Polen

Tatvamasi + White Pulse @ Maj Musical Monday #98, Glockenbachwerkstatt, München, 2019-10-21

Die 98. Ausgabe der Postrock/Experimental/Improvisations-Reihe Maj Musical Monday am vergangenen Montagabend in der Münchner Glockenbachwerkstatt: eine maximal Jazz-lastige Angelegenheit im Doppelpack.

Die Musiker vom Schweizer „Workoutjazz“-Trio White Pulse gingen bereits mit dem ersten Nerven-zerrüttenden Saxophon-Plärren in die Vollen, vom Start weg keine Gefangenen machend in Sachen radikaler Free-Jazz/Noise-Ausbruch. Die Band wurde ihrem Tour-Motto „Fast And Furious“ in ihrem berserkernden Ausbruch ohne Abstriche gerecht, eingangs mit einer ellenlangen, atonalen Kakophonie, zu der Gitarrist Philipp Saner als explosiver Vulkan in Überschall-Geschwindigkeit die Saiten traktierte, wie Trommler Florian Kolb und Bläser Pablo Lienhard permanent neuen Ideen in Gedanken nachjagend und in der Umsetzung zum folgenden erratischen Ausbruch hetzend. Dem ersten dissonanten Beben auf der tonalen Überholspur folgte eine kollektive Rauchpause der drei lärmenden Musikanten, die das Trockeneis-Fluten des Saals mittels E-Zigaretten-Qualm simulierten, während das Auditorium per Videoleinwand mit bewegten Bildern und Sounds von Rennsport-PC-Spielen bespaßt wurde, die den ein oder anderen Gast möglicherweise auch dezent zu verstören vermochten. Damit an bizarrem Absurd-Theater nicht genug, White Pulse wussten ihren sprunghaften, jegliche stilistischen Grenzen einreißenden Auftritt durch eine ausnehmend exzellente Interpretation des Schlagers „Wer nie verliert, hat den Sieg nicht verdient“ aus der Feder von Udo Jürgens weiter anzureichern, ob der große österreichische Unterhaltungskünstler die Version seiner durch den Laibach-Fleischwolf gedrehten Erbauungs-Nummer goutieren würde, wir werden es in diesem Leben nicht mehr erfahren, im Zweifel war hierzu selbst die geballte Kraft der drei Keyboards vergebliche Liebesmüh.
Dem Intermezzo aus der wundersamen Welt der deutschen Sangeskunst folgte ein gedehntes Lärm-Finale, zu dem die Eidgenossen erneut in entfesselter Raserei dem Irrsinn die Sporen gaben, nebst kaum mehr zu greifenden Improvisations-Krach-Attacken ließ das infernalische Trio das ein oder andere Hardcore-Punk-Schlaglicht aufflammen, zerrte den Stooges-Klassiker, in dem Iggy Dein Hund sein will, in schwermetallene Grunge-Tiefen, und demonstrierte mit der Nummer „Ring A Bell“, dass sich selbst in diesem Kontext völlig konträrer, leichtfüßig-luftiger Pop-Sing-Sang ins freigeistige Bühnen-Konzept der Band aus Zürich integrieren lässt. Zugaben-Block erledigte sich quasi von selbst, in der finalen Klang-Apokalypse flogen durch wild-entfesseltes Getrommel die Mikros vom Drum-Kit, das Gitarren-Instrument war mit mehreren gerissenen Saiten unter Hochdruck-Einwirkung ohnehin längst tot-malträtiert. „Search And Destroy“-Auftrag erfüllt, schätzungsweise…

Weitaus konventioneller, stringenter, mehr der ausgereiften Komposition verpflichtet gestaltete das Quartett Tatvamasi aus dem polnischen Lublin ihren Gig im Nachgang zum eruptiven Beben der Schweizer Kollegen. Der Coltrane-, Dolphy- und Rollins-Soul des geerdeten Saxophon-Spiels von Tomasz Piątek schwebte über der ausgefeilten Kraut- und Progressive-Melodik seiner Mitmusiker, allesamt handwerklich versierte und inspirierte Instrumentalisten, denen die filigranen Riffs, Breaks, Rhythmen und Drum-Beats wie locker aus dem Ärmel geschüttelt glückten. Der Jazz mochte hier lautmalend tonangebend sein, ohne permanent auf seine Vormachtstellung zu pochen, der stilistisch weit gefasste Improvisations-Flow der Band atmet psychedelischen Spirit, der treibende Blues aus dem Anschlag der halb-akustischen Gitarre von Grzegorz Lesia bis hin zu atmosphärischen Desert-Rock-Zitaten der Spielart trifft auf die komplexen Bass-Linien des kauzigen Band-Sprechers Łukasz Downar in dessen Interpretation von ausladenden Instrumental-Prog-Rock-Herrlichkeiten. Den Modern Jazz aus den Tiefen des Tenor-Sax flankierte Drummer Krzysztof Redas mit seinem frei austarierten, losgelösten Anschlag. Anregender und schwerst gefälliger Vortrag einer Band für die leider viel zu wenigen Zuhörer, denen die Grenzen des ausladenden Jazz-Rock an diesem Abend nicht weit genug gefasst sein konnten.

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Reingehört (286): Jacaszek

kulturforum VIKTUALIENMARKT MÜNCHEN www.gerhardemmerkunst.wordpress.com (26)

Jacaszek – KWIATY (2017, Ghostly International)

„I tend to always create organic, acoustic sounds, even though I work within a digital environment. Because KWIATY is actually a vocal album, the electronic sounds in the background seemed to be a perfect opposition. It’s all unintentional, really; this is just my music language and I can’t run away from it.“

„KWIATY“ (key-AH-teh), zu deutsch „Blumen“, das neue Album des polnischen Ambient-Produzenten und -Komponisten Michał Jacaszek, inspiriert und hinsichtlich Songtexten maßgeblich beeinflusst von einer Lyrik-Sammlung aus dem 17. Jahrhundert des englischen Poeten und Kirchenmanns Robert Herrick, auf dessen Gedicht „To The Virgins, To Make Much Of Time“ das Carpe-Diem-Blabla aus der „Club der toten Dichter“-Hollywood-Schmonzette basiert, die selbst laut vorgelesenen Verse inspirierten den Klangkünstler Jacaszek zu einer Sammlung von elf neuen Werken, in denen sphärischer, entrückter, getragen-melancholischer Ambient-Drone eine gedeihliche Symbiose mit getragenem Akustik-Folk und einer virulenten, schwer greifbaren, großartigen Melodik eingeht, der abstrakte, geisterhaft schwelende Sampling-Flow und die meditativen, organischen Wandergitarren- und Harfenklänge werden von jenseitiger, dieser Welt entrückter Vokalkunst der Sängerinnen Hania Malarowska, Joasia Sobowiec-Jamioł und Natalia Grzebała auf das Angenehmste bereichert.
Atmosphärische Störgeräusche, ein fühlbares Knistern und Knirschen im Ineinander-Greifen der vordergründig artfremden Genres und ein austariertes Spiel zwischen düsteren und lichtdurchfluteten Stimmungen im Sinne von Verzweiflung und aufkeimender Hoffnung sorgen für ein dramatisch-spannungsgeladenes Gesamt-Klangbild, dass die einzelnen Zutaten hinsichtlich ergreifendem Ausdruck und vor allem in dieser Strukturiertheit nicht zwingend erwarten lassen.
„KWIATY“ wird am 17. März auf dem amerikanischen Indie-Label Ghostly International erscheinen.
(**** ½ – *****)