-16
(45) The Midnight Ghost Train + Greenleaf @ Kranhalle, München, 2015-03-05
(46) Leon Bridges + Grace @ Technikum, München, 2015-09-15
(47) The Marble Man @ Kulturstrand, München, 2015-08-18
(48) Withered Hand @ Theater Heppel & Ettlich, München, 2015-05-25
(49) Disco Doom @ Ampere, München, 2015-11-16
(50) The Almost Boheme @ Kunst in Sendling, München, 2015-10-09
(51) Mary Lattimore & Jeff Zeigler @ Glockenbachwerkstatt, München, 2015-05-31
(52) 15 Jahre CLUBZWEI @ Muffatwerk All Areas mit King Automatic, G.Rag u.a., München, 2015-01-31
(53) G.Rag und die Landlergschwister @ Braunauer Brücke, München, 2015-06-09
(54) G.Rag Y Los Hermanos Patchekos @ Ampere, München, 2015-04-23
(55) Gut & Irmler, Driftmachine, Thomas Köner @ Frameworks Festival, Einstein Kultur, München, 2015-03-12
(56) frameless02: Masayoshi Fujita, Nicolas Bernier, Timon Arnall @ Einstein Kultur, München, 2015-04-14
(57) frameless05: Novi_sad + Ryoichi Kurokawa, Lucrecia Dalt, Karin Zwack + aus @ Einstein Kultur, München, 2015-11-18
(58) Mark Lanegan Band, Duke Garwood, Lyenn @ Freiheiz, München, 2015-02-21
(59) Thunder And Blitzkrieg @ Glockenbachwerkstatt, München, 2015-02-06
(60) Robyn Hitchcock + Emma Swift @ Unter Deck, München, 2015-04-20
(61) Carla Bozulich @ Freiheiz, München, 2015-04-09
(62) TV Smith @ Hansa39, München, 2015-02-08
(63) Rauschangriff + Ramonas + Vorstadtkönige @ Neujahrsempfang der “Löwen-Fans gegen Rechts” @ Stadionwirtschaft, Stadion an der Grünwalder Straße, München, 2015-01-05
(64) The Ukelites + The Jason Serious Band @ Südstadt, München, 2015-10-22
(65) Stephanie Lottermoser @ „Münchner Künstler bekennen Farbe“, Pelkovenschlössl, München, 2015-02-27
(66) Viech, Human Abfall, The King Of Cons, Twerps @ Theatron Pfingstfestival, München, 2015-05-24
(67) Wendy McNeill @ Theatron Pfingstfestival, München, 2015-05-25
(68) Pale Honey @ Südstadt, München, 2015-04-22
(69) Manu @ Strom, München, 2015-07-09
(70) UK Subs @ Hansa39, München, 2015-02-08
(71) Triska + Nathaniel Rateliff & The Night Sweats @ Ampere, München, 2015-10-07
(72) Mylets @ Ampere, München, 2015-05-23
(73) The Jason Serious Band @ Milla, München, 2015-07-10
(74) pourElise @ Ampere, München, 2015-09-29
(75) Viola, Lilli & Emma @ Glockenbachwerkstatt, München, 2015-02-09
(76) Motörhead, Saxon, Girlschool @ Zenith, München, 2015-11-20
(77) Night Shirts @ Hansa39, München, 2015-04-28

Das Schlusswort zum Konzertjahr 2015 soll dem Mafioso gehören, der vor kurzem seinen 100. Geburtstag feierte (wo auch immer) – „It was a very good year!“:

Amy

15230210

This is the Girl
For whom all tears fall
This is the Girl
Who was having a ball
This is the Girl
For whom all tears have shead
This is the Wine of the House it is said
(Patti Smith, Banga, This Is The Girl)

Der britische Filmemacher Asif Kapadia, der durch seine preisgekrönte Dokumentation über den brasilianischen Formel-1-Rennfahrer Ayrton Senna bekannt wurde, hat eine sehr persönliche Studie über den schnellen Erfolg und den ebenso rapiden Abstieg und Verfall der englischen Ausnahme-Soul-Sängerin Amy Winehouse produziert, der bereits als Festival-Beitrag in Cannes und beim vor kurzem zu Ende gegangenen 33. Münchner Filmfest lief und nun in den regulären Programm-Kinos gezeigt wird.

Der Regisseur konnte für die Filmbiografie ‚Amy – The Girl Behind The Name‘ neben Konzertmitschnitten und Fernseh-Aufzeichnungen von Interviews und Auftritten auf unveröffentlichtes Material, persönliche Videos, Tondokumente und Notizbücher zurückgreifen, er schuf daraus ein gelungenes Portrait einer faszinierenden Künstlerpersönlichkeit, die im realen Leben aufgrund ihres exzessiven Suchtverhaltens und nicht zuletzt wegen ihres völlig unfähigen persönlichen Umfelds keine Chance auf dauerhaften Erfolg und vor allem ein glücklicheres und längeres Leben hatte.

Im Film wird deutlich, wie vor allem Amys Vater Mitch Winehouse mit seinen über allem stehenden Geschäftsinteressen sowie ihr zeitweiliger Ehemann Blake Fielder, der in diesem Film in Interviews sein Gesicht als charakterloser, erbärmlicher Ex-Junkie zeigt, in ihrem Einfluss auf die Künstlerin verheerend und weit mehr Teil als mögliche Lösung ihrer massiven Probleme waren.

Der Film zeigt glänzende Konzertmitschnitte der Sängerin ebenso wie Katastrophen wie exemplarisch ihren letzten großen, desaströsen, alkoholvernebelten Auftritt im Juni 2011 bei einem Open Air Festival in der serbischen Hauptstadt Belgrad. Die herausragende Bühnenpräsenz und vor allem das außergewöhnliche Sangestalent der jungen Musikerin sind in ihren großen Momenten greifbar, die uralte Soulstimme scheint in einem Körper zu sitzen, der die Lebenserfahrung, die dieses Organ simuliert, in Rekordzeit nachzuholen trachtete.

Eine unscheinbare Szene im Film bringt das Drama der Amy Winehouse auf den Punkt: eine kurze Sequenz zeigt die angehende Soul-Diva beim Pool-Billard in einem Pub in Birmingham mit ihrem ersten Manager und Jugendfreund Nick Shymanksy, anstatt die Kugel, der Konstellation erforderlich, mit dem entsprechenden Gefühl zu spielen, drischt die junge Amy unvermittelt in die Vollen, ein Bild von symbolischem Charakter, so wenig wie sie Einfühlungsvermögen beim Pool hatte, so wenig Sensibilität entwickelte sie für das eigene Leben.
Erschreckend ist die Feststellung der Sängerin im Rahmen ihrer Grammy-Verleihung durch ihr großes Idol Tony Bennett, die nach zwischenzeitlich erfolgreichem Entzug konstatiert, „ohne Drogen mache das alles keinen Spaß.“

Bezüglich der Machart beschreitet der Film durchaus neue Wege, aktuelle Statements und Interview-Beiträge der Protagonisten ertönen aus dem Off, die Aussagen werden jeweils mit historischen Bildern und Aufnahmen unterlegt, so entsteht eine rasante Abfolge von Eindrücken und Aussagen, die dem schnellen Leben der Amy Winehouse absolut adäquat gerecht werden.
Einen zwiespältigen Eindruck hinterlässt die Darstellung des raubtierhaften Paparazzi-Verhaltens der britischen Journaille, die die angeschlagene Künstlerin in ihren schwersten Stunden gnadenlos im Blitzlichtgewitter verfolgte, die unkommentierten Bilder zeigen dieses widerliche Verhalten ungeschönt und durchaus anklagend, aber, Hand auf’s Herz, hätten die Kameras damals nicht draufgehalten, den Filmproduzenten hätte etliches an Material für diesen Kinostreifen gefehlt, und so bleibt beim Zuschauer die beklemmende Frage, wo Dokumentation endet und Voyeurismus beginnt.

Der Niedergang der großartigen Sängerin mit den massiven selbstzerstörerischen Tendenzen wird im Film ausführlichst dokumentiert, die Antwort, worin dieses destruktive Verhalten in der Vita der Amy Winehouse begründet liegt, bleibt er weitestgehend schuldig.

„The fact that she died at 27 years old is just horrible to me. If she had lived, she would’ve been right up there with Billie Holiday and Dinah Washington. It’s just a tragedy.“
(Tony Bennett)

Amy Winehouse ist am 23. Juli 2011 in ihrem Appartement in Camden, London, an den Folgen einer massiven Alkoholvergiftung gestorben. Sie reihte sich damit ein in den ‚Club 27‘, einer viel zu langen Liste von weltberühmten und bahnbrechenden Ausnahmemusikern wie Janis Joplin, Jimi Hendrix, Jim Morrison und Kurt Cobain, die alle im zarten Alter von 27 Jahren das Zeitliche segneten und Millionen von Fans trauernd und fassungslos zurückließen.
Die begnadete Soul-Sängerin wurde auf dem jüdischen Edgwarebury Lane Cemetery im Nordlondoner Stadtteil Barnet beigesetzt.

Amy Winehouse gewann zahlreiche Auszeichnungen für ihre Arbeiten, unter anderem war sie die erste Britin, die fünf Grammy Awards in einem Jahr erhielt, ihre Aufnahmen verkauften sich millionenfach, ihr Album ‚Back To Black‘ (2006, Island) wird vom amerikanischen Rolling Stone in der Liste der „500 Greatest Albums Of All Times“ auf Platz 451 geführt, letztendlich Schall und Rauch angesichts der Tatsache, dass derart überwältigender Erfolg bei ihr Hand in Hand ging mit einem unfassbar rasanten Ausbrennen, wie es in der Musikwelt in jüngster Vergangenheit in dieser Intensität nur im Falle Kurt Cobains zu beobachten war.

Patti Smith @ Tollwood, München, 2015-07-13

Patti Smith And Her Band Perform ‚Horses‘ In Its Entirety.

Das Schöne an diesen Toolwood-Konzerten ist: es geht immer pünktlich los, und so stand die lebende Legende Patti Smith Punkt acht Uhr auf der Bühne, hielt sich nicht groß mit Vorgeplänkel auf, sprich fackelte nicht lange, stieg konsequent konzertant bei „Gloria“ ein und exerzierte in den nächsten vierzig Minuten eines der wichtigsten Alben der Rock-Geschichte Stück für Stück und chronologisch mit einem Drive, einer Brillanz und vor allem dem Werk zu Gebote stehenden Energie durch, als wäre dieses Jahrhundertwerk erst vor ein paar Wochen eingespielt worden und müsste nun durch fleißiges Live-Präsentieren beworben werden. Über das Ausnahme-Album muss man nicht mehr viele Worte verlieren, ich habe es vor kurzem hier in der Spitzenprodukte-Rubrik besprochen, das Publikum war von der ersten Minute an schwer begeistert und feierte die acht Nummern frenetisch. Highlight des Abends war für mich das Uptempo-Wunderwerk „Free Money“, noch heute nach vierzig Jahren so etwas wie die Blaupause des Indie-Rock, ein Stück, bei dem das Zeltdach wegzufliegen drohte ob der berstenden Energie, die von der Bühne strahlte. Im Verlauf von „Kimberley“ sorgte die New Yorker Punk-Ikone für den Brüller des Abends, sie verließ während des Stücks für ein paar Minuten die Bühne, ihre irritierten Mitmusiker zurücklassend, die die ungeplante Pause improvisierend überbrücken mussten, um dann für den Schlussteil auf die Bühne zurückzukehren und das Publikum über das kurze Verschwinden aufzuklären: „Usually I Take A Piss Before The Show.“ Ein Schenkel-Klopfer, bei dem Gefahr bestand, dass es einem selbst auskam… ;-))
Im Horses-Abgesang „Elegie“ gedachte Patti Smith dann ergreifend den dahingeschiedenen Weggefährten wie den vier Ramones, Robert Mapplethorpe, Johnny Thunders, Jim Carroll, Allen Lanier, Joe Strummer und ihrem 1994 verstorbenen Mann Fred ‚Sonic‘ Smith.
So nahm der erste Teil des Abends mit der ‚Horses‘-Komplettaufführung sein würdiges Ende, den zweiten Part eröffnete die Band mit „Privilege (Set Me Free)“ und „Babelogue“ vom ‚Horses‘-Nachfolger ‚Easter‘ (1978, Arista), mit „Summer Cannibals“ ertönte das Highlight der zweiten Runde, die flotte Indie-Nummer vom ‚Gone Again‘-Album (1996, Arista) passte wie Faust auf Auge zur Sauna-artigen Hitze im Tollwood-Zelt. Für das Velvet-Underground-Medley verließ die Chefin die Bühne und übergab an ihren alten Weggefährten Lenny Kaye, neben J. D. Daugherty der letzte verbleibende Musiker der legendären Patti Smith Group, bei diesem überflüssigen Teil des Abends wurde schnell deutlich, welch durchschnittliche Band ohne die Ausstrahlung der Schamanin am Werk war, das Potpourri aus „Rock ’n‘ Roll“, „White Light/White Heat“ und „I’m Waiting For The Man“ verkam ähnlich wie die unsägliche Steppenwolf-Nummer vor ein paar Jahren beim Dachauer Musiksommer zur Belanglosigkeit (Bei Velvet-Covers bin ich sowieso heikel, da muss schon mehr kommen als beliebiges Runterschrubben, zumal der Günther in seinem feinen MONO-Plattenladen vor kurzem die österreichischen, leider bereits vergriffenen Preziosen der ‚Buben im Pelz‚ aus Wien abspielte, was die Messlatte erneut um einiges nach oben trieb), und so durfte der Saal aufatmen, als Patti zum feedback-krachigen Finale ausholte und abschließend den zum Motto des Abends passenden The-Who-Klassiker „My Generation“ abrockte, der damals die B-Seite ihrer zweiten Single „Gloria“, der Auskopplung des ‚Horses‘-Albums, zierte.
Unterm Strich konnte der zweite Teil des Konzerts das Niveau nicht halten, das mit der ‚Horses‘-Aufführung an dem Abend erreicht wurde, vor allem den Velvet-Underground-Part hätte die Band sinnvoller durch Interpretation einiger eigener alter Klassiker ersetzt, sowohl vom ‚Radio-Ethiopia‘- als auch vom ‚Wave‘-Album wurde kein Stück zu Gehör gebracht, „Pissing In A River“ hätte gut zum Konzert-unterbrechenden Harndrang der New Yorker Ikone gepasst, „Dancing Barefoot“ ist immer gern genommen und gegen eine Aufführung des ‚Boss‘-Klassikers „Because The Night“ hätte im Zelt sicher auch niemand Einwände erhoben. Um dem Abend gerecht zu werden deshalb heute eine zweigeteilte Wertung, wie im Fußball: in der 1. Halbzeit mächtig eingebombt und vorgelegt, in der 2. Halbzeit mit ein paar Gegentreffern den Sieg über die Zeit gebracht…
(Horses: ***** ½ / Rest: **** / Pinkelpause: ******)

Patti Smith / Homepage

Spitzenprodukte der Popularmusik (7)

„Am 2. September 1975 öffnete ich die Tür zum Electric-Ladyland-Studio. Auf der Treppe musste ich an den Abend denken, an dem Jimi Hendrix für einen Moment stehen geblieben war, um sich mit einem schüchternen jungen Mädchen zu unterhalten. Ich betrat das Studio A. John Cale, unser Produzent, saß am Mischpult, und im Aufnahmeraum bauten Lenny, Richard, Ivan und Jay Dee ihr Equipment auf.
Die nächsten fünf Wochen waren wir mit der Aufnahme und dem Abmischen von Horses, meinem ersten Album, beschäftigt. Jimi Hendrix war nie zurückgekehrt, um seine neue Musiksprache zu schaffen, doch sein Studio war uns geblieben, und seine großen Hoffnungen für die Zukunft der Stimme unserer Kultur waren noch überall spürbar. Diese Dinge trieben mich um, als ich in die Vocal Booth trat: Meine Dankbarkeit für den Rock ’n‘ Roll, der mir durch schwierige Jahre meiner Jugend geholfen hatte. Die Freude, die ich beim Tanzen empfand, die moralische Kraft, die ich daraus zog, eigenverantwortlich für mich und mein Tun zu sein.
All das findet sich in Horses wieder, aber auch unsere Verbeugung vor denen, die uns den Weg bereitet haben. In Birdland warten wir mit dem jungen Peter Reich darauf, dass sein Vater Wilhelm Reich vom Himmel herabsteigt, um ihn holen zu kommen. In Break It Up erzählen Tom Verlaine und ich von einem Traum, in dem Jim Morrison wie Prometheus gefesselt ist und sich plötzlich losreißt. Land verschränkt die Wild-Boys-Bildwelt mit den Stationen von Hendrix‘ sterben. In Elegie sind sie alle versammelt: gegenwärtig, gestern, heute, morgen, alle, die wir verloren hatten oder zuletzt endgültig verlieren würden.“
(Patti Smith, Just Kids, Gemeinsam getrennter Wege)

Patti Smith – Horses (1975, Arista)
Eines der besten Debüt-Alben ever und ein – selbst wenn diese Bezeichnung inzwischen recht abgedroschen klingt – Meilenstein der Rockmusik, auch wenn die Scheibe vor allem als eines der Hauptwerke und einer der wichtigsten Einflüsse der New Yorker Punk-Szene gilt, ist sie doch so viel mehr als „nur“ ein Punkrock-Klassiker: das erste Album aus dem Umfeld des New Yorker CBGB’s-Clubs, die Platte, die das Bild der Frau in der Rockmusik grundlegend änderte und somit für den Feminismus vermutlich mehr tat als alle Emma-Artikel der Steuerhinterzieherin Alice Schwarzer zusammen – eigentlich mit einem herkömmlichen Rock-’n‘-Roll-Artefakt nicht mehr zu vergleichen, da in diesen knapp 44 Minuten so unglaublich viel an Poesie, Beschwörung, Energieausbrüchen, emotionalem Selbstbewusstsein, aggressiver Direktheit, Schamanismus und Verarbeiten der eigenen Biografie inklusive existentieller (Drogen)erfahrungen und literarischer Obsessionen passiert, in ihrer von jeglichem Bombast der 70er-Jahre befreiten Musik war „Horses“ zu der Zeit wesentlich mehr die Zukunft des Rock ’n‘ Roll als der von Jon Landau so titulierte und wie Patti Smith aus New Jersey stammende Bruce Springsteen mit seinen zugegebenermaßen auch sehr respektablen Frühwerken oder die einfach etwas flotter angeschlagene Spielart der Sex Pistols ein paar Jahre später – und ohne jeden Zweifel mit die wichtigste Produktionsarbeit des genialen John Cale.

„Die Aufnahmen zu Pattis erstem Album ‚Horses‘ im August und September wurden zu einem Machtkampf von John Cale und Patti. Nach ihrem Engagement im CBGB’s fand Patti, ihre Lieder seien soweit, aufgenommen zu werden, aber Cale war anderer Meinung. Er brachte die Band dazu, all ihr Material neu zu überdenken (…) Cale erkannte, dass es seine Hauptaufgabe war, eine Dichterin in eine Sängerin zu verwandeln.
„Es war nicht klar, welchen Charakter das Album haben würde, bis ich sie gegen sich selbst improvisieren ließ“, sagte John Cale.“
(Victor Bockris, Patti Smith, Die unautorisierte Biographie, Horses 1975)

Der Opener „Gloria“ beginnt mit der gotteslästerlichen Textzeile „Jesus died for somebody’s sins, but not mine“ und geht im zweiten Teil energiegeladen und extrovertiert in Van Morrison’s Them-Klassiker über. Von der ersten Minute an verfällt der Hörer dem Sog der nervösen, treibenden Interpretation und dem unfrisierten, hämmernden, an Velvet Underground gemahnenden Sound, um sich im folgenden Stück, der Reggae-Rock-Nummer „Redondo Beach“ über den kalifornischen Strand am Ende der Santa Monica Bay eine kurze Verschnaufpause zu gönnen, bevor es in der neunminütigen Tour-de-Force-Sprechgesang-Ballade „Birdland“, die auf den Erinnerungen an den Psychoanalytiker Wilhelm Reich seines Sohnes Peter basiert, erstmals in Richtung intensive Spoken-Word-Beschwörung gipfelt. Seite Eins beschließt mit dem heimlichen Hit der Kult-Scheibe, „Free Money“, in seiner ungebremsten Energie und dem euphorischen Vortrag bereits 1975 ein Prototyp für den Indie-/Alternative-Rock der späteren Jahrzehnte und ein Song für die Ewigkeit, der auch nach vierzig Jahren nichts von seiner ungebändigten Frische eingebüßt hat.
Die B-Seite des Longplayers eröffnet mit „Kimberley“, einem schleichenden Midtempo-Grove, inspiriert von Pattis jüngerer Schwester, „Break It Up“ ist ein schwerer Glam-Rocker, der von der Befreiung Jim Morrisons von seinen irdischen Fesseln handelt und auf eine Traum Patti Smith‘ basiert („Ich stand da, war ein kleiner Junge oder ein Kind und schrie „Break it up, break it up“ und schließlich zerbrach er seine Flügel und war frei, und er flog davon. Ich wachte auf, setzte mich mit Tom Verlaine zusammen und schrieb den Song.“). Das über neunminütige „Land“ mit seinen drei Teilen „Horses“, „Land of a Thousand Dances“ und „La Mer(de)“ bietet neben „Birdland“ ein weiteres hypnotisches, beschwörendes, ekstatisches Abtauchen in William-Burroughs-/Wild-Boys-Fantasien, Drogen-Assoziationen und Reminiszenzen an den französischen ‚Poète maudit‘ Arthur Rimbaud.
Die „Elegie“ auf Jimi Hendrix beschließt das Album mit einem kurzen Stück voll desolater Melancholie und einer Stimme, die sich permanent am Rand kurz vor dem Abkippen in die völlige Verzweiflung bewegt – „Well it’s sad and it’s much too bad, that our friends can’t be with us today“.

Die CD-Ausgabe enthält als Bonustrack eine entfesselte Live-Version des The-Who-Protopunk-Klassikers „My Generation“ mit John Cale am Bass.

Die „30th Anniversary Edition“ bietet eine zweite CD mit den Live-Versionen der Stücke von ‚Horses‘, mitgeschnitten am 25. Juni 2005 in der Royal Festival Hall beim Meltdown Festival in London, mit Smith‘ Langzeitspezi Tom Verlaine an der Gitarre und Flea von den Red Hot Chilli Peppers am Bass.

Das Original-Album wurde innerhalb weniger Wochen im Herbst 1975 in den New Yorker Electric Lady Studios im Greenwich Village in folgender Besetzung eingespielt:
Patti Smith – Vocals, Guitar
Jay Dee Daugherty – Drums, Consultant
Lenny Kaye – Guitar, Bass Guitar, Vocals
Ivan Kral – Bass Guitar, Guitar, Vocals
Richard Sohl – Keyboards
Zudem halfen die Smith-Vertrauten Tom Verlaine von Television und der Blue-Öyster-Cult-Gitarrist Allen Lanier als zusätzliche Musiker aus. Das wunderbare Schwarz-Weiß-Bild des Covers stammt von Patti Smith‘ altem New Yorker Weggefährten Robert Mapplethorpe, der mit den Fotoarbeiten zum Album seinen Ruf als Weltklasse-Fotograf begründete.

Die Platte verkaufte sich in den ersten Monaten nach Veröffentlichung mehr als 200.000 Mal und erreichte Platz 47 in den US Billboard Charts, was seinerzeit für ein Underground-Album weit jenseits des Mainstreams mehr als ein Achtungserfolg war. Die US-amerikanische Presse feierte die Platte zurecht überschwänglich, vom ‚Rolling Stone‘ bis zur ‚New York Times‘ erkannte nahezu jeder Rezensent die Wichtigkeit und Klasse dieser Jahrhundert-Aufnahme.

„Das ist kein Album des gesprochenen Wortes, und selbst wenn man kein Wort Englisch versteht, kann man die emotionale Kraft von Pattis Musik nicht überhören. ‚Horses‘ ist ein gebieterisches Album, kein forderndes: Man muss keine Anstrengungen unternehmen, es zu verstehen oder zu mögen, aber man kann es auch nicht ignorieren. Es lehnt ab, Hintergrundmusik zu sein, es hält die Aktivität in einem Zimmer an, wenn es läuft, und es hinterlässt seine Wirkung, ob man es mag oder nicht.“
(Lester Bangs)

Selbstredend ist ‚Horses‘ ein gewichtiger Favorit in den Top-irgendwas-Auflistungen dieser Welt:
Nr. 44 in der Rolling-Stone-Liste „500 Greatest Albums Of All Time“.
New Musical Express: Nr. 1 in der Liste „20 Near-as-Damn-It Perfect Initial Efforts“.
Time Magazine: „Horses is one of the All-Time 100 Greatest Albums“.
Library Of Congress: 2009 Eintrag im National Recording Registry – „culturally, historically, or aesthetically significant.“

Patti Smith hat in der Nachfolge zu ‚Horses‘ mit ‚Radio Ethiopia‘ (1976), ‚Easter‘ (1978), ‚Wave‘ (1979), ‚Gone Again‘ (1996) und ‚Gung Ho‘ (2000, alle: Arista) weitere hervorragende Tonträger veröffentlicht, nie mehr jedoch sollte sie die Intensität, den beschwörenden Rausch und die genial-euphorische Energie ihrer ersten Aufnahmen erreichen.

Richard Sohl ist 1990 im Alter von nur 37 Jahren in New York an den Folgen einer Herzattacke gestorben. Robert Mapplethorpe verstarb bereits ein Jahr zuvor im Alter von 42 Jahren in Boston an den Folgen seiner AIDS-Erkrankung. Ihrem Andenken ist dieser Beitrag gewidmet.

In den nächsten Wochen zelebriert Patti Smith und ihre Band ‚Horses‘ konzertant zur Gänze zu folgenden Terminen:

12.07. Lörrach / Burghof (sold out)
13.07. München / Tollwood-Festival
14.07. Wien / Arena
16.07. Singen / Hohentwiel Festival
21.07. Karlsruhe / Zeltival (sold out)
22.07. Winterbach / Zeltspektakel
07.08. Luhmühlen / A Summer’s Tale Festival
08.08. Dresden / Junge Garde
11.08. Berlin / Tempodrom (sold out)