Roman

Die virtuelle Reste-Schublade (6)

Reingehört – Short Cuts:

Wooden Peak – Yello Walls (2019, Kicktheflame)

Die beiden Leipziger Musiker Sebastian Bode und Jonas Wolter vom Indie/Electronica-Duo Wooden Peak mit einer reifen Grenzgänger-Leistung im – hier tatsächlich sehr spannenden Feld – zwischen extrem gelösten, luftigen, entspannten Post-Pop-Nummern und gehaltvollen Electronica-Experimenten. Minimalistische, tanzbare Songs, mit lakonischem Gesang erzählt, zwischen Mid-Tempo und Zeitlupe, mitunter sehr trocken und anspruchsvoll, dabei mit unzweideutigem Wiedererkennungswert und Ohrwurm-Qualitäten gesegnet, zur Reife gebracht mit digitalen Samplings, charakteristischen Synthie-Gimmicks, hallenden Lautmalereien.
Die Nummern von „Yellow Walls“ laufen nie Gefahr, dass der Sound auf Kosten des Experiments oder wie auch immer gearteter Novelty-Gags ausfranst und sich im austauschbaren, ätherischen, formlosen Ambient/Trance-Geplätscher verliert, bei Wooden Peak steht das Bekenntnis zur Song-Struktur an vorderster Stelle.
Wer auf Aktuelles von Notwist seit geraumer Zeit vergebens wartet und/oder wem beim letztjährigen „Any Day“-Album von The Sea And Cake die Füße und schlimmstenfalls der ganze Rest vom Kadaver bedingt durch urfade Ödnis eingeschlafen sind, bittschön, hier wär die schwer taugliche Alternative, jederzeit auch zur Reanimierung aus dem Koma.
(**** ½ – *****)

Wooden Peak spielen heute live in Halle an der Saale im Café Ludwig und demnächst zu folgenden Gelegenheiten:

16.03.Biesenthal – Camp Concerts
27.03.Brüssel – Le Brass
28.03.Aachen – Raststätte
02.04.Darmstadt – Schlosskeller
04.04.München – Import/Export
08.04.Münster – Pension Schmidt
07.06.Hatzenweier – Grüner Baum
09.08.Feldberg – 3000grad Festival
19.09.Chemnitz – Weltecho

ZKHR – Ride (2019, Spinnup)

Der russische Mulitinstrumentalist Zaytsev Zakhar aka ZKHR setzt auf „Ride“ Eigenkomponiertes fast im Alleingang um, auf drei Nummern geben zwei Gast-Drummer den Takt vor, das Gros an Orchestrierung aus Gitarren, Bässen, klassischem Instrumentarium wie Cello, Violine, Piano und das Organische kontrastierender Abstrakt-Electronica steuert der junge Musiker komplett selbst bei. ZKHR verwebt in seinen von neoklassischer Melancholie dominierten Instrumental-Werken synthetische Ambient-Sounds und sporadisch einsetzende Gitarren-Intensität, die effektvoll platzierten Postrock-Einwürfe entfalten dank ihrer nur selten und punktuell durch die Klanglandschaft rauschende Flut umso mehr Kraft und Effekt.
Jene, die bereits im Sumpf des Schwermuts wandeln, werden durch die von getragener Elegie und meditativer Nüchternheit geprägten Kompositionen nicht hoffnungsvoller gestimmt, und selbst den beschwingt in den Tag gehenden Optimisten wird nach Abhören vermutlich nicht mehr der Sinn nach Tanzbein-schwingen stehen. Trotz feiner Kompositionskunst und entsprechender Umsetzung als Antidepressivum völlig ungeeignet.
(**** ½)

Yodok III – This Earth We Walk Upon (2019, Consouling Sounds)

„Go Man Go, But Very Slow“ warnen Straßenschilder Bus- und LKW-Fahrer im Himalaya-Gebirge an gefährlichen Bergpässen am National Highway 1D zwischen Kaschmir und dem alten Ladakh, diese Aufforderung zum behäbigen und entschleunigten Fortgang haben der belgische Gitarrist Dirk Serries und die beiden skandinavischen Yodok-Musiker, der norwegische Tubaist Kristoffer Lo und der schwedische Drummer Tomas Järmyr, in ihren tonalen Visionen auf ihrer Anfang Februar beim hochgeschätzten Consouling-Label erschienenen Arbeit „This Earth We Walk Upon“ einmal mehr verinnerlicht und umgesetzt. Ein einziges Stück im steten Flow, 63 Minuten live bei einem Konzert in Trondheim mitgeschnitten, eine tonale Kernschmelze aus instrumentalem Postrock, experimentellem Jazz und diffusen Trance-/Neoklassik-Drones, die scheinbar aus dem unbegreiflichen Nichts einer amorphen Sound-Masse in der dramatischen Steigerung zwar lange nur in homöopathischen Dosen, aber doch unaufhaltsam dem finalen Überhitzen entgegen strebt.
(**** ½)

Literatur, wird mir übel nur:

Haruki Murakami – Afterdark (2005, DuMont Buchverlag)

Mit dem warum auch immer in den Feuilletons und von zahllosen beinharten Fans hochgelobten Herrn Murakami und seinen farblosen Protagonisten durch die Tokioter Nacht. Um es vorwegzunehmen: Ohne anhaltende Gähn-Attacken kaum zu bewerkstelligen. Die Story ist bocksimpel, lässt jeglichen Tiefgang oder wie auch immer geartete Relevanz vermissen und ist im Wesentlichen schnell erzählt: Zwei junge Schwestern in ihren Hauptrollen nach Mitternacht, eine im Koma-ähnlichen Dauerschlaf, beobachtet von einem mysteriösen Besucher und dem allwissenden Erzähler, die andere putzmunter und schlaflos bis zum Morgengrauen in der kalten Großstadt unterwegs, über lange Passagen des Buchs in platte Dialoge mit einem desillusionierten, gleichaltrigen Jazz-Musiker involviert. Als undramatischer Beihau: eine chinesische Prostituierte wird in einem Stundenhotel bestohlen, der Täter entpuppt sich als abgestumpfter Büro-Workaholic; eine zufällige Bekanntschaft der schlaflosen Schwester erzählt von ihrer jahrelangen Flucht, ohne dass die Leserschaft erfährt, vor wem oder was oder warum, das ist alles trivial und im Ungefähren belassen, lange bleibt die im Hinterkopf mitschwingende Frage „Kommt da noch was?“ unbeantwortet, am Ende steht ein ernüchterndes „Nein“ – unterm Strich einfach bei weitem zu wenig für gewichtige Literatur, anregende Denk-Impulse oder einfach auch nur unterhaltsamen Lese-Konsum. Minimalistischer Ambient, Trance und meditativer Drone im Zweifel dann doch lieber in musikalischer Darreichungsform, dort ist Sprachlosigkeit und Reduktion Standard und Mittel zum Zweck, in der Literatur ist das in der Form dürftig, für das Nichts muss man keine hunderte von Seiten verschlingen.
Auch stilistisch ist die Reise durch die Nacht ein einziges Non-Event, außer, man hält das simple Aneinanderreihen von Hauptsatz an Hauptsatz und die zu großen Teilen völlig belanglosen Teenager-Dialoge für einen scharfen Move aus der literarischen Trickkiste.
So schaut’s also aus, in „Afterdark“, mit dem vielerorts hochgelobten japanischen Star-Autor. Wenn das alles ist, was der hochgehypte Asiate auf der Pfanne hat, dann können’s den wiederholt für ihn eingeforderten Nobelpreis für Literatur in der Schwedischen Akademie in Stockholm weiterhin gern stecken lassen, selbst die Lachnummer mit dem Nuschel-Bob und seinen kryptischen Folk-Liedlein hat da noch mehr Sinn gemacht, und das will an dieser Stelle was heißen. Jeder gesunde Nachtschlaf ist dieser Lektüre vorzuziehen. Sleep you well in your Bettgestell…

Charles Bukowski – Post Office / Der Mann mit der Ledertasche (1974, Kiepenheuer & Witsch)

Dirty Old Man Bukowski, nach 40 Jahren revisited, das Unterfangen nach 25 Seiten aussichtslosem Kampf mit diesem stilistischen Offenbarungseid grandios gescheitert. In Zeiten der Adoleszenz mag man die Geschichten über den exzessiven Suff, den Stumpfsinn der täglich immer gleichen Lohnsklaverei im Dienste des U.S. Postal Service und Henry Chinaskis deftige Schilderungen seines Geschlechtsverkehrs noch für ein scharfes Gebräu gehalten haben, im Abstand der Zeit erweist sich dieses flache, erratische, auf keinerlei Klimax hinarbeitende Gewäsch in seiner erbärmlichen Ausformulierung dann doch als weithin ungenießbar. Inhaltlich in den Siebzigern und frühen Achtzigern wohl noch mit Provokations-Potential aufwartend, aber: Der Mann konnte einfach nicht schreiben.
Oder um es mit einem Zitat aus einem Dialog zwischen Krimi-Hardboiled-Champion James Ellroy und Hollywood-Autor/Regisseur Bruce Wagner auf den Punkt zu bringen: „A misogynistic, alcoholic sack of shit“„Yeah, a man with small hands and minor gifts“. – Klarer Fall von Haltbarkeitsdatum längst überschritten…

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Reingelesen (77): George Saunders – Lincoln im Bardo

So die Reise meines Lebens nun beendet ist, und da keine Verwandten mit mir aus dieser Welt dahingehen, wandere ich einsam im Bardo-Zustand.
(Das Totenbuch der Tibeter, herausgegeben von Francesca Fremantle und Chögyam Trungpa)

George Saunders – Lincoln im Bardo (2018, Luchterhand)

J. R. Robinson und Esther Shaw vom Drone/Postmetal-Experimental-Kollektiv Wrekmeister Harmonies haben sich in ihrer Auseinandersetzung mit schwergewichtigen Themen wie Trauer, Vergänglichkeit und Tod im Rahmen des Entstehungsprozesses zum vor kurzem erschienen Album „The Alone Rush“ unter anderem mit einer Auswahl literarischer Werke wie den Schilderungen jamaikanischer Gang-Gewalt in den Siebzigern in „Eine kurze Geschichte von sieben Morden“ von Marlon James, dem Essay „The Age Of Loneliness Is Killing Us“ von George Monbiot und der Novelle „Lincoln In The Bardo“ des texanischen Literaten George Saunders beschäftigt, letzteres Werk ist im Mai beim Luchterhand-Verlag in deutscher Übersetzung von Frank Heibert erschienen.

„Lincoln im Bardo“ erzählt die Geschichte vom Sterben und anschließendem Verweilen im schwebenden Zustand einer Zwischenwelt des jungen Willie Lincoln, der im zarten Alter von 11 Jahren in der Hochphase des amerikanischen Bürgerkriegs im Februar 1862 vom Typhus-Fieber dahingerafft wurde, während seine Eltern ein Staatsbankett im Weißen Haus gaben. Es ist damit auch die Geschichte vom unbeschreiblichen Schmerz des US-Präsidenten Abraham Lincoln, der seinen Sohn in der Familiengruft am Oak Hill Cemetary in Washington beisetzen ließ und den Leichnam in den Tagen nach der Trauerfeier mehrere Male besuchte, ihn aus dem Sarg nahm, um ihn verzweifelt in den Armen zu halten, wiederholt Abschied nahm und seinen Verlust beklagte. Der Junge wird als körperloses Geistwesen Zeuge dieser Besuche, er kann es nicht fassen, dass sich der Altvordere an ein lebloses Wurmwesen klammert und ihn selbst nicht wahrnimmt, das verstorbene Kind befindet sich in einem Vakuum-artigen Transit-Zustand zwischen dem Tod in der materiellen Welt und einem Weiterleben des Geistes in einer höheren Existenzform im Jenseits, in einem Übergangs-Stadium, dass in der Tradition des tibetanischen Buddhismus als „Bardo“ bezeichnet wird. Der Begriff kommt im Übrigen nur einmal im Buchtitel vor, eine explizite Auseinandersetzung mit der buddhistischen Lehre ist nicht Thema des Romans.

Wir waren geliebt worden, sage ich, und wenn die Menschen an uns dachten, lächelten sie, auch viele Jahre später noch, kurz beglückt von der Erinnerung.
(reverend everly thomas)

Und doch.
(roger bevins iii)

Und doch war noch nie jemand hergekommen, um uns so zu halten und so zärtlich zu uns zu sprechen.
(hans vollman)

Noch nie.
(roger bevins iii)

„Lincoln im Bardo“ ist trotz der zu Herzen gehenden, bewegenden Thematik ein völlig Kitsch-freies Werk, dabei auch in nicht wenigen Passagen zuvorderst humorig und grotesk, Autor Saunders gelingt dieser Spagat mithilfe seines entwaffnend einfachen, gleichsam experimentell gewagten wie genialen stilistischen Ansatzes, in dem er den Roman nicht von einem zentralen Erzähler in konventioneller Diktion vortragen lässt oder in klassischer Dialogform konzipiert.
Die knapp 450 Seiten der Prosadichtung sind ein Mosaik aus einzelnen, kurzen Textpassagen, die sich wunderbar zu einem großen Gesamtbild fügen, „Lincoln im  Bardo“ ist ein vielschichtiger, vielstimmiger Choral von Verstorbenen, die durch die Zwischenwelt geistern, sie mitunter in zahlreichen erzählten Nebensträngen in ein Tollhaus verwandeln und dort ihr Unwesen treiben. Die Ränke, der Tumult, das Beziehungsgeflecht und die Feindseligkeiten der Toten stehen denen der Lebenden in nichts nach. Die autobiografisch vorgetragenen Schlaglichter, distanzierten Kommentare zum Geschehen, Statements und Dialoge der handelnden Figuren sind mit oft nur wenigen, kurzen Sätzen denkbar knapp gehalten, selten erklingt eine einzelne Stimme über mehr als eine Seite, oft wesentlich kürzer, prägnanter, auf den Punkt gebracht. Abraham Lincoln kommt als Romanfigur einleitend selbst zu Beginn des Buches zu Wort, sein verstorbener Sohn Willie wiederholte Male verwirrt in der Reflexion und Auseinandersetzung mit seiner neuen, noch ungewohnten Daseinsform, daneben ragen vor allem drei immer wiederkehrende Stimmen als begleitende Erzähler und Kommentatoren der Ereignisse in der Gruft aus der Kakophonie der verstorbenen Mörder, Vergewaltiger, Soldaten, Fabrikanten, Sklaven, Huren und vieler anderer aus dem Panoptikum der Geister des Amerika der 1860er Jahre: Hans Vollman, über den im Roman kaum Biografisches zu erfahren ist, der homosexuelle Selbstmörder Roger Bevins III und der ehemalige Reverend Everly Thomas, der bereits den Blick in das finale Nirvana wagte, um dann die Flucht zurück in den Schwebezustand anzutreten.
Die im Bardo wandelnden Verstorbenen können die Gedanken der Lebenden hören, sich mit ihnen verschmelzen und ihr Denken beeinflussen, sie setzten sich in ihrer Totenwelt mit den Nöten und Problemen der Hinterbliebenen auseinander oder reflektieren selbst Erduldetes und Widerfahrenes von der Sklaven-Frage über Traumata aus dem Sezessionskrieg bis hin grundlegenden Überlegungen zu Religion, Sexualität, Moral und Gewalt. Viele der Toten spuken seit Jahrzehnten in der Zwischenwelt, können sich von den irdischen Dingen und den Zurückgebliebenen nicht völlig loslösen, und verweilen so in einem letztendlich unbefriedigenden und unfertigen Zustand. Sie verachten diejenigen, die den letzten Schritt ins Jenseits nicht wagen und bleiben doch selbst, getrieben von fadenscheinigen Ausflüchten und sich selbst belügend, weiter in der Transit-Sphäre verhaftet. Letztendlich treibt sie die Angst davor um, was den Sündern aufgrund ihrer begangenen Missetaten im Leben vor dem Jüngsten Gericht widerfährt. Die individuelle Seele behält bei Saunders ihren eigenen Willen auch nach dem Ableben, und verharrt so in der „Krankenkiste“, den der verstorbene Geist nicht als Sarg erkennen mag. Erst wenn die letzten Verbindungen zum Diesseits gekappt sind und die Hoffnung auf eine Wiederkehr als vergebliche erkannt wird, findet sich das Wesen in der Zwischenwelt bereit für die finale „Materienlichtblüte“.
Dem Autor ist eine profunde Auseinandersetzung mit den letzten Dinge gelungen, der Roman lässt sich als Schauder-Roman genauso lesen wie als philosophische Reflexion zum Thema Tod, Motive wie Wiedergeburt, Verdammnis, Fegefeuer und alttestamentarische Auge-um-Auge-Gerechtigkeit finden sich wie das erwähnte buddhistischen Bardo, die Vorstellung über das Prozedere beim Gang in die ewigen Jagdgründe ist bei George Saunders eine komplexe, hochspannende, mitunter verstörende. Und doch zelebriert der Roman trotz seiner umfänglichen morbiden Thematik ausgerechnet im Totenreich das Leben in seiner ganzen Komplexität von wunderschöner Pracht bis hin zu den niederträchtigsten Verwerfungen.

Wir wünschten, der Knabe würde gehen und sich so retten. Sein Vater wünschte, er wäre „an einem hellen Ort, frei von allem Leid, in einer neuen Daseinsform erstrahlend“. Ein glückliches Zusammentreffen von Wünschen.
(hans vollman)

Den historischen Kontext zur Lincoln-Ära liefern kurze Einschübe aus Zitaten von Zeitzeugen, aus US-amerikanischen Geschichtsdokumentation des 19. Jahrhunderts, aus Zeitungsmeldungen, Briefwechseln, Biografien und persönlichen Erinnerungen: Statements und Kritik zur Regentschaft und zum politischen Talent des Präsidenten Lincoln, Berichte über die Beisetzung des jungen Willie, Schilderungen zu den Gräueln des Bürgerkriegs aus Augenzeugen-, Opfer- und Täter-Sicht, Klatsch und Tratsch aus Werken wie „Hinter den Kulissen oder Dreißig Jahre als Sklavin und vier Jahre im Weißen Haus“ – ob diese tatsächlich alle in historischen Publikationen und Quellen zu finden sind oder vom Autor in seiner künstlerischen Freiheit hinzugedichtet wurden, ist für die Leserschaft schwer nachzuprüfen, letztendlich aber für die Dramatik der Erzählung und den Flow der Handlung völlig unerheblich.

George Saunders hat mit „Lincoln im Bardo“ eine faszinierende Geschichte erzählt und vor allem hinsichtlich stilistischer Umsetzung viel Mut bewiesen, er hat sich was getraut und mit diesem Ansatz viel gewonnen, das Experiment ist geglückt. Der Roman gilt seit Erscheinen als literarische Sensation, als großer Wurf und Erneuerung des Genres, die literaturwissenschaftlich gebildeten Experten in den Feuilletons überschlugen sich mit lobenden Worten. Bei Jubel-Arien seitens der Kritiker aus der Mainstream-Journaille ist mitunter Vorsicht geboten, zuviel an Durchschnittsware und Belanglosem ist da in der Vergangenheit schon hochgehypt worden als lesenswerter Stoff, der bereits nach wenigen Seiten den verdammenden Wurf in die Ecke verdiente, im Fall des Saunders-Romans mag man hingegen gerne einstimmen in den Chor der Lobpreisungen. Die letzte Seite erreicht, wüsste man für den Moment nichts Erbaulicheres als von neuem mit dem Lesen zu beginnen, zum einen wegen der fabulierten Geschichte, weit mehr noch wegen der stilistischen Brillanz dieses Romans und seines mitreißenden Erzähl-Flusses, der in der Tat auf einem Level mit der instrumentalen Wucht herausragender Postrock-Werke steht.

Das Buch eignet sich aufgrund seiner knapp gehaltenen, Tempo-reichen Stakkato-Dialoge und kurzen, Schlaglicht-haften historischen Zitate ohne Abstriche ausnehmend gut als Skript für eine Hörspiel-Fassung, bei entsprechender Umsetzung mit dazu befähigten RezitatorInnen und Auswahl der wichtigsten Kapitel ist ein Meilenstein in der Qualität der Qualtinger-Lesungen aus „Die letzten Tage der Menschheit“ vorstellbar – auch hier im Kraus-Werk große Literatur im historischen Kontext – oder ein mehrstimmiger Experimental-Kanon wie in der exzellenten 1969er BR/WDR-Co-Produktion „Unter dem Milchwald“ nach dem Spiel für Stimmen von Dylan Thomas unter der Regie von Raoul Wolfgang Schnell. Die musikalische Untermalung wäre bereits verfügbar durch die schwergewichtigen Instrumental-Passagen aus dem jüngsten, eingangs erwähnten Wrekmeister-Harmonies-Album. J. R. Robinson und Esther Shaw haben sich als Inspirations-Quelle für ihre aktuellen, dunkel-experimentellen Postrock-Tondichtungen beileibe nicht die schlechtesten literarischen Arbeiten gewählt, „Lincoln im Bardo“ unterstreicht das einmal mehr.

George Saunders wurde 1958 in Amarillo/Texas geboren. Er studierte Ingenieurwesen an der Colorado School Of Mines und graduierte 1981 mit einem Bachelor of Science in Geophysik. Seit 1997 lehrt Saunders kreatives Schreiben an der Syracuse University. In den vergangenen 20 Jahren hat er mehrere Werke mit Kurzgeschichten, einen Essayband sowie ein Kinderbuch veröffentlicht. „Lincoln im Bardo“ ist sein erster Roman, das Werk wurde 2017 mit dem Booker Prize ausgezeichnet, wie auch zahlreiche seiner weiteren Arbeiten mit renommierten Literaturpreisen geehrt wurden.

Reingelesen (71): Colum McCann – Die große Welt

I bought Philippe Petit a round
And asked what his high wire was for
He said „I put one foot out on the wire,
One foot straight into heaven“
As the prophets entered boldly into the bar
On the Boeing 737, Lord, on the Boeing 737
(The Low Anthem, Boeing 737)

Colum McCann – Die große Welt (2009, Rowohlt)

Am Morgen des 7. August 1974 landete der französische Hochseil-Artist Philippe Petit in New York „le coup“, wie er seine Aktion selbst bezeichnete, 400 Meter über dem Grund wanderte, sprang und tanzte er mit einer 8 Meter langen Balancierstange ausgestattet eine dreiviertel Stunde lang auf einem von ihm gespannten Drahtseil zwischen den Zwillings-Türmen des World Trade Center und hielt damit die Passanten, Anwohner und Sicherheitskräfte in Downtown Manhattan in Atem.

„Er war in seinem Körper und zugleich außerhalb von ihm und genoss, was es hieß, der Luft zugehörig zu sein: ohne Zukunft, ohne Vergangenheit, und das verlieh seinem Gang diese schlendernde Lässigkeit. Er trug sein Leben von einer Seite zur anderen. Auf der Suche nach dem Moment, in dem er sich nicht einmal mehr seines Atems bewusst war.“
(Colum McCann, Die große Welt, Lasst die große Welt sich drehen)

In seinem als Allegorie auf die 9/11-Ereignisse gedeuteten Roman nimmt der irisch-stämmige Autor Colum McCann die spektakuläre Aktion Petits als Aufhänger und buchstäblich über allem schwebende thematische Klammer für zwölf ineinander verwobene Geschichten einzelner Protagonisten, deren Schicksale an diesem speziellen Tag durch richtungsweisende, einschneidende Ereignisse geprägt werden.

Nicht für alle im Roman auftretenden Figuren laufen die Geschicke in diesen Sommertagen im Big Apple aufsehenerregend, geplant und mit glücklichem Ausgang wie für den Seiltänzer, alle porträtierten Figuren nehmen die artistische Sensation auf die ein oder andere Weise wahr, manche am Rande aus den Radio-Nachrichten ohne weitere Bedeutung für die eigene Existenz, andere werden im Nachgang Teil der spektakulären Geschichte, für manche endet der Tag in einer persönlichen Katastrophe oder – bedingt durch den „Simple Twist Of Fate“ – in einer neuen Ausrichtung des Lebens.
Der Roman versucht darüber hinaus auf einer eigenen Ebene die großen Themen der US-amerikanischen Geschichte jener Zeit zu umreißen, Vietnam, Rassismus, die ersten Zuckungen des Computer-Zeitalters, hinsichtlich politischer Weltbühne bleibt aus dieser Zeit im Sommer des Jahres 1974 vor allem ein Ereignis im kollektiven Gedächtnis präsent: Zwei Tage nach der Aktion von Petit trat Richard Nixon im Zuge der Watergate-Affäre als US-Präsident zurück und kam so dem drohenden Amtsenthebungsverfahren zuvor, der Roman streift auch dieses einschneidende Ereignis der jüngeren amerikanischen Geschichte und reflektiert die ablehnende Haltung und schwindende Unterstützung in der Bevölkerung für den republikanischen Amtsinhaber, zu viel Zweifelhaftes in Form von Abhörskandalen, eigenmächtig angeordneten Kambodscha-Bombardements während des Vietnam-Kriegs und Manipulationen im Vorfeld der Wahlkämpfe hat sich auf dem Negativ-Konto des umstrittenen Präsidenten gesammelt. Der tiefe Fall von „Tricky Dick“ fügt sich nahtlos in das komplexe Bild menschlicher Tragödien, in denen sich das Schicksal demokratisch nicht um Ober- oder Unterschicht-Zugehörigkeit schert und so in allen Teilen der Gesellschaft zuschlägt.
Im Zentrum der Romanhandlung steht eine Handvoll Menschen, die aufgrund ihrer Sozialisation und ihrer gesellschaftlichen Stellung im Sinne des klassischen Schichten-Musters wenige bis keine Berührungspunkte und gemeinsame Interessen haben, auf die ein oder andere Art kreuzen sich ihre Lebenswege jedoch und nehmen so Einfluss auf weitere Entwicklungen, im letzten Kapitel des Buches wird abschließend der sprichwörtliche Flügelschlag des Schmetterlings aus längst vergangenen Zeiten thematisiert, der exemplarisch den Weg einer jungen Frau aus der nächsten Generation der Roman-Protagonisten lenkt.
Eine der im Mittelpunkt stehenden Figuren ist der irisch-stämmige Priester Corrigan, der bereits in jungen Jahren auf der grünen Insel im alten Europa eine besondere Form des Altruismus entwickelt und sich einfühlend bis zur Selbstverleugnung um die Alkoholiker seines Heimatorts annimmt – ein Radikal-Christ im Geiste der von der katholischen Kirche wie von marxistischen Ideen geprägten Befreiungstheologen, der sich im New York der Siebziger in der Bronx wiederfindet und sich dort um die Untersten in der sozialen Hierarchie kümmert, Prostituierte, Zuhälter, Drogensüchtige, eine kurze, unkonventionelle und allen Geboten des Zölibats zuwiderlaufende Affäre des Geistlichen mit einer Krankenschwester aus Lateinamerika fügt sich dahingehend exemplarisch in die Thematik der ungewöhnlichen Beziehungen.
Dafür steht auch die Figur der gebildeten Afro-Amerikanerin Gloria aus der Nachbarschaft des Priesters, eine Nachfahrin von Südstaaten-Sklaven, die Opern liebt, sich im weitern Verlauf des Romans um die Kinder einer verunglückten Prostituierten annimmt und einer Selbsthilfe-Gruppe von Müttern angehört, die ihre Söhne im Vietnam-Krieg verloren haben. In dem Zusammenhang lernt sie die reiche Park-Avenue-Gattin eines jüdischen Richters näher kennen, eine weitere Hauptdarstellerin in diesem Panoptikum seelisch Verwundeter, auch das eine Konstellation, die hinsichtlich sozialer Konventionen fernab des Vietnam-Traumas in der Form kaum denkbar, hier aber mit ihren entsprechenden Komplikationen, Verwerfungen und konträren Lebenswelten thematisiert wird. Der erwähnte Richter wird im Übrigen im Laufe der Geschichte über das Strafmaß für den Seiltänzer Petit wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses und über die Strafanstalt-Einweisung einer der Prostituierten-Freundinnen des Priesters entscheiden, Querverbindungen im Roman auf allen Ebenen.

„Sie nimmt einen weiteren tiefen Zug und behält den Rauch lange in der Lunge – sie hat irgendwo gehört, dass Zigaretten gut sind, wenn man traurig ist. Ein tiefer Zug, und man vergisst zu weinen. Der Körper ist zu sehr mit dem Gift beschäftigt. Kein Wunder, dass die Soldaten sie umsonst bekommen haben. Lucky Strikes.“
(Colum McCann, Die große Welt, Miró, Miró an der Wand)

Ob der literarische Drahtseilakt McCanns im erzählenden Verweben divergierender Existenzen gelungen ist, mag nicht zuletzt von der emotionalen Kitsch-Toleranz der Leserschaft abhängen, obwohl im Wesentlichen eine gut geschriebene und flüssig zu lesende Geschichte – vor allem in den Dialogen – wird die Grenze zur sentimentalen Gefühlsduselei ab und an angetestet, wenn nicht sporadisch überschritten. Mindestens dezent in Zweifel darf auch gezogen werden, ob die bedeutungsschwangere Suche des Autors nach dem Sinn selbst in der größten Katastrophe stets zu befriedigenden und abschließenden Antworten führt, der Romancier zieht sich im Nachwort zum Buch dabei elegant aus der Affäre: „Die Literatur erinnert uns daran, dass nicht alles im Leben bereits aufgeschrieben ist: Es gibt noch viele Geschichten, die erzählt werden müssen.“ 
McCann darf aber attestiert werden, dass er seine Figuren zwar nicht gänzlich Klischee-befreit, so doch einfühlsam, unvoreingenommen und ohne formelhafte Vorurteile konzipiert und so einen individuell geprägten Blickwinkel der einzelnen Akteure nachzeichnet.
Für New-York-Besucher ist es in jedem Fall eine lohnende Lektüre, zeigt der Roman doch eine Welthauptstadt, wie sie heute, bedingt durch voranschreitende Gentrifizierung und die nachwirkende Zero-Tolerance-Politik der Giuliani-Ära in der Kriminalitäts-Bekämpfung, längst nicht mehr existiert.

„Sie fand schon immer, dass das eins von den Dingen ist, die New Yorks Schönheit ausmachen: Man kann von irgendwoher in die Stadt kommen und im Nu ein Gefühl von Vertrautheit haben.“
(Colum McCann, Die große Welt, Seewärts brüllend, und ich geh‘)

Colum McCann wurde 1965 in Dublin geboren. Seit Mitte der Neunziger lebt er mit seiner Frau und drei Kindern in New York. Ab 1994 veröffentlichte er Erzählungen und Romane, zuvor war er als Journalist tätig. Seine Prosa wurde in 35 Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen prämiert. Für „Let The Great World Spin“ („Die große Welt“) erhielt er 2009 den National Book Award.
Der Roman wurde im selben Jahr vom New Yorker Songwriter Joe Hurley in Zusammenarbeit mit dem Autor für das Album The House the Horse Built (Let The Great World Spin)“ vertont. An den Aufnahmen waren bekannte Musiker wie Tony Shanahan von der Patti Smith Band, Chieftains-Chef Paddy Moloney, Indie-Größe Don Fleming und der ehemalige Mink-DeVille-Keyboarder Kenny Margolis beteiligt.

Reingelesen (62): Marlon James – Eine kurze Geschichte von sieben Morden

„Einige Tage später kommt der Knalleffekt: Die Regierung kündigt für den 20. Dezember Wahlen an, also nur zwei Wochen nach dem Konzert. Für Manley ist das ein gelungener Coup – für Bob ist es ein Desaster. Gerade er, der sich über die Cliquen stellen wollte, findet sich auf einmal im Morast des Wahlkampfs wieder, wobei der Eindruck entsteht, er würde sich von der PNP vereinnahmen lassen. Er denkt kurz daran, alles abzusagen, aber wie soll man die Lage den Gettos erklären, ohne neuen Aufruhr auszulösen? Dabei raten ihm alle, von dem Projekt abzulassen: anonyme Anrufer, der gehetzte Emissär der amerikanischen Botschaft, die JLP-Freunde wie Tommy Cowan. Claudie Massop, der junge Chef der Tivoli-Gangs, hat ihm sogar aus dem Gefängnis geschrieben, um ihn zur Absage des Konzerts zu bringen.“
(Hélène Lee, Trench Town sehen und sterben, Smile Jamaica)

Marlon James – Eine kurze Geschichte von sieben Morden (2017, Heyne Hardcore)

Kingston, Jamaika, im Dezember 1976: Das Land ist seit Sommer am Rande des Bürgerkriegs und im Ausnahmezustand, die verfeindeten Parteien, die zu der Zeit oppositionelle, konservative Jamaican Labour Party (JLP) und die regierende, sozialistische People’s National Party (PNP) unterhalten beste Beziehungen zu den sogenannten Rudie-Gangs der Stadt, die Dons und Gunmen dieser rivalisierenden Getto-Organisationen kontrollieren die Armenviertel Kingstons und terrorisieren die politischen Gegner. PNP-Premier Michael Manley selbst hat nach der gewonnenen Wahl 1972 die Situation entgegen seiner Wahlversprechen verschlimmert, indem er eigene Parteigänger mit Waffen versorgte, zudem spaltet er die Bevölkerung durch seine sozialistische, von der Politik Fidel Castros beeinflusste Rhetorik. Die Gang-Kriminellen der PNP stilisieren sich als Freiheitskämpfer, während sich die Reihen der JLP als heroische Kämpfer und Bollwerk gegen die kommunistische Flut auf der karibischen Insel sehen. In den dicht bevölkerten Gettos Jamaikas ist die organisierte politische Gewalt als Existenzgrundlage der Gangs an der Tagesordnung. Für den 5. Dezember 1976 ist das „Smile Jamaica“-Konzert der PNP geplant, ein Versuch, die politischen Spannungen in der Bevölkerung abzubauen, im National Heroes Park in Kingston soll als Headliner der Reggae-Star Bob Marley und seine Wailers auftreten.

„Reggae, sanft und sexy, aber auch brutal und einfach wie ärmster und reinster Delta-Blues. Aus diesem Gemisch von Piment, Schusswunden-Blut, sickerndem Wasser und süßen Rhythmen kommt der Sänger, ein Sound, der in der Luft liegt, aber auch ein lebender, atmender Sufferah, der nie vergisst, wo er herkommt, ganz egal, wo er sich gerade aufhält.“
(Marlon James, Eine kurze Geschichte von sieben Morden, Original Rockers)

Das ist die Ausgangslage für „A Brief History of Seven Killings“, dem monumentalen Roman von Marlon James, in dem der jamaikanische Autor ein sagenhaft komplexes Panoptikum an Charakteren, Gegebenheiten und Stimmungsbildern im Kontext von politischen Intrigen, Gewaltexzessen, Drogenhandel und menschlichen Abgründen wie Verrat, Willkür und der Suche nach der eigenen Identität im Jamaika der siebziger und achtziger Jahre entwirft – kreisend um das Attentat vom 3. Dezember 1976, zwei Tage vor dem geplanten Konzert, auf den Sänger, wie Bob Marley in dem Roman genannt wird, seine Frau Rita und den Wailers-Manager Don Taylor, einem offenkundigen PNP-Sympathisanten. Wie durch ein Wunder überleben alle drei Opfer den Anschlag der Getto-Gunmen, der bis heute hinsichtlich Auftraggeber und Motivation nicht restlos aufgeklärt ist und damit ein weites Feld für den Autor des Romans bietet, der in seiner künstlerischen Freiheit fiktive Figuren und Hintermänner der Attacke auf den Reggae-Superstar entwirft wie die Getto-Dons Papa-Lo und den psychopathischen Josey Wales, den Drogen-Gangster Weeper, den Auftragskiller Tony Pavarotti und den kubanischen CIA-Berater Doctor Love, der in einem persönlichen antikommunistischen Kleinkrieg die Scharte seiner Beteiligung an der gescheiterten Schweinebucht-Invasion auswetzen will.
Viele der im Roman gezeichneten, maßgeblichen Charaktere referenzieren auf die kriminellen Protagonisten Kingstons in jenen Jahren wie den Concrete-Jungle-Don Red Tony Welsh, den 2001 in Jamaika ermordeten Drogenhändler Willie Haggart, den PNP-Gangleader Bucky Marshall oder den mit Bob Marley befreundeten Claudie Massop, einem JLP-Gangster und Chef der Tivoli Garden Gang, der 1979 in einem Akt von Polizei-Willkür auf offener Straße hingerichtet wurde. Tatsächliche Ereignisse wie das unter dem Namen „Green Bay Killings“ in die jamaikanische Geschichte eingegangene Armee-Massaker an Mitgliedern der Streetgang „Skull“ oder Marleys „One Love“-Konzert im Jahr 1978 finden Würdigung in diesem vielschichtigen Werk.

„Hast du mitbekommen, was Eric Clapton vor ein paar Monaten über dich gesagt hat? Der ist echt ein Arschloch, der Typ, also, er geht auf die Bühne und sagt, England muss weiß bleiben, jagt die Kanaken und die ganzen Araber und die ganzen Scheiß-Jamaikaner zum Teufel. Ist das zu glauben? Die ganzen Scheiß-Jamaikaner, hat er gesagt, kein Witz. Wow. Hat der nicht mal einen Song von dir gecovert?“
(Marlon James, Eine kurze Geschichte von sieben Morden, Original Rockers)

Der Haupt-Erzählstrang schildert aus unterschiedlichsten Perspektiven die Schicksale der am Marley-Anschlag beteiligten Gunmen und Gang-Mitglieder, in Nebenpfaden und den mit dem Kern der Geschichte verwobenen Ereignissen und Figuren fächert Marlon James einen grell-bunten Strauß auf an kaltblütigen Morden, Waffengeschäften, Prostitution, Verwicklungen der CIA und anderer Dienste in die politischen Geschicke Jamaikas, ausgeprägter Kalter-Krieg-Paranoia, Kommentaren aus dem Jenseits von Seiten eines ermordeten Politikers, Episoden über schiefgelaufene Drogen-Geschäfte der jamaikanischen US-Gang-Community mit dem kolumbianischen Medellín-Kartell, in alle Richtungen funktionierendem Rassismus, die Liebe der Musik-interessierten Jamaikaner zum Hoch-auf-dem-gelben-Wagen-Country eines Marty Robbins, der Odyssee einer in New York gestrandeten Krankenschwester, die unter anderem Namen in einem früheren Leben Zeugin des Attentats auf den Reggae-Musiker im Wailers-Studio in der Hope Road 56 wurde, den Erkenntnissen eines weißen Rolling-Stone-Reporters und Jamaika-Experten, der über seine Erfahrungen auf der Karibikinsel ein Buch schreibt mit dem Titel „Eine kurze Geschichte von sieben Morden“, und der obskuren Nummer eines Pferderennen-Wettbetrugs, von dem bis heute – völlig unbewiesen – gemunkelt wird, dass hier auch der Sänger und der Wailers-Manager die Finger im Spiel hatten und bei einer Exekution verfeindeter Handlanger zugegen waren. Hierzulande sagt man lapidar, nichts genaues weiß man nicht, das eingangs im Buch zitierte jamaikanische Sprichwort bringt es schön auf den Punkt: „Wenn’s nicht so war, dann war’s so ähnlich“. Wem dieses sich bewusst Im-Vagen-Bewegen zur Thematik in diesem Orkan von einem Roman nicht genügt, dem sei zur vertiefenden Lektüre die ebenso äußerst lesenswerte Dokumentation „Trench Town sehen und sterben. Die Bob-Marley-Jahre“ (2005, Hannibal Verlag) der französischen Journalistin und Jamaika-Expertin Hélène Lee ans Herz gelegt.

„In dem Wagen, der mich ins Gefängnis bringt, spuckt mir ein Polizist ins Gesicht (er ist neu), und als ich zu ihm sage, Pussyhole, deine Spucke riecht nach Kaugummi, stößt mir ein anderer seinen Gewehrschaft so fest gegen den Kopf, dass ich erst aufwache, als sie mir im Gefängnis Wasser ins Gesicht schütten. Beide Polizisten sind noch vor 1978 tot, dank dem Mann neben mir, der sie mir ausliefert, sobald ich aus dem Knast raus bin.“
(Marlon James, Eine kurze Geschichte von sieben Morden, Shadow Dancin‘)

Der Erzähl-Stil dieses Ausnahme-Romans ist rasant und radikal, deutet oft nur an und erklärt nicht bis in das letzte Detail, die Phantasie, Kombinationsgabe und Interpretationsfähigkeit der Leserschaft ist gefragt, das Werk ist vom Ansatz dem jeweils individuellen Stakkato-Stil von Kriminalliteratur-Exzellenzen wie dem britischen „Red Riding Quartett“-Autor David Peace und dem amerikanischen Hardboiled-Meister James Ellroy in seinen aktuelleren Werken nicht unähnlich, hinsichtlich schnellem Lesetempo weit mehr dem flotten Ska und Rocksteady der sechziger Jahre vergleichbar als dem rhythmisch gemächlicheren Roots-Reggae der späteren Dekaden. In einem unglaublich wuchtigen Vortrag entwickelt der Autor in stringent erzählten Kapiteln, mitunter Joyce-artigen Streams of consciousness und rasanten, oft auch extrem witzigen Dialogen einen rauschhaften Sog, dem sich der lesende Mensch nur schwer entziehen kann, ausgeprägte Page-Turner-Qualitäten eben, trotz anspruchsvoller stilistischer Finessen und einem hochkomplexen Gesamtbild.
Mit den exzessiv geschilderten, Schwulen-Porno-artigen Sex-Praktiken einiger Gunmen, die nicht nur harte Jungs, sondern – im Jamaika-Jargon gesprochen – eben auch „Battyboys“ sind, hätte ein Jean Genet gewiss seine helle Freude gehabt, der Autor selbst indes warnt – verständlicherweise – in den Danksagungen die eigene Mutter dahingehend ausdrücklich vor Kapitel Vier und bittet sie um Verzicht des Lesens dieses Abschnitts. James selbst bekennt sich offen zu seiner Homosexualität und wehrt sich in diesen Passagen offensichtlich gegen die homophobe Grundstimmung und Gewalt gegen Schwule im Jamaika dieser Tage.
Das schonungslos in den Themen Exzessive Gewalt, permanenter Wandel hin zum Schlechten und sexuelle Freizügigkeit vorgetragene 860-Seiten-Großwerk ist hinsichtlich Sujet schwer greifbar wie die darin zahlreich enthaltenen, ausufernden Erzählstränge, die Kritik brachte bereits Schlagworte wie Geschichtsbuch, Doku-Fiktion, Polit-Thriller und Sittengemälde ins Spiel, das kommt alles hin, nicht zuletzt ist „Eine kurze Geschichte von sieben Morden“ ein großartiger, mit Herzblut geschriebener, hochspannender Kriminal-Roman, eine einzigartige Frischzellen-Kur für das in letzter Zeit arg im Mittelmaß dümpelnde Genre, getragen von einer Thematik, die im Bezug auf potentiellen Leserkreis weit über die am Reggae interessierten Musikhörer und Literaturfreunde hinausreichen sollte.
Extrem dicker Daumen nach oben hinsichtlich Buchempfehlung, Brethren and Sistren

Marlon James wurde 1970 in Kingston, Jamaika, geboren. Seine Eltern arbeiteten als Polizeibeamte und Richter. Bereits in der Jugend beschäftigte er sich mit der Literatur von Dickens und Shakespeare. „A Brief History Of Seven Killings“ ist sein dritter Roman, für dieses exzellente Jamaika-Epos hat er völlig zurecht zahlreiche Auszeichnungen erhalten, unter anderem als erster Jamaikaner den renommierten britischen Booker Prize der Londoner Investment-Firma Man Group.
Marlon James hat vor einigen Jahren seine Heimat wegen der Ressentiments und gewaltsamen Übergriffe gegen Homosexuelle verlassen und lebt heute in Minneapolis/Minnesota, wo er Literatur am Macalester College in St. Paul unterrichtet.

Herzlichen Dank an Gabi Beusker / Presseabteilung Heyne Verlag für das Rezensionsexemplar.

„Political violence fill ya city, ye-ah!
Don’t involve Rasta in your say say
Rasta don’t work for no CIA“
(Rita Marley, Rat Race)

Reingelesen (60): James Frey – Strahlend schöner Morgen

Old woman walking with a sack on her back
Picking up the garbage people put out back
Men down there trying to walk the line
Trading their soul for a bottle of wine
(J. J. Cale, Downtown L.A.)

James Frey – Strahlend schöner Morgen (2010, List)

Stadtroman, „Short Cuts“ in Literatur gegossen, der Abgesang auf den amerikanischen Traum, in 590 pralle Seiten gepackt. James Frey hat 2008 in seinem Roman „Bright Shiny Morning“ kein Blatt vor den Mund genommen und in seinem Portrait über den kalifornischen Großstadt-Moloch Los Angeles mehr als nur einen Blick gewagt in die menschlichen Abgründe. Er erzählt unzählige Geschichten über die in der Stadt Gestrandeten, oft findet das skizzierte Leben der Protagonisten in einer kurzen Passage nur einmal Erwähnung, dann ist ihr Bezug zur Stadt der Engel in knappen Sätzen bereits umrissen, einigen widmet er in seinem mehrschichtigen, auf vielen Ebenen vorgetragenen Roman längere Erzählstränge über die volle Roman-Distanz, vier insgesamt, in sich ablösenden Episoden erzählt er die Geschichten von Old Man Joe, einem aufrechten Obdachlosen aus Venice, der eine junge Drogensüchtige retten will, die Kapriolen des Schauspieler-Ehepaars Amberton und Casey, das sich hinter der Fassade des glücklichen Hollywood-Traumpaars den jeweiligen homosexuellen Eskapaden hingibt, der Leser begleitet die mexikanische Einwanderer-Tochter Esperanza in ihrem Kampf mit dem eigenen Körper und in den Auseinandersetzungen mit einer sadistischen, schwerreichen Arbeitgeberin, besonders anrührend ist die Geschichte von Maddie und Dylan, zwei 19-jährigen, die ihren prügelnden Eltern, dem Alkohol, dem Missbrauch, dem religiösen Wahn und der Tristesse eines Kaffs in Ohio entfliehen, alle suchen das Glück und ein besseres Leben im Haifischbecken L.A., die Wenigsten werden es finden, einige müssen bittere Lektionen lernen und vor allem für alles bezahlen, was sie sich an Verfehlungen im Streben nach einer besseren, erfüllten Zukunft leisten. Nobody rides for free, bei einigen haben die Fehltritte und die schwachen Momente tödliche Folgen, bei anderen regelt das Scheckbuch und der Anwalt die Klärung der Probleme.

Sie bekamen noch zwei Kinder, einen Jungen namens Wayne und ein Mädchen namens Dawn, und die ganze Familie wohnte im Trailer. Er war überfüllt, doch die Enge brachte sie einander näher, zwang sie, Frieden zu halten, die guten Zeiten zu strecken und die schlechten Zeiten zu verkürzen.
(James Frey, Strahlend schöner Morgen)

Der Traum vom Glück und vom Erfolg, der große amerikanische Traum, dem in L. A. viele nachhängen, dessen Erfüllung viele suchen, er erweist sich allzu oft als Trugbild, unerreichbar, im schlimmsten Fall in einen Albtraum gekehrt, trotzdem folgen jährlich Abertausende der Verlockung und pilgern nach Westen, der Sonne Kaliforniens entgegen, und hoffen auf eine Karriere als Musiker, Schauspieler, Künstler, Pornostar, die oft in der Gosse, im Armenviertel in einer heruntergekommenen Wohnung und im lausig bezahlten Kellner-Job zum Stillstand kommt. Nur die Surfer an den Stränden des Pazifik erhoffen außer der Sonne und den Wellen nichts und bekommen, was sie erwarten, alle anderen müssen sich über kurz oder lang der harten Realität stellen und ihre Träume begraben oder stoisch weiterverfolgen, wider besseren Wissens und gegen alle Erfahrungen.

Nicht alle Tatsachen sind lustig. Manche schon, manche sind superlustig, aber nicht alle. Hier ein paar weniger lustige Tatsachen über Los Angeles. Über 60 000 Menschen arbeiten in der Pornobranche. Über 1,6 Millionen Menschen leben unterhalb der Armutsgrenze. Jährlich werden circa 150 000 Schwerverbrecher verhaftet. Fünfzig bis sechzig Proznet aller im Los Angeles County begangenen Morde finden im Gangmilieu statt, ungefähr siebenhundert pro Jahr.
(James Frey, Strahlend schöner Morgen)

Dabei stellt sich der Leser bei Lektüre dieses rasant geschriebenen, lakonisch erzählten Romans permanent die Frage: Wer mag sich freiwillig an einem solchen Ort niederlassen? Von den einzelnen Erzählsträngen losgelöste Kapitel dokumentieren die Geschichte der Stadt und seiner Bewohner, die sich ihre Viertel aus einer Zwangslage heraus als Heimat nicht aussuchen können, Viertel und Straßenzüge, in denen der Alltag von Banden-Kriegen und Drogen-Kriminalität bestimmt wird, täglich Tote, täglich ein neues Schlachtfeld, mit zahlreichen Kollateralschäden unter den unbeteiligten Anwohnern. Selbst die Reichenviertel wie Beverly Hills erweisen sich mit ihren auflauernden Paparazzi und einer abgeschotteten Nachbarschaft als beklemmende Lebensräume. Zum humanen Chaos gestellt sich das ökologische: die Heimstatt der gefallenen Engel ist umgeben von endlosen Meilen der City-Autobahnen des L. A. County, die zum stundenlangen Verweilen im Stau zwingen und die durch unfassbare Luftverschmutzung mittels Autoabgasen der Stadt buchstäblich den Atem abschnüren.

Geschichten vom schwarzen Minigolf-Platz-Betreiber, dessen Unternehmen den Bach runtergeht, vom weißen Waffenhändler, dessen Geschäft vor allem durch seinen Hass auf alles und jeden getrieben wird, dabei funktioniert der Raubtier-Kapitalismus nach dem uramerikanischen Muster rein nach Zahlen bemessen prächtig, wäre die Stadt Los Angeles ein unabhängiges Land, ihre Wirtschaftskraft würde an fünfzehnter Stelle weltweit stehen.
In kurzen eingeschobenen Passagen erzählt Frey die Geschichte der Stadt, beginnend mit der ersten Erwähnung der Siedlung im Jahr 1781, es ist eine Geschichte von verfehlter Stadtplanung, Rassen-Trennung und Rassen-Unruhen, Ghettoisierung, die Geschichte einer unfassbaren, permanenten Umweltverschmutzung, eine Dokumentation unzähliger schlecht bezahlter Jobs und schlechter Ernährung, von Alkoholismus, von Korruption, organisierter Kriminalität, die Geschichte der scheinbaren Traumfabrik Hollywood und von 333 kalifornischen Sonnentagen im Jahr.

Von jedem Dollar an Steuereinnahmen werden 29 Cent für Verbrechensbekämpfung ausgegeben, 15 Cent für Abwässer und Kläranlagen, 8 Cent für Straßenerneuerung, 1.5 Cent für Bildung.
(James Frey, Strahlend schöner Morgen)

Der Moral-freie Sozialrealismus von James Frey erlaubt sich nur seltene, kurze emotionale Ausbrüche, in jeweils dreifachen Wiederholungen als Stil-Mittel, Song-Refrains gleich, hebt der Autor die besonders erwähnenswerten Fakten oder Ereignisse und Gemütswallungen seiner Protagonisten kurz hervor, die nüchtern-lässige Erzählweise und die geschilderten Eindrücke sind nicht allerorts auf Gegenliebe gestoßen, man warf dem Autor vor, Fakten und Fiktion zu vermischen, dabei macht gerade diese Mixtur aus harten Tatsachen und die darin eingebetteten, von den Unbilden des Lebens zeugenden humanen Tragödien die Würze dieses rasant zu lesenden Romans aus.

James Frey wurde 1969 in Cleveland/Ohio geboren. 1993 bekämpfte er erfolgreich seine Drogen- und Alkoholsucht. Mitte der Neunziger zog er nach Los Angeles, wo er als Drehbuchautor tätig war.
Seine als Autobiografien konzipierten Romane „A Million Little Pieces“ und „My Friend Leonard“ waren kommerziell sehr erfolgreich, wurden aber von Kritikern im Nachgang heftig verrissen, als bekannt wurde, dass Frey viele in den Romanen geschilderte Episoden nicht selbst erlebt hatte.
Mit „Strahlend schöner Morgen“ gelang Frey 2008 die Wiederauferstehung am Buchmarkt, der britische Schriftsteller Irvine Welsh bezeichnete den Roman als literarisches Comeback des Jahrzehnts. Die Los Angeles Times sah in dem Machwerk hingegen einen abscheulichen Roman und ein literarisches Wrack, da fühlte sich wohl wer in seinem Lokalpatriotismus schwer angekratzt.