Pete Townshend

Soul Family Tree (21): 50 Years Of Experience

„You’ve got to come downstairs and see this guy Chas has brought back. He looks like the Wild Man of Borneo.“
(Ronnie Money)

Black Friday, my dudes: Heute erstmals ein gemeinsamer Beitrag in der Black-Music-Reihe vom Hamburger Gast-Autor Stefan Haase und meiner Wenigkeit zu „Are You Experienced“, dem bahnbrechenden Debüt-Album der Jimi Hendrix Experience, das bei Erscheinen im Mai 1967 die Welt der Rock- und Pop-Musik nachhaltig erschütterte:

Der Pionier: Am 12. Mai 1967 erschien das Debutalbum „Are You Experienced“ von Jimi Hendrix und damit in 40 Minuten Musikgeschichte. Die Musikwelt wurde erschüttert und fortan gab es zwei Zeitrechnungen, die Zeit vor und nach Jimi Hendrix. Den Begriff des Rockstars beschrieb Hendrix selbst – Ein Rückblick:

James Marshall Hendrix wurde 1942 in Seattle geboren. Bereits in den frühen 1960er Jahren spielte er Gitarre bei zahlreichen Soul- und R&B-Bands und Interpreten wie Sam Cooke, Little Richard, Wilson Pickett und anderen. Zeitzeugen beschrieben ihn als scheu. Wenn er sprach, dann mit leiser Stimme.

Es ist dem Bassisten der Animals Chas Chandler zu verdanken, dass er Hendrix im Herbst 1966 für einige Tage ins damals hippe London einlud. Das Budget war schmal und in Windeseile wurde in wenigen Tagen das Debütalbum eingespielt, wegen Geldmangels hauptsächlich live. Hendrix selbst war ziemlich unsicher. Doch Chandler glaubte an ihn.

Herausgekommen sind Nummern für die Ewigkeit. Sein Interpretation von „Hey Joe“ erschien zuerst als Single und wurde weltweit ein Hit. Hendrix bediente eine ganze Bandbreite an musikalischen Themen in Songs wie „Purple Haze“ oder „Foxy Lady“ und der Ballade schlechthin, „The Wind Cries Mary“. Hendrix wurde der erste afroamerikanische Rockstar. Wie er Gitarre spielte, beeinflusste viele Musiker. Die Beatles oder Gitarrenhelden wie Jeff Beck, Eric Clapton oder Pete Townshend von The Who kamen zu seinen London-Shows, wo er in ohrenbetäubender Lautstärke sein einzigartiges Gitarrenspiel präsentierte, mal melodiös, dann wieder rau und verspielt. Wie er sich dazu auf der Bühne bewegte und seine Gitarre liebkoste und später auf sie einschlug oder sie sich hinter dem Rücken legte oder mit der Zunge spielte… Hendrix kannte keine Grenzen und setze mit 25 Jahren Maßstäbe.

Das Album ist bis heute ein zeitloses Dokument, weil es damals völlig neu war und selbst bis heute viele junge Musiker berührt. Bis zu seinem 27. Lebensjahr nahm Hendrix insgesamt drei Alben auf. Doch mit seinem Debüt schrieb er den Soundtrack des Sommers ’67 und Welthits für die Ewigkeit.
(Stefan Haase)

„We don’t want to be classes in any category. If it must have a tag, I’d like it to be called ‚Free Feeling‘. It’s a mixture of rock, freak-out, blues, and rave music.“
(Jimi Hendrix, Record Mirror)

Das Musik-Jahr 1967 war geprägt von psychedelischen Pop-Experimenten, wobei etliche große Namen der Ära speziell im United Kingdom dahingehend nicht unbedingt ihre stärksten Werke ablieferten, die Stones verzettelten sich in „Their Satanic Majesties Request“ in allzu viel belanglosem Geschwurbel, die Beatles langweilten nach den sehr passablen „Rubber Soul“– und „Revolver“-Alben erstmals mit dem völlig überschätzten „Sgt. Pepper“-Geplätscher, und selbst The Who überzeugten mit ihrem ersten Konzept-Werk „The Who Sell Out“ nicht über die volle Distanz, die US-Vertreter des Genres zeigten weitaus mehr Mut zum radikaleren Ansatz, Lou Reed und John Cale als kreative Köpfe bei Velvet Underground zusammen mit der deutschen Stil-Ikone Nico, The Doors, die Grateful Dead mit ihren jeweiligen Debütalben, Captain Beefheart mit seinem genialen Acid-Psychedelic-Blues auf „Safe As Milk“ und die Byrds mit „Younger Than Yesterday“ dehnten die Grenzen des Genres in bis dahin nicht gehörte Dimensionen.
Über allem thronte mit Veröffentlichung seines Erstwerks „Are You Experienced“ der amerikanische Ausnahme-Gitarrist Jimi Hendrix im Londoner Exil mit einer sensationell originellen Mixtur aus hartem, psychedelischen Rock, Soul, Funk und schwerem Blues – eingespielt in insgesamt gerade mal 72 Stunden, zusammen mit den beiden englischen Youngstern Noel Redding und Mitch Mitchell an Bass und Schlagzeug, zu diversen Gelegenheiten, wenn die Experience zwischen ihren zahlreichen Gigs die Zeit für den Studio-Gang fand.
„Are You Experienced“ erhielt zwar bereits in den ersten Besprechungen der englischen Fachpresse exzellente Bewertungen, landete in den UK-LP-Charts aber nur auf Platz 2 hinter „Sgt. Pepper“, den Briten war hinsichtlich Urteilsvermögen bereits in jener Zeit nicht uneingeschränkt zu trauen. Der Rolling Stone listet das Album in den „500 Greatest Albums Of All Time“ auf Rang 15. Kurz vor Veröffentlichung tourte Hendrix durch das englische Hinterland, im Verbund mit den Walker Brothers, dem unsäglichen Schlager-Schmalzer Engelbert Humperdinck und Cat Stevens, während der Tournee lachte sich die Experience-Entourage für einige Wochen einen Roadie in Liverpool an, der später selbst Rock’n’Roll-Geschichte schreiben sollte, es war kein Geringerer als der Inbegriff des Rockstars schlechthin, Kult-Figur und Kulturforum-Mottogeber Lemmy Kilmister.

Für Hendrix selbst waren „Are You Experienced“ und seine furiosen Live-Auftritte in Großbritannien der Rückfahrschein in die amerikanische Heimat und die Eintrittskarte in das große US-Pop-Business.
Nur wenige Monate zuvor hatte er in München seine ersten fest terminierten Gigs überhaupt, im November 1966 im Schwabinger „Big Apple“-Club, im folgenden März dann für vier Tage im Hamburger „Star-Club“, seinen letzten Auftritt sollte er im Übrigen auch in Deutschland spielen, 1970 beim „Love & Peace“-Festival auf der Ostsee-Insel Fehmarn.

Die Hendrix Experience nannte Throbbing-Gristle-/Psychic-TV-Industrial-Pionier Genesis P-Orridge später in einem TV-Interview „The ultimate Church of Sound“, dem Afro-Amerikaner aus Seattle mit Cherokee-Blut in den Adern lagen die Pop-Stars der Londoner Szene seiner Zeit aufgrund seiner exzessiven Auftritte, seiner exorbitanten Fähigkeiten an den sechs Saiten und nicht zuletzt wegen seines herausragenden LP-Debüts reihenweise zu Füßen, Harrison, McCartney, Lennon, Eric Clapton vom Allstar-Trio Cream, Brian Jones von den Stones, alle suchten die Nähe und Inspiration des neuen Superstars. Jack Bruce soll nach einer Hendrix-Show im Saville Theatre in Camden umgehend nach Hause entschwunden sein, um die Riffs für „Sunshine Of Your Love“ zu komponieren.
The-Who-Mastermind Pete Townshend würdigt Hendrix in seiner lesenswerten Autobiografie „Who I Am“ in Erinnerung an die Londoner Zeit gebührend:
„Jimi zum ersten Mal spielen zu sehen, war für mich als Gitarrist ebenfalls eine Herausforderung. Jimi besaß die beweglichen, geübten Finger eines Konzertviolinisten; er war ein echter Virtuose. (…) Er verschmolz den Blues mit der transzendenten Freude der Pschedelik. Es war, als hätte er ein neues Instrument in einer neuen Welt des musikalischen Impressionismus entdeckt. (…) Er war ein faszinierender Künstler, und ich habe fast Hemmungen zu beschreiben, wie fantastisch er wirklich live auf der Bühne war, denn ich möchte nicht seinen Heerscharen von jüngeren Fans das Gefühl geben, etwas verpasst zu haben. Wir alle verpassen etwas. Ich habe Parker, Ellington und Armstrong verpasst. Und wenn man Jimi nicht live gesehen hat, dann hat man etwas ganz, ganz besonderes versäumt. (…) Wenn ich zu Jimis Konzerten ging, nahm ich weder Acid noch rauchte ich Gras oder trank Alkohol, deshalb kann ich zuverlässig berichten, dass er auf der Rechtshänder-Fender-Stratocaster, die er umgedreht spielte (Jimi war Linkshänder), Wunder wirkte.“
– Einige Monate später im Rahmen des kalifornischen Monterey Pop Festivals sollte es trotzdem zum Zwist zwischen den beiden Ausnahmemusikern kommen. Es gab Unstimmigkeiten über die Reihenfolge der Auftritte am letzten Festival-Tag, Townshend war bewusst, dass er mit einem The-Who-Auftritt nach Hendrix nur verlieren konnte, zumal in der Zeit beide Gitarristen ihre Instrumente exzessiv bis zur Zerstörung malträtierten und der zweite in der Reihenfolge nur als ideenloser Nachahmer gelten konnte. Townshend gibt in seiner Biografie unumwunden zu, dass Hendrix zu der Zeit schlichtweg mehr an musikalischem Genie und vehementer Bühnenpräsenz zu bieten hatte als The Who, die dahingehend weiß Gott auch keine Waisenknaben waren.
Auch Rock Scully als Manager der Grateful Dead hatte arge Bedenken über den Monterey-Auftritt seiner Band zwischen The Who und Hendrix, in seinen Memoiren „Living with the Dead: Twenty Years on the Bus with Garcia and the Grateful Dead“ merkt er an, dass die Cosmic-American-Music-Institution mit ihrem relaxten Jam-Stil zwischen diesen beiden Live-Orkanen beim Publikum nicht punkten konnte.

„The Jimi Hendrix Experience owned the future, and the audience knew it in an instant. When Jimi left the stage he graduated from rumor to legend.“
(Pete Johnson, Monterey Pop Festival, Los Angeles Times)

Der Einfluss von Jimi Hendrix auf seine und nachfolgende Generationen ist bis heute kaum zu ermessen, seine Sound-Visionen haben Songwriting und Spiel von Ausnahmemusikern wie Stevie Ray Vaughan, Prince Rodgers Nelson, Vernon Reid, John Frusciante und Adrian Belew – um nur einige wenige Könner exemplarisch zu nennen – beeinflusst, selbst in meiner oberbayerischen Heimat Oberbayern hat er seine Spuren hinterlassen, wie die folgende „The Wind Cries Mary“-Adaption vom unvergleichlichen Untersendlinger Nachbarn Dr. med. Georg Ringsgwandl eindrucksvoll demonstriert:

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Reingelesen (45)

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„So habe ich aus irgendeinem Grund nie was von den Beatles gehalten, während meine Eltern vernarrt in sie waren. Immer dieses „She loves you, yeah, yeah, yeah“-Zeug. Igitt! Ich hasste ihre Frisuren, ich hasste alles an ihnen.
(…)
Authentizität? Aufhören! Diese Leute, die den authentischen Blues predigten, das waren so Typen wie Eric Clapton – geh mir bloß weg! Dass er dafür aus dem falschen Land kommt, ist nur eine Sache. Aber er imitiert was und hat dann plötzlich zu bestimmen, was geht und was nicht? Er kapiert nicht, das Musik von Menschen für Menschen geschrieben wird.“
(John Lydon, Anger Is An Energy, Roots And Culture)

John Lydon mit Andrew Perry – Anger Is An Energy: Mein Leben unzensiert (2015, Heyne)

This Is Not A Love Song: Englands schillerndste Punk-Ikone hat seine Vita zu Papier gebracht, wenn einer wie der unvergleichliche John Lydon aka Johnny Rotten zu einem derartigen Wurf ausholt, liegt es auf der Hand, dass er bei der Nummer kein Blatt vor den Mund nimmt.
Die von der katholischen Kirche und dem Irisch-stämmigen Arbeiterklassen-Elternhaus geprägte Kindheit und Jugend verlebte der junge Johnny im multikulturellen Londoner Stadtteil Holloway/Finsbury, der ortsansässige Fußball-Club Arsenal, dessen Hooligan-Umfeld und vor allem die lebensbedrohliche Menengitis-Erkrankung Lydons im Alter von acht Jahren waren maßgebliche Einflüsse in der kindlichen und jugendlichen Prägung des späteren Punkrock-Stars.

„In unserem Haus war vollkommen klar, dass der Nikolaus entweder brennen oder zu Brei geschlagen würde, falls er versuchte, den Kamin runterzukommen. Als zutiefst suspekte Erscheinung, die er war – ein Pfaffe und potenzieller Kinderschänder!“
(John Lydon, Anger Is An Energy, Born For A Purpose)

Seine Eindrücke aus erster Hand aus der spannendsten Zeit der durch Punk bedingten musikalischen Revolution im London Mitte der siebziger Jahre sind die Würze des Buchs, seine Erlebnisse mit den Pistols, die Anekdoten und Anmerkungen zum schwierigen Verhältnis zu den Bandkollegen Matlock, Jones und Cook, zu seiner offenen Feindschaft zum Pistols-Manager Malcolm McLaren, dem hinlänglich bekannten Bill-Grundy-Scharmützel, seinen nicht in den Punk-Kontext passenden Vorlieben für Musiker wie Peter Hammill, Captain Beefheart, Neil Young und den Krautrockern von Can und zu den Aufnahmen und dem Release-/Plattenlabel-Zirkus zum Punkrock-Meilenstein ‚Never Mind The Bollocks, Here’s The Sex Pistols‘ (1977, Virgin) sorgen für amüsante Lektüre, aufschlussreich und so manche Legende geraderückend sind seine Ausführungen zur seit seiner Schulzeit bestehenden Freundschaft mit dem Glen Matlock ersetzenden Sex-Pistols-Bassisten Sid Vicious, der laut Lydon maximales Talent als Junkie hatte, als Musiker jedoch ein Totalausfall war, da blieben selbst die gutgemeinten Übungsstunden, die ihm Motörhead-Basser Lemmy Kilmister angedeihen lies, fruchtlos – O-Ton Lemmy: „Sid hat keinerlei Begabung, kein Rhythmusgefühl, und er hat kein Gehör.“

„Es machte mich fertig, wenn ich merkte, das andere ihn ansahen und tatsächlich dachten, Heroin wäre richtig groovy. Sids Verhalten kommt für mich einem Verbrechen gegen die Menschheit nahe. Sein Leben war reine Selbstzerstörung.“
(John Lydon, Anger Is An Energy, Kämpfen oder untergehen)

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Unterhaltsam-informativ bleibt es im weiteren Verlauf der Dokumentation nach dem Pistols-Exit Lydons vor allem wegen den Entstehungsgeschichten zu den beiden mit seinem Folgeprojekt Public Image Ltd produzierten musikalischen Post-Punk-/Kraut-/Experimental-Wundertüten ‚First Issue‘ (1978) und ‚Metal Box‘ (1979, beide Virgin) und insbesondere der auch hier erneut auftretenden persönlichen Animositäten mit den weiteren maßgeblichen Bandmitgliedern, dem Bassisten John Wardle aka Jah Wobble und dem The-Clash-Gründungsmitglied Keith Levene, der mit dem Post-Punk-Ansatz in seinem Gitarrenspiel zu jener Zeit großen Einfluss auf den U2-Musiker The Edge gehabt haben soll, nach den Worten Lydons war er nichtsdestotrotz vor allem ein von Komplexen geplagter und verhaltensgestörter Zeitgenosse.
Hier erfährt der Leser auch, woher die Inspiration für die sperrige Blechbüchsen-Verpackung der Erstauflage von ‚Metal Box‘ herrührte: John Lydon bekam in jener Zeit die Probeaufnahmen zu ‚Quadrophenia‘ in einer Filmrollen-Metalldose zugeschickt, er war kurzzeitig auf Initiative Pete Townshends für die Rolle des Jimmy Cooper in der 1979er-Film-Adaption des Who-Klassikers angedacht.

„Meine Rolle bei dem Ganzen? Ich hatte ein völlig neues musikalisches Genre, ein völlig neues Musikverständnis erschlossen. Und wer strömte herein, nachdem ich die Tür aufgestoßen hatte? Lauter Penner, die auch noch stolz darauf waren, dass sie nichts im Kopf hatten.
Mir ging es darum, meine Lebenserfahrungen mit anderen zu teilen, nicht um die selbst gewählte Isolation, in die sich Punk dann begab. Durch so was verengt sich die Weltsicht – was der arme alte Joe Strummer für mich exemplarisch verkörperte. Er bildete sich ein, Anführer einer politischen Punk-Bewegung zu sein, und dass wir bei Solidarnosc mit Spruchbändern durch die Gegend laufen würden. Kompletter Schwachsinn.“
(John Lydon, Anger Is An Energy, Getting Rid Of The Albatross)

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Die ablehnende Einstellung Lydons zu einem Großteil seines sozialen und vor allem beruflich-musikalischen Umfelds, darunter etlichen Wegbegleitern aus der Hochphase des britischen Punk, zieht sich wie ein roter Faden durch das autobiografische Werk.
Selbst einem renommierten Musik-Journalisten wie Jon Savage spricht Rotten jegliche Kompetenz ab. Obwohl er selbst als Input-Geber an Savages von der Presse hochgelobtem Standardwerk ‚England’s Dreaming: Sex Pistols and Punk Rock‘ (1991) zur englischen Punk-Historie beteiligt war, ist letztendlich in der Dokumentation nach seinem Dafürhalten nahezu alles falsch dargestellt, Savage könne es auch nicht besser wissen, „er war ja kein Sex Pistol„.

„Die Sex Pistols hätten ohne ihn niemals diese Wirkung erzielen können. Trotz McLarens Spott war es eben genau Lydons Interesse an den Eigenheiten von Post-Hippie-Pop – dem Expressionisten Peter Hammill und dem hochexplosiven Captain Beefheart – -, die den Sex Pistols einen Ausweg aus der Nostalgie oder dem Jungsrock bot und den Zugang zu einem neuen, unbekannten Gebiet ermöglichte. Lydons Interesse an musikalischen Experimenten verlieh den Sex Pistols den Schneid, ihre immer extravaganteren Forderungen durchzuziehen.“
(Jon Savage, England’s Dreaming, 2/9)

So, wie der PiL-Output nach dem ‚Metal-Box‘-Release an Qualität zum Teil deutlich zu wünschen übrig lies, so verflacht auch die Biografie Lydons im weiteren Verlauf zusehends, für punktuelle Highlights sorgen seine schonungslose Replik gegen den Kinder-schändenden BBC-Moderatoren Jimmy Savile, seine Gedanken zum schwierigen Verhältnis zu seiner Stieftochter, der Slits-Musikerin Ari Up, seine Anmerkungen zu der von ihm geschätzten Reggae-Musik und die Entstehungsgeschichte des von Bill Laswell produzierten PiL-Tonträgers ‚Album‘ (1986, Virgin), auf dem illustere Gäste wie die Ausnahmemusiker Ginger Baker, Tony Williams, Steve Vai und Ryuichi Sakamoto zu hören sind, alles Könner ihres Fachs, die man zu jener Zeit nicht unbedingt als Mitmusikanten auf einem Johnny-Rotten-Album vermutet hätte.
Das letzte Drittel des Buchs ist tendenziell belangloses Geschwaller zu den Themen Pistols-Reunion, Lydons geplanter Teilnahme in der Rolle des Judas Ischariot bei einer letztendlich geplatzten Jesus-Christ-Superstar-Produktion am Broadway, seinem Auftritt bei „I’m a Celebrity…Get Me Out of Here!“, der britischen Ausgabe des Prekariatsfernsehen-Dschungelcamps und seiner Beteiligung an einem Werbespot für irische Butter. Wegen des lieben Geldes hat Rotten all diesen Firlefanz nicht veranstaltet, was sein jeweiliger Antrieb für die Aktionen war, kann er dem Leser in der Autobiografie aber leider auch nicht plausibel erläutern.
Seine Ergüsse, warum er nicht gern zum Zahnarzt geht, interessieren möglicherweise seinen Friseur oder den Gasmann, und seine Verehrung für Gandhi nimmt ihm bei gleichzeitiger Befürwortung der amerikanischen Waffengesetze – Lydon ist seit kurzem US-Bürger – irgendwie auch niemand ab…

Immerhin, aufgrund der weiterhin gepflegten und in der Biografie hinlänglich ausgekosteten Animositäten zu den ex-Pistols-Kollegen Matlock und Jones dürfte den Musik-Interessierten die Peinlichkeit einer erneuten Reunion erspart bleiben, aber hinsichtlich exzentrischer Ideen ist man bei John Lydon letztendlich vor nichts gefeit, wie die Lektüre seiner Autobiografie eindrucksvoll unter Beweis stellt.

So wie Lydon seine Erinnerungen, Anekdoten und Lebensweisheiten verbal rausgehauen hat, so hat sie Co-Autor Andrew Perry offensichtlich mehr oder weniger ungefiltert zu Papier gebracht, großes Rumfeilen und Ringen um gepflegtere Formulierungen sind nicht zu erkennen, literarischer Anspruch ist was anderes.
Anger Is An Energy: Nichts für Feinschmecker der gehobenen Schreibkunst, aber für Interessierte am Werdegang einer der schillerndsten Pop-Ikonen der vergangenen vierzig Jahre ist das Pamphlet alles in allem dann doch partiell lesenswert.

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„Ah-ha-ha. Ever get the feeling you’ve been cheated? Good night.“
(Johnny Rotten, Winterland Ballroom, San Francisco, 1978-01-14)

„The King Is Gone But He’s Not Forgotten,
Is This The Story Of Johnny Rotten?“
(Neil Young, Hey Hey, My My (Into The Black))

Reingehört (106)

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„It’s Only Teenage Wasteland“
(Pete Townshend, Baba O‘ Riley)

The Who – Live In Hyde Park (2015, Eagle Rock)
Heimspiel vor 65.000 Konzertbesuchern am 26. Juni 2015 im Londoner Hyde Park: The Who feiern 50 Jahre on the Road, eine der besten Live-Bands ever zündet ein Feuerwerk ihrer Greatest Hits, die Schlager der sechziger Jahre, Extrakte ihrer Großtaten ‚Tommy‘ und ‚Quadrophenia‘, „Won’t Get Fooled Again“, „Behind Blue Eyes“, „Bargain“ und natürlich einer der ergreifendsten Rock-Songs aller Zeiten, das gigantische „Baba O‘ Riley“ vom ‚Who’s Next‘-Meisterwerk und die Hits wie „You Better You Bet“ aus den späteren Werken der Band bieten einen bestechenden Best-Of-Mix, der die Band um die Urmitglieder Pete Townshend und Roger Daltrey in hervorragender Spiel-Laune zeigt.
Seit mit Ringo-Starr-Sohn Zak Starkey der einzig legitime Nachfolger des legendären Keith Moon am Schlagzeug sitzt, zeigt die Formkurve der Woodstock-Veteranen seit vielen Jahren wieder steil nach oben, umso bedauerlicher, dass mit der 2015er-Tour wohl das Finale der Who als Live-Act eingeläutet wurde, zwei Tage nach dem Hyde-Park-Konzerte spielte die Band als Headliner beim südenglischen Glastonbury Festival, Pete Townshend deutete an, das dies möglicherweise der letzte UK-Gig der britischen Rock-Ikone war, und auch der hinsichtlich Bandauflösung ansonsten stets renitente Roger Daltrey geht in dem Fall konform: “This is the beginning of the long goodbye”. Wie schade…
(**** ½ – *****)

Reingehört (65)

QUADROPHENIA

Just wanna be misunderstood
I wanna be feared in my neighborhood
Just wanna be a moody man
Say things that nobody can understand
Coolwalkingsmoothtalkingstraightsmokingfirestoking
Coolwalkingsmoothtalking, yeah

(Pete Townshend, Misunderstood)

Pete Townshend – Truancy: The Very Best of Pete Townshend (2015, UMC)
Nach der anständigen Atlantic-Sammlung „The Best of Pete Townshend“ aus dem Jahr 1996 und der ebenfalls das Solowerk des Ausnahmemusikers gut abdeckenden SPV-Doppel-CD „Anthology“ (2005) ein weiterer Best-Of-Erguss über die Alleingänge des The-Who-Masterminds, und ich nehme es vorweg: mit Abstand sein überflüssigster.
Sein Solo-Debüt „Who Came First“ (1972, Track/Polydor) ist mit „Pure And Easy“, „Sheraton Gibson“ und „Let’s See Action“ noch würdig vertreten, von seiner Kollaboration „Rough Mix“ mit dem Small-Faces-Musiker Ronnie Lane (1977, Polydor) fehlt die geniale Misanthropen-Nummer „Misunderstood“ sowie die herzerweichende Ballade „Annie“, von der wunderbaren Erfolgs-Scheibe „Empty Glass“ (1980, Atco) sucht man „I Am An Animal“, den Titelsong und vor allem das herrliche „And I Moved“ vergeblich, das 1982er Werk „All the Best Cowboys Have Chinese Eyes“ (Atco) ist mit „The Sea Refuses No River“ und „Faces dances Pt. 2“ auch tendenziell ungebührend repräsentiert, ich hätte mir davon „Stop Hurting People“, „Exquisitely Bored“ und „Communication“ gewünscht, von der relativ schwachen „White City“-Scheibe (Atco) darf natürlich das grausame „Face To Face“ nicht fehlen, die einzige wirkliche Kracher-Nummer des 1985er-Albums, „Give Blood“, mit Dave Gilmour von Pink Floyd an der Gitarre, wird, passend zu diesem Compilation-Konzept, links liegen gelassen.
Das extrem schwache Konzept-Album „The Iron Man“ (1989, Atlantic) wird durch „I Won’t Run Any More“ repräsentiert, das einzig vernünftige Stück des Tonträgers, „Dig“, wird selbstredend ignoriert.
Die „Scoop“-Trilogie wird durch einen einzigen Song vertreten, was aufgrund der herausragenden Güte dieser Song-Rohentwürfe ein schlechter Witz ist, dafür gibt es in guter alter Beutelschneider-Manier zwei neue Townshend-Songs, die Protestnummer „Guantanamo“ und die Ballade „How Can I Help You“, irgendein Verkaufsargument braucht man als Plattenfirma für diese unausgegorene Sammlung, um dem Townshend/Who-Fan die Kohle aus der Tasche zu ziehen…
Ein größtenteils völlig überflüssiges Sammelsurium an Townshend-Songs, das dem Genie des Meisters über weite Strecken in keinster Weise gerecht wird. Schmeissen sie Dir beim Saturn in ein paar Jahren für drei Euro nach, den Krampf, wetten?
(** ½ – ***)

V.A. – Pete Townshend’s Classic Quadrophenia (2015, UMO/Decca Classics)
Der nächste Sündenfall: Orchestriert von Pete Townshend’s Lebensgefährtin Rachel Fuller, dirigiert von Robert Ziegler, eingespielt vom Royal Philharmonic Orchestra, haut der alte Pete die Mod-Saga „Quadrophenia“ als Oper auf den Markt, der unsägliche Billy Idol darf sich bei der Gelegenheit auch die Rente aufbessern und spätestens wenn der Tenor Alfie Boe den Gesangspart Roger Daltrey’s übernimmt, muss der Hardcore-Who-Fan ganz stark sein und um Contenance ringen, damit er beim Konsum dieser abscheulichen, durch nichts zu entschuldigenden Vergewaltigung nicht rückwärts frühstückt…
Was bei der Weiterverwertung der Rockoper „Tommy“ und der finalen, maximalen Ausschlachtung als symphonisches Werk bereits tendenziell ziemlich in die Hose ging, gerät bei „Quadrophenia“ zum allumfassenden Debakel. Wo „Tommy“ seinerzeit tatsächlich als Oper konzipiert wurde und Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre in entsprechenden Häusern wie beispielsweise der Carnegie Hall in New York von der Band selbst aufgeführt wurde und insofern als orchestrales Werk noch irgendwo Sinn machte, erzählt das Konzeptalbum „Quadrophenia“ (1973, Track Records) die straßentaugliche Geschichte der britischen Mod-Bewegung und ihrer Kämpfe mit Elternhaus, Arbeitgebern und den verhassten Rocker-Gangs, eine Story, die denkbar ungeeignet ist für die Hochkultur-Tempel dieser Welt. Langer Rede kurzer Sinn: ich kann nur empfehlen, die Finger von diesem unappetitlichen Auswurf zu lassen, die Beschäftigung mit „Quadrophenia“ macht beim Hören des Original-Prog-Rock-Meisterwerks von Townshend, Daltrey, Entwistle und Moon, dem The-Who-Spectrum-Philadelphia-Bootleg von der 1973er US-Tour der Band oder mittels der immer noch sehr sehenswerten cineastischen Adaption durch Regisseur Franc Roddam aus dem Jahr 1979 mit Phil Daniels in seiner Rolle als Jimmy Cooper sowie unter weiterer Beteiligung von unter anderem Leslie Ash, Toyah Willcox und Sting wesentlich mehr Spaß.
Sollte „Who’s Next“ eines Tages auch noch durch den orchestralen Fleischwolf gedreht werden, kündige ich Townshend die Freundschaft…;-)) Irgendwann macht die Gaudi a Kurven, wie wir hier in Bayern so schön sagen.
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