Seattle

Reingehört (538): Lonesome Shack

„…The Desert Is The Loneliest Land That Ever Comes From God’s Hand.“

Lonesome Shack – Desert Dreams (2019, Alive Naturalsound Records)

Ein Song-Titel der legendären Country-Blueserin Memphis Minnie lieferte den Namen der Combo, der famose One-Man-Band-Nordländer Bror Gunnar Jansson hat sich mit einer gleichnamigen Nummer respektvoll und stilsicher vor den drei Deep-Blues-Amerikanern verneigt, selber haben die Musiker in der Vergangenheit mit exzellenten Tonträgern wie „The Switcher“, „More Primitive“ oder dem roh und unverfälscht belassenen, höchst schmissigen Live-Mitschnitt „City Man“ wie mit nicht weniger grandiosen KonzertAuftritten beeindruckt und damit ihre Spielart des Delta-Blues zum hypnotischen Flow veredelt, mit dem vor einigen Monaten erschienenen aktuellen Album „Desert Dreams“ setzt das Trio Lonesome Shack einen weiteren Meilenstein in der Band-Historie und nimmt damit die Hörerschaft mit auf ihre musikalischen Trips durch die Wüste – wobei im Sound der mittlerweile in London angelandeten Seattle-Connection nicht eindeutig festzumachen ist, ob hier die kargen Landschaften der nordamerikanischen Wüstenbecken oder die endlosen, sandigen Weiten der afrikanischen Sahara thematisiert werden, nicht selten findet sich im zeitlosen US-Post-War-Blues von Gitarrist Ben Todd und seinen kongenialen Rhythmus-Begleitern Luke Bergman und Kristian Garrard eine unüberhörbare Verwandtschaft zum Desert/Tuareg-Trance der Tamasheq-Bands aus Mali oder dem Niger, etwa zu den bei Worldbeat-Hörern hochgeschätzten „Big T“ Tinariwen, Terakaft, Tamikrest oder Formationen der folgenden Berber-Nomaden-Generation.
Ben Todd lässt in relaxter Tiefenentspannung seine Gedanken freien Lauf, in hoher Stimmlage permanent latent zum nachdenklichen Klagen und nölenden Jammern geneigt, damit glänzt er neben seiner Hauptrolle als abgeklärter Blues-Mann auch als veritabler Gospel- und Soul-Sänger.
Der Blues von Lonesome Shack schallt scheppernd, minimalistisch reduziert, gleichsam individuell und gründlich ausformuliert. Der sich in Rhythmus-Dauerschleifen Mantra-artig wiederholende „Haunted Boogie“ ist in der verschärften, druckvollen Gangart dank seines zwingenden Grooves eine höchst tanzbare Angelegenheit, in den Downtempo-Momenten der sprichwörtlich atmosphärisch dichte Soundtrack für das Wandeln und Halluzinieren in kargen Wüsten-Regionen, und im Stück „Desert Blues“ offenbaren Todd und Co, dass sich in ihrem Plattenschrank die ein oder andere, unvermutete T.-Rex-Scheibe aus der Glamrock-Phase von Marc Bolan finden dürfte.
Das an sich Spartanische und auf ständige Wiederholungen Reduzierte des Lonesome-Shack-Sounds wird durch den rohen, raumgreifenden, vornehmlich in Dur nachhallenden und gespenstisch singenden Gitarren-Anschlag und die virtuos treibende, anheizende Rhythmus-Arbeit seltsam konterkariert und damit letztlich doch zu einem vollmundigen Gebräu eingekocht.
Geprägt von den Traditionen des Country-Blues längst vergangener Dekaden und deren stilistischen Weiterentwicklungen sind Lonesome Shack in ihrer ureigenen, keinen Trends unterworfenen Interpretation der über hundert Jahre alten Baumwollpflücker-Musik nichts weniger als das hoffnungsvolle Versprechen an die Zukunft des Genres.
„Desert Dreams“ ist seit Anfang März über das kalifornische Indie-Label Alive Naturalsound Records am Tonträger-Markt erhältlich.
(***** – ***** ½)

Lonesome Shack spielen am 30. Juni beim Raut Oak Fest am Riegsee vor herrlicher oberbayerischer Berg/Natur-Kulisse, allein schon dieser Auftritt lohnt das Ticket-Lösen für das dreitägige, hochkarätig besetzte Deep-Blues-Open-Air.

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Lost & Found (9): Steven Jesse Bernstein

„The poem I write is a colorful affair within the body of a man playing dead – a man whose fingers secretly twitch just enough to work the typewriter, who, when it is dark enough will hitchhike from the scene of his death.“
(Steven Jesse Bernstein, 1991)

Steven Jesse Bernstein – Prison (1992, Sub Pop)

Mit „Prison“ hat das Sub-Pop-Label 1992 das einzige Album des amerikanischen Underground-Dichters Steven Jesse Bernstein veröffentlicht, ein faszinierendes Konglomerat aus der Spoken-Word-Performance des Poeten und den Sound-Samples, die der Nirvana-, Soundgarden- und Beat-Happening-Produzent Steve Fisk als musikalische Grundlage beisteuerte, „spoken-word-meets-sampledelica“ hat das der Autor und Musik-Journalist Michael Azerrad in seinem Standardwerk zum US-Indie-Rock „Our Band Could Be Your Life: Scenes from the American Indie Underground 1981–1991“ genannt.
Fisk entwarf mit Hilfe von Sampling und Tape-Manipulationen eine schmissige Mixtur aus Lounge-Jazz, Hip Hop und Ambient-Psychedelic, die mitunter Assoziationen an US-TV-Soundtracks und die heile Welt der Fünfziger-Jahre-Serien weckt und so im krassen Kontrast zu den mit schneidernder Stimme vorgetragenen, Unbehagen wachrufenden Texten Bernsteins steht, die sich mit Entfremdung, Verzweiflung, Verfall, Selbsthass, erniedrigenden Kindheitserinnerungen und – in der Tradition von Bukowksi und Burroughs, mit letzterem war Bernstein im Übrigen gut befreundet – mit den traumatischen Alkoholexzess- und Drogenerfahrungen des Autors auseinandersetzen.
Für „Prison“ hatte Bernstein ursprünglich ein ähnliches Konzept wie Country-Star Johnny Cash bei seinen legendären Gefängnis-Auftritten Ende der Sechziger geplant, die Idee wurde später wieder verworfen, von seinem für eine Live-Aufnahme angedachten Auftritt im State Penitentiary Special Offenders in Munroe/Washington wurden nur die Fotos für das spätere Album-Cover verwendet.
Zur Zeit der Arbeiten an „Prison“ litt Steven Jesse Bernstein unter manischer Depression und unter einem schweren Rückfall in seine Alkoholsucht, an der Veröffentlichung seines Poetry-Grunge-Meisterwerks konnte er sich nicht mehr erfreuen, im Alter von vierzig Jahren hat sich Bernstein im Oktober 1991 das Leben genommen. Produzent Fisk stellte die Rohentwürfe der zehn Arbeiten mit Hilfe seiner Samples fertig, zum Zeitpunkt des Selbstmords war erst ein Stück komplett abgemischt, im April 1992 wurde das Album veröffentlicht. Der New Yorker Regisseur Oliver Stone, der ein großer Fan Bernsteins war, verwendete einige Jahre später das Stück „No No Man“ im Soundtrack für seinen albtraumhaften cineastischen Serienkiller-Roadtrip „Natural Born Killers“.
Steven Jesse Bernstein war fester Bestandteil der Seattle-Grunge-Szene, mit seinen rohen, provokanten Live-Lesungen hat er für Bands wie Soundgarden, Mudhoney, Nirvana und viele andere Alternative-Bands Konzertabende eröffnet.

„We believe ‚Prison‘ to be an exceptional project of character and endurance. Steven Jesse Bernstein was a brilliant and unique individual. We will miss him deeply.“
(Sub Pop)

Reingehört (258): Damien Jurado & Richard Swift, The Wedding Present

KULTURFORUM Winter www.gerhardemmerkunst.wordpress.com (16)

The Wedding Present – Marc Riley Sessions, Vol. 1 (2016, Hatch Records Limited)
Schändlicherweise festgestellt, dass die neue „Going, Going…“-Scheibe vom nordenglischen Hochzeitsgeschenk im vergangenen Herbst völlig unbeachtet und ungehört durchgerutscht ist, dabei geht die Combo um Songwriter, Sänger und Gitarrist David Gedge jederzeit und immerwährend gut ins Ohr, seit über 30 Jahren, wie auch diese schöne Radio-Sessions-Zusammenstellung eindrucksvoll unterstreicht. Aufgenommen zwischen 2007 und 2010 in der „BBC Radio 6 Music“-Sendung von Moderator/DJ Marc Riley, der in früheren Jahren selbst als Musikant zugange war, mit seiner eigenen Combo The Creepers und von 1978 bis 1983 als Bassist bei der Postpunk-Institution The Fall, bevor er dort einer der vielen Säuberungsaktionen von Band-Diktator Mark E. Smith zum Opfer fiel. Für den gelungenen Johnny-Cash-Tribute-Sampler „Til Things Are Brighter“ aus dem Jahr 1988 zeichnet er als Co-Produzent zusammen mit Mekons-Chefe Jon Langford im Übrigen auch verantwortlich.
The Wedding Present, die letzten ihrer Art in Sachen C86-Geschrammel, hat Riley hier formvollendet auf die Spur gebracht, die Band entfaltet live im Studio wie bewährt auf Bühne ihre unbändige Spielfreude, hinsichtlich High-Speed-Schepper-Gitarre und diesem einzigartigen Gespür für den großen Gitarren-Pop-Song kann David Gedge und den Seinen niemand auch nur annähernd das Wasser reichen in der weiten Welt der gepflegten Beschallung.
Die Titelauswahl hält zwar keine großen Überraschungen parat, das Präsentierte bietet nichtsdestotrotz eine schöne Übersicht über die Bandgeschichte mit einer Auswahl an feinen Momenten aus der langen WP-Geschichte, ein donnernd-ergreifendes „Palisades“ etwa, „Brassneck“ vom „Bizarro“-Meisterwerk, das unverwüstliche „Everyone Thinks He Looks Daft“ vom immer noch frisch und unverbraucht klingenden „George Best“-Debüt von 1987 oder „Heather“ aus dem auch sehr gelungenen „Seamonsters“-Werk, und wenn sich bei „Don’t Take Me Home Until I’m Drunk“ das Herz nicht allein schon beim begnadeten Songtitel weitet, ist wahrscheinlich die letzte Weihnachtsfeier noch nicht verdaut…
Ein perfekter Einstiegspunkt für Hörer, die bisher von den humorig-intelligenten, aus dem Leben gegriffenen Geschichten und dem einzigartig-zupackenden Prä-Brit-Pop-Gitarrenmelodien der Combo aus Leeds unberührt waren, für langgediente Fans eh ein Fest.
(*****)

Damien Jurado & Richard Swift – Other People’s Songs Vol.1 (2016, Secretly Canadian)
Gab’s schon mal zeitweise als freien Download im Jahr 2010: Seattle-Indie-/Folk-Spezi Damien Jurado und sein Kumpel Richard Swift, seines Zeichens Tastenmann bei der Ami-Indie-Combo The Shins, haben sich vor einigen Jahren für die individuelle Interpretation und Einspielung von Fremdkompositionen im Studio zusammengefunden, im Stil von LoFi-Geschwurbel, verhalltem Sixties-Folk-Pop und charmant angestaubter Uralt-Psychedelic inklusive Ära-typischem, verträumtem, athmosphärisch-schönem Nostalgie-Schmalz, in dem das Duo so weit auseinander liegende Pole wie John Denver, Bill Fay, Chubby Checker, die unsäglichen Bombast-Prog-Heinzen von Yes und die deutschen Elektronik-/Kraut-Pioniere Kraftwerk zusammenbringt, „Radioactivity“ der Letztgenannten gar partiell in holprigem Deutsch vorgetragen und folkloristisch üppig orchestriert, maximal weit entfernt von der technischen Kälte des Originals der Düsseldorfer. Der Easy-Listening-Soundtrack für die Feiertage oder die anstehende Sylvester-Sause.
(**** – **** ½)

Reingehört (201): Zhongyu

KULTURFORUM Suzhou www.gerhardemmerkunst.wordpress.com 24

Zhongyu – “Zhongyu” Is Chinese For “Finally” (2016, Moonjune / Cargo)
Der Experimentalmusiker und Multiinstrumentalist Jon Davis hat zusammen mit dem Gitarristen Dennis Rea einige Jahre in Peking verbracht, dort liegen die wesentlichen Wurzeln/Einflüsse dieser vor kurzem erschienenen Veröffentlichung. Zusammen mit Rea und weiteren Bandmitgliedern der Seattle-Prog-Band Moraine und dem experimentellen Jazz-Drummer Randy Doak hat Davis das Projekt Zhongyu ins Leben gerufen, die Formation besticht durch ein gelungenes Konglomerat aus chinesischer Volksmusik und ausgiebigsten Reminiszenzen an den Jazz- und Progressive Rock, letztere Einflüsse reichen vom gekonnten Einsatz des Chapman-Stick, wie man ihn aus besten King-Crimson-Tagen kennt, bis zu ausgedehntem, exzessivem Ian-Anderson-/Jethro-Tull-Geflöte.
Das rein instrumentale Werk ist ein gelungener akustischer ost-westlicher Brückenschlag, der hinsichtlich Stilmix viel wagt und alles gewinnt. Psychedelic, Ambient/Drone/Noise, meditative, ruhig fließende Melodien und fernöstliche Klanglandschaften, begleitet von experimentell-jazziger Rhythmik, bieten ein ausgewogen-stimmiges Gesamtbild, das die Frage aufwirft, warum die westlich geprägte Rockmusik sich in der Form nicht vermehrt Richtung Osten öffnet.
„Komposition und Improvisation, Ruhe und Chaos, Harmonie und Dissonanz, Komplexität und Einfachheit, akustische und elektrische Klänge“, hier klappt das mit dem Miles-Davis-Postulat, welches die alte Tröten-Nervensäge selber eigentlich seltenst so erfrischend umgesetzt bekam…;-))
(**** – **** ½)