Quebec

Reingehört (529): Lungbutter

These girls know how to build a wall of noise.
(JoronJoron, Bandcamp-User)

Lungbutter – Honey (2019, Constellation Records)

Die Produkt-Verantwortlichen der Montrealer Plattenfirma Constellation Records laufen in diesen Tagen mit exzellenten Veröffentlichungen zu Hochform auf, mit dem neuen Album von Siskiyou, der SING SINCK SING-Kollaboration von GY!BE-Mastermind Efrim Menuck mit Kevin Doria und der Trinity-Sessions-Interpretation von Deadbeat & Camara werden in den nächsten Wochen herausragende Tonträger aus dem aktuellen Release-Katalog des feinen kanadischen Indie-Labels in den Verkaufsregalen und Download/Streaming-Plattformen des Musikalien-Fachhandels landen. Damit nicht genug, mit der Ankündigung des ersten Volle-Länge-Werks vom Mädels-Trio Lungbutter steht das nächste erhebende Wunderwerk aus der Constellation-Kreativ-Schmiede ins Haus.
Die Band veröffentlichte bereits im Sommer 2014 die Tape-EP „Extractor“ und skizzierte damit erstmals in rohen DIY-Entwürfen ihre Vorstellung von lärmender Brachial-Beschallung. Wesentlich filigraner ist das Material der kommenden „Honey“-LP auch nicht geraten, jedoch weit vollmundiger, mit satterem Sound produziert, ohne den ruppigen Indie-Krachern die Ecken und Kanten zu nehmen.
Dröhnende, Luft-schneidende Fuzz-Gitarren im steten Grenzgang zur dissonanten Übersteuerung, irgendwo zwischen hoher Jon-Spencer-Schule, heftigen Grunge-Eruptionen und brennendem Funken-Schlagen aus der Trash-Garage, mit wild jaulenden Saiten und Amp-Rückkopplungen der Hörerschaft von Kaity Zozula um die Ohren geblasen, dazu das kongenial stramme Straight-Forward-Scheppern von Drummerin Joni Sadler – mehr braucht es nicht an musikalischer Untermalung zum wild flackernden, befreit ausbrechenden Schwadronieren von Sängerin Ky Brooks, die in den elf Songs eine beeindruckende Bandbreite an vokalen Ausdrucksformen auffährt, halbwegs poppige Riot-Grrrls-Gesänge, weirdes, schrilles Zetern, Gebetsmühlen-hafte Mantras, kathartisches, leidenschaftliches Geschrei, bis hin zu ausuferndem, sich permanent wiederholendem Spoken-Word-Dadaismus als strings of consciousness.
Lungbutter fräßen sich mit ihrem pulsierenden Lärm-Cocktail nachhaltig in die Hirnwindungen und erheben ihr kompromissloses, experimentelles Noise-Gebräu zur radikalen Kunstform, mit eruptiven Breaks ins Atonale, mit unvermittelten Tempi-Wechseln, Driften in freies Drone-Lärmen, ohne je die scharf abrockenden Song-Strukturen gänzlich aus den Augen zu verlieren. No Wave, Sludge, Postpunk, Slowcore und eine Ahnung von roher Industrial-Härte dürfen das ihrige zum nachhallenden Zerrbild aus den dunklen Gruften der inneren Befindlichkeiten beitragen. Hier werden keine Gefangenen gemacht, hier trifft jeder Anschlag voll auf die Zwölf ins Schwarze. „Honey“ ist ein energisch bebender Druckkessel, ständig dem Bersten nahe, von den markerschütternden Gitarren-Riffs als zentraler Dreh- und Angelpunkt zusammengehalten.
Wer sich mit dem Lungbutter-Sound an den rumpelnden Siebziger-Punk von X-Ray Spex, Sonic Youth in ihrer heftigen Frühphase oder die chaotischen Ergüsse von Ann Magnuson und Mark Kramer mit ihrer Combo Bongwater erinnert, darf das gerne tun, umfänglich gerecht wird man dem ungestümen Drängen des Frauen-Trios aus Quebec damit allenfalls ansatzweise.
Punk Rock isn’t dead, it just goes to bed at a more reasonable hour, hieß es mal auf einem humorigen Sticker mit den Konterfeis der Althelden Rollins und MacKaye, zuweilen kommt er dann doch noch völlig überraschend im Entwurf dreier junger Krawall-Ladies schwungvoll als Frischzellenkur um die Ecke.
Aus Montreals DIY-Underground direkt hinein ins heimische Kämmerlein: Der für eine gute halbe Stunde virulente Unruheherd „Honey“ erscheint am 31. Mai beim kanadischen Indie-Label Constellation Records. Have one and play it LOUD!
(***** – ***** ½)

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Reingehört (445): Gulfer

Gulfer – Dog Bless (2018, Big Scary Monsters)

Vier aufgeweckte junge Burschen aus Montreal/Quebec, die wissen, wo der Indie-Hammer hängt. Großmauliges Auftreten im Sangesvortrag, wie er im Rock ’n‘ Roll seit vielen Dekaden bestens funktioniert mittels Herauskehren der jugendlichen Unbeschwertheit und Hinausposaunen der unverstellten Gedankengänge, orchestriert mit einer simplen, unkomplizierten wie effektiven und griffigen Melodik aus dem Alternative Rock, die heutzutage in der Sparte weitestgehend mit der Lupe zu suchen ist, und einer Präsenz an flotten, sprunghaften, die Rhythmik bestimmenden Tempi-Wechsel in allen möglichen nervösen Math-Rock-, Prog- und Emo-Spielarten, die die technischen Fingerübungen dankenswerter Weise nicht als sterile Demonstration der individuellen Fertigkeiten über Gebühr strapazieren, Tappings und Riffs führen eine gleichberechtigte Beziehung, sozusagen die friedliche Koexistenz der Math-Nummer neben den Emotionen, Herz und Hirn werden gleichermaßen stimuliert, die Hörerschaft darf sich neben intellektuellem Nachspüren des erratischen Sounds auch den großen Gefühlen hingeben, nicht wenig, was der zweite Longplayer „Dog Bless“ des kanadischen, seit 2011 aktiven Quartetts Gulfer in einer guten halben Stunde alles an Eindrücken parat hält.
Auf das erste Hören wie es scheint ein Album aus einem Guss, und doch stehen die Songtexte, die mit einer dem Punk der frühen Jahre entlehnten, quasi-euphorisierten Frische und Energie präsentiert werden, im krassen Gegensatz zur nicht minder druckvollen Beschallung, Sänger Vincent Ford lässt sich ergiebig über die Langeweile beim Abhängen in den eigenen vier Wänden und die Aspekte des Älterwerdens aus, wie über den bedauerlichen Umstand, dass Song-schreiben über Langweile und Älterwerden die Menschheit auch nicht groß vorwärts schmeißt.
Die Nummer hat seine große Zeit letztendlich auch schon wieder etliche Monde hinter sich und wird insofern in der Form heutzutage viel zu selten zum Vortrag gebracht, dabei hat es nichts Verwerfliches, wenn eine Band wie Gulfer mit diesem angereicherten Emo-Ansatz in einer Mischung aus Unverfrorenheit, Trotz und unbeugsamem Glauben an die eigene Sache munter vor sich hinschwadronieren und damit zwangsläufig selbst in die Jahre kommen, es ist schon so mancher Musikant aus der Steinzeit der Rockmusik mit weitaus schwindligerem Zeug Saison für Saison über die Runden gekommen, hat Literaturnobelpreise eingesackt oder Stadien mit dem immer gleichen Gedöns gefüllt…
(**** ½ – *****)