„The new album is The James Gang teaming up with Tangerine Dream. The Chinese Whispers methodology we worked on the last two albums has been replaced by the Dark Room. Put musicians in a lightless room and by feeling one small section of an unknown object have them figure what it must be.“ (David Thomas)
Pere Ubu – 20 Years In A Montana Missile Silo (2017, Cherry Red Records)
Long May You Run: US-Avantgarde-Punk-Urgestein David Thomas ist fast 40 Jahre nach dem Debüt-Meilenstein „The Modern Dance“ unvermindert präsent mit seiner Outsider-Institution Pere Ubu, auf „20 Years In A Montana Missile Silo“ lässt er all das in gebrochenem Licht strahlen, was seit jeher ein gutes Werk der Ausnahme-Band aus Cleveland/Ohio ausmachte: Der stoische Ground-Zero-/Proto-Punk seiner ersten, kurzlebigen und seit 2003 wieder sporadisch aktiven wie allseits für den Punk-Underground eminent wichtig gewerteten Formation Rocket From The Tombs gleich vorneweg als massiv schneidender Brecher und Wegweiser im Album-Opener, der mehr als nur leicht angeschrägte Experimental-Postpunk und treibende Indie-Rock der folgenden Jahre, inklusive verquerer Rhythmik und dem Band-typischen Synthie-Pfeifen, -Knistern und -Funkensprühen, die apokalyptischen Klang-Kollagen, Misstöne und Störgeräusche in dichter, knapper, zupackender wie forcierter Gangart, weirde Tiraden im surrealen Garagen-Punk-Outfit – nur im Sangesvortrag des gewichtigen Vorstehers, da fordert der ein oder andere Schluck zuviel vom Hochprozentigen seinen Tribut von den Stimmbändern, wo früher das charakteristische Quäken und Nölen in den höheren Stimmlagen zu vernehmen war, dominiert heute oft ein dunkles, raues Grollen und zittriges, heiseres Schwadronieren den Lyrik-Teil, die Jahre sind dahingehend alles andere als spurlos an David Thomas vorübergegangen.
Erschreckend gut gehalten über die Zeit hat sich hingegen die Thematik, mit der sich Pere Ubu auch im Jahr 2017 neben anderem auseinandersetzen: Die ersten Singles der Band, der WW2-Atombomben-Song „30 Seconds Over Tokyo“ und die dunkle Endzeit-/Post-Cold-War-Phantasie „Heart Of Darkness“, sind Mitte der Siebziger inhaltlich auf die Bedrohung der nuklearen Zerstörung eingegangen, vier Dekaden später beschäftigen sich Pere Ubu im Schatten von Figuren wie Nordkoreas Nachwuchs-Diktator und dem erratischen Polit-Clown im Oval Office immer noch mit dem Droh-Potenzial der Atomsprengköpfe.
Auch hinsichtlich Klangbild sind Pere Ubu mit „20 Years In A Montana Missile Silo“ weit mehr an den ersten fünf Alben der frühen Jahre bis zum zwischenzeitlichen Band-Splitt angelehnt, aus deren Lineup einzig Vorsteher David Thomas bis heute die Stellung hält.
Für Sammler, Lücken-Schließer und Nachzügler ist im März die Pere-Ubu-LP-Box „Drive, He Said 1994-2002“ bei Fire Records erschienen, neben einer Extra-Outtakes-Scheibe bietet die Sammlung die drei für Ubu-Verhältnisse relativ leicht und schmerzfrei zu konsumierenden, gelungenen Alben „Raygun Suitcase“, „Pennsylvania“ und „St Arkansas“ aus der mittleren Phase der Band, in der partiell mit Scott Krauss und Tom Herman weitere Ur-Mitglieder zugange waren.
Demnächst-Ex-Swans-Slide-Gitarrist Kristof Hahn mischt im Übrigen inzwischen auch mit bei Pere Ubu, braucht auch einen neuen Heimathafen, nachdem die ausgedehnte Abschieds-Welttournee der hochverehrten New Yorker No-Wave-/Noise-Kapelle sich langsam dem Ende zuneigt, seufz.
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„Pere Ubu has never visited Cleveland, Ohio, but it sounds like an interesting place and we hope to go there one day.“ (David Thomas)
Pere Ubu – The Pere Ubu Moon Unit (2015, Fire Records)
Die aus Cleveland/Ohio stammenden Post-Punk-Pioniere Pere Ubu um den charismatischen Sänger David Thomas wurden vor kurzem von der amerikanischen Musiker-Gewerkschaft AFM bezüglich Auftritten in den USA mit Bann belegt, die Band leugnet seither ihre Herkunft, mit den fünf Stücken „Leeds A – E“ der vorliegenden ‚Moon Unit‘-Veröffentlichung ersucht sie um Asyl in der nordenglischen Stadt, „to grant Pere Ubu asylum as a band that formed in Leeds, in 1975„.
Während einer Autofahrt wurde ich von einem Mitfahrer vor vielen Jahren gefragt, ob ich auch „schöne Musik“ auf Tape hätte, es lief ‚The Tenement Year‘ (Fontana Records) aus dem Jahr 1988, eine gut hörbare, für Pere-Ubu-Verhältnisse geradezu Mainstream-artige Alternative-Rock-Einspielung, die Reaktion des Ignoranten zum aktuellen Tonträger wäre von Interesse, die bei einem 2014er-Konzert im Brudenell Social Club in Leeds mitgeschnittenen 30 Minuten dokumentieren Pere Ubu in ihrer ganzen, radikalen, experimentellen, Beefheart-infizierten Trash-/Art-Blues-Herrlichkeit, eingeworfene No-Wave-Atonal-Exzesse erweitern und erschüttern selbst die Hörgewohnheiten jahrzehntelanger Ubu-Fans nicht unwesentlich.
David Thomas indes sieht auch in diesem Stoff genügend massenkompatibles Potential: “If you were cool like Jimi Hendrix, or something, or Brian May… with his curly long hair… you’d turn that into a national anthem”…
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„When I said you’re strange It was a compliment, you know“ (Langhorne Slim & The Law, Airplane)
Irgendwie ein typisches „Es-war-schon-alles-da-in-der-Musik-darum-schon-wieder-kein-neues-‚Astral-Weeks‘-‚Zen-Arcade‘-‚Exile-On-Main-St‘-Wunderwerk“-Jahr, dafür aber ein Musik-Jahr mit überraschenden Comebacks, würdigen Alterswerken, spannenden Mixturen, ein paar erwarteten und etlichen unerwarteten Highlights, einigen gewichtigen Ausgrabungen aus den Archiven und einem ersten Platz, der das in der Gesamtheit nicht sonderlich rosige Jahr 2015 in seiner Grundstimmung einfängt.
(01) Steve Von Till – A Life Unto Itself (2015, Neurot)
Das düstere Songwriting des Neurosis-Sängers/-Gitarristen: die Platte des Jahres 2015 im Kulturforum. Der passende Soundtrack für ein Jahr, von dem Bilder/Eindrücke unter anderem von gekenterten Flüchtlings-Booten, dem Terror-Anschlag auf einen Live-Club und allerhand politischen Verwerfungen bleiben werden, leider.
(02) Pops Staples – Don’t Lose This (2015, Anti)
Würdiges Alterswerk der Gospel-/Soul-Ikone, aus Rohfassungen von Tochter Mavis Staples und Wilco-Vorturner Jeff Tweedy behutsam zu einem guten Ende gebracht.
(11) Die Buben im Pelz & Freundinnen – Die Buben im Pelz & Freundinnen (2015, Konkord)
Den Violinen-Drone aus „The Black Angel’s Death Song“ haben sie nicht hingekriegt, sowas bleibt natürlich nur Musikern wie dem Gott-ähnlichen John Cale vorbehalten, ansonsten haben sie wirklich alles richtig gemacht, die Buben im Pelz und ihre Schicksen, mit ihrer Wiener Adaption eines der wichtigsten Alben der Pop-Historie. Total leiwand, eh kloa…
(17) Waves – Stargazer (2015, Waves)
Mit das Interessanteste in Sachen Post-Rock kam heuer aus München. Meine Hardcopy fange ich mir beim Konzert am 14. Januar im Backstage ein und dann folgt auch eine ausführliche Besprechung. Versprochen.
Das soll’s gewesen sein von meiner Seite für 2015. Rutscht gut rüber ins neue Jahr, ich wünsche Euch alles Gute, Glück und vor allem Gesundheit für 2016, uns wird es vermutlich auch im neuen Jahr im Großen und Ganzen wieder besser ergehen als 99% vom Rest der Welt, in diesem Sinne, weil Sylvester ist und weil gleich die Böller und Sektkorken knallen, soll das letzte Wort im alten Jahr an dieser Stelle Nathaniel Rateliff gehören: „Son of a Bitch, give me a Drink !!!!“ ;-)
The B-52’s – Live! 8-24-79 (2015, Rhino)
Tief in den Archiven gewühlt: Die Band aus Athens/Georgia mit dem unverwechselbaren New-Wave-/60er-Trash-Rock’n’Roll-Mix hat wenige Wochen nach Veröffentlichung ihres bahnbrechenden Debüt-Albums bei Island Records im August 1979 das Vorprogramm für ein Talking-Heads-Konzert im Berklee Center in Boston betritten, neben Hits wie „Rock Lobster“, „52 Girls“ oder „Dance This Mess Around“ vom Erstling fanden sich bereits die Stücke „Private Idaho“, „Running Around“, „Devil In My Car“ und „Strobe Light“ vom erst ein Jahr später erscheinenden Zweitwerk ‚Wild Planet‘ (1980, Island/Warner) auf der Setlist.
Der bizarr-nervöse Science-Fiction-Sound der Combo zeigt in der konzertanten Präsentation erstaunlich wenig Abweichung zu den Studio-Originalen, als Anregung taugt das Live-Dokument allemal, um die gelbe Debüt-Wundertüte mal wieder auf den Plattenteller zu legen.
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Rocket From The Tombs – Black Record (2015, Fire Records)
Die Combo aus Cleveland/Ohio war Mitte der 70er Jahre sowas wie der Ground Zero des amerikanischen Punk-Rock, nach nur einem Jahr löste sich die Band Mitte 1975 auf, Sänger David Thomas und der 1977 im Alter von nur 24 Jahren verstorbene Gitarrist Peter Laughner gründeten im Anschluss die legendäre Experimental-/Post-Punk-Band Pere Ubu, während Cheetah Chrome und Johnny Madansky aka Johnny Blitz bei den Dead Boys die Flamme des Punk weitertrugen.
Seit 2003 ist die Formation in wechselnder Besetzung unter anderem mit dem ex-Television-Gitarristen Richard Lloyd wieder aktiv, in dieser Zeit wurde das historisch verfügbare Material aus den 70ern in ziemlich lausiger Ton-Qualität auf dem Album ‚The Day the Earth Met the Rocket from the Tombs‘ (2002, Glitterhouse/Fire Records) erstmals veröffentlicht, 2004 spielte die Band die Songs in vernünftigen Studio-Versionen neu ein, auf ‚Rocket Redux‘ (Glitterhouse/Smog Veil) finden sich Klassiker wie „Sonic Reducer“, „Muckracker“, „Frustration“ oder die später durch die Versionen von Pere Ubu bekannt gewordenen Stücke „Final Solution“ und „30 Seconds Over Tokyo“.
2011 gab es erstmals neues Material auf ‚Barfly‘ (Fire Records), die Band bot im Frühjahr 2012 im Vorprogramm von Mudhoney auch auf deutschen Bühnen beeindruckende Konzerte.
Auf ‚Black Record‘ geben die beiden neuen Gitarristen Buddy Akita und Gary Siperko ihren Einstand, die Personalmaßnahme tut dem Sound der Band hörbar gut, der auf Neuzeit getrimmte, Stooges-geprägte Garagen-Punk rockt härter und heftiger denn je, über allem schwebt Thomas‘ schneidende Stimme, man vermeint die druckvolle Kraft der frühen Pere-Ubu-Werke wie ‚The Modern Dance‘ oder der ‚Datapanic In The Year Zero EP‘ zu verspüren. Neben neun neuen RFTT-Krachern covert die Combo die Sonics-Nummer „Strychnine“ und bedient sich zum wiederholten Male bei „Sonic Reducer“ aus dem eigenen Fundus. „Is RFTT alternative? No. It aspired to the mainstream.“
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Pere Ubu – Elitism For The People 1975-1978 (2015, Fire Records)
Vierfach-Vinyl-Sampler mit dem ohne Zweifel super-eminent-wichtigen Frühwerk der Post-Punk-/Experimental-Avantgardisten aus Cleveland/Ohio um den Songwriter/Sänger David Thomas, die in einer früheren Inkarnation als Rocket From The Tombs sowas wie den Ground Zero des amerikanischen Punk Rock repräsentierten, vom Publikum für ihre Pionier-Arbeit aber leider Gottes immer viel zu wenig gewürdigt wurden. Neben den beiden ersten LPs ‚The Modern Dance‘ und ‚Dub Housing‘ aus dem Jahr 1978, die aufgrund ihrer wegweisenden Songs und ihrer experimentellen Kraft im Sinne der Erweiterung von Hörgewohnheiten in der damaligen Zeit zwingend in den Kanon der modernen Rockmusik gehören, findet sich in der Box eine Sammlung der herausragenden frühen Singles/EPs („Datapanik In The Year Zero EP“, „Final Solution“, „30 Seconds Over Tokyo“, „Heart Of Darkness“ etc.), wie sie im Wesentlichen mustergültig bereits 1985 auf der Rough-Trade-Zusammenstellung ‚Terminal Tower: An Archival Collection‘ kompiliert wurden, mit welcher Spex-Chef-Soziologe Diedrich Diederichsen seinerzeit die Zu-Spät-Geborenen im Nachgang zum Eintauchen in den Pere-Ubu-Kosmos in die Pflicht nahm. Abgerundet wird das wunderbare Paket mit einer Live-LP, die den Mitschnitt eines Konzerts vom 25. Februar 1977 enthält, das die Band im New Yorker Max’s Kansas City spielte. „Pere Ubu Is About Used Car Salesman And Late Night TV Sales Pitches. We Don’t Want Your Fancy Pants Subtlety, Gringo.“
Zeitlos, essenziell, bis heute unerreicht.
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Leafcutter John – Resurrection (2015, Desire Path Recordings)
Sphärische Experimental-Elektronik-Drones und ansatzweise tanzbare Maschinen-Rhythmik des Engländers John Burton, dessen musikalische Wurzeln sich im Folk finden, hier aber nur noch in völlig verfremdeter Form zu erahnen sind. Die abstrakten Klanggebilde atmen nichtsdestotrotz organische Wärme und bewahren die verzerrten Gitarren, Drum-Loops, eingebundenen Field-Recording-Samples und angedeuteten, wortlosen Gesangseinlagen vor allzu viel maschineller Gefühllosigkeit.
Leafcutter John betätigt sich neben seinen Solo-Projekten als Elektronik-Schrauber und Gitarrist bei der Londoner Experimental-Jazz-Combo Polar Bear.
Das Münchner Publikum erwartet mit Spannung die konzertante Umsetzung seiner Klanginstallationen beim vierten frameless-Festival, das Leafcutter John zusammen mit der kanadischen Klangkünstlerin Darsha Hewitt und dem polnischen Musiker/Medienartisten Szymon Kaliski am 28. Oktober im Einstein Kultur gestalten wird.
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Inventions – Maze of Woods (2015, Temporary Residence)
Gemeinsames Duo-Projekt des unter dem Alias Eluvium operierenden Ambient-Musikers Matthew Cooper aus Portland/Oregon und des Gitarristen Mark T. Smith, der Freunden des Genres als Mitglied der texanischen Post-Rock-Giganten Explosions In The Sky bekannt sein dürfte. Vereinigt das Beste aus beiden Welten zu einer atmosphärisch dichten Indie-/Post-Rock-/Ambient-Soundlandschaft, die bestimmt wird von elektronisch gesampleten/nachbearbeiteten Chören, schönen Klavier-Klängen, dunklen, dezenten Beats, verhuschten Klangtupfern und einem Gefühl für akustische Weite, dass die klassischen Song-Strukturen längst hinter sich gelassen hat, jedoch jederzeit angenehm ins Ohr geht. Die Ambient-geprägte Variante des Mogwai-Sounds und sphärische Einflüsse aus dem Kraut-Rock-/Popol-Vuh-Klang-Kosmos mögen als Referenzen herhalten, und doch erklären sie das gelungene Konstrukt aus partiell gespenstischem, hymnischem und/oder Tiefen-entspanntem Sound nur unzureichend, zu individuell ist der Ansatz der beiden Klangerzeuger, deren intensives zweites Album neben acht Originalen drei Trance-Remixe ausgewählter Stücke im Anhang bietet.
(**** ½)