Sound-Scapes

Reingehört (500): Innerwoud & Astrid Stockman

Innerwoud & Astrid Stockman – Haven (2018, Consouling Sounds)

Innerwoud ist das 2014 in Gent ins Leben gerufene Projekt des belgischen Kontrabassisten Pieter-Jan Van Assche, auf seiner neuesten Arbeit „Haven“ lässt er seine Werke vom Gesang der klassisch-akademisch ausgebildeten Sopranistin Astrid Stockman bereichern, mit einem Libretto der Dramaturgin Aïda Gabriëls, das auf ihrer „Soundscape“-Oper „Medeamaterial“ basiert, zu der seinerzeit 2016 Innerwoud/Van Assche und Stockman die Musik komponierten.
„Haven“ setzt sich zusammen aus zwei langen und zwei kurzen Sätzen, durchnummeriert mit „Elegy I“ bis „IV“, eingangs ein Mäandern in finsteren, latent dissonanten Drones, zu denen Pieter-Jan Van Assche in würdevoller Getragenheit seinen Kontrabass mit dem Bogen spielt und ihn über mehrschichtige Soundsegmente wie ein schwermütiges Cellisten-Ensemble klingen lässt, durchwirkt und umsponnen von diffusem Wispern und Flüstern aus der Zwischenwelt. Im zweiten Teil ein Hinübergleiten zum großen Entwurf aus Neoklassik, Ambient und Trance mittels gespenstischer, melancholischer, nahezu orchestraler Streichersätze, die durch Astrid Stockmans erhabene Sopran-Gesänge schwerst ergreifende Stimmungen zwischen erdrückender Trauer, erschütternder Seelenpein und meditativer Kontemplation transportieren.
„Elegy III“ als kurzes Interludium glänzt durch experimentelles Saitenspiel am akustischen Bass, archaisch, nackt und reduziert, in anderem Kontext geht das auch als gepflegtes Solo-Improvisieren beim klassischen Jazz durch. Der vierte Satz in gedehnter Schwermut, entrücktem Streicher-Tiefgang und wunderschönem Klage-Kunstgesang ist die Steigerung und Fortführung zum zweiten Abschnitt als großes, finales Requiem zum Lamentieren über die elementaren Dinge des Lebens zwischen Licht und Schatten.
Diese Musik fordert ganze Aufmerksamkeit und eingehende Würdigung, um dem Anspruch dieser Komposition gerecht zu werden, wer oberflächlich, flüchtig lauscht und dem Irrglauben aufsitzt, dieses neoklassische Experimental-Wunderwerk en passant vollumfänglich erfassen und begreifen zu können, wird über kurz oder lang in der Hektik des Alltags verloren gehen, Gott sei der armen Seele gnädig.
„Haven“ erscheint am 14. Dezember als Vinyl- und Compact-Disc-Ausgabe beim belgischen Label Consouling Sounds, das im laufenden, sich dem Ende zuneigenden Jahr einmal mehr nicht nur mit dieser Veröffentlichung grandiose Ausnahme-Einspielungen zwischen Neoklassik, experimentellen Tondichtungen, überwältigendem Postmetal und Postrock auf den Markt brachte, kann man an der Stelle gar nicht oft genug erwähnen. Label des Jahres, Kategorie International, da gibt’s kein Vertun.
(***** – ***** ½)

Werbung

Reingehört (457): Dirk Serries

„Das Mißverständnis aber zwischen der Größe meiner Aufgabe und der Kleinheit meiner Zeitgenossen ist darin zum Ausdruck gekommen, daß man mich weder gehört, noch auch nur gesehn hat. Ich lebe auf meinen eignen Kredit hin, es ist vielleicht bloß ein Vorurteil, daß ich lebe?“
(Friedrich Nietzsche, Ecco Homo)

Dirk Serries – Epitaph (2018, Consouling Sounds)

A Man Of Many Talents: Der Belgier Dirk Serries war in den vergangenen Dekaden unter eigenem Namen oder mit Projekten/Kollaborationen wie den Noise-Jazzern Yodok III und unter seinen Drone-Pseudonymen Microphonics, Vidna Obmana, Fear Falls Burning oder – zusammen mit Steven Wilson – Continuum zugange, darüber hinaus hat er unter anderem mit Godflesh/Jesu-Mastermind Justin Broadrick und dem amerikanischen Komponisten Steve Roach zusammengearbeitet und die Bühne mit den Indie-Bands Low und My Bloody Valentine geteilt.
In diesem Jahr steht Serries‘ fünfzigstes Wiegenfest an, wie auch Consouling Sounds zehnjähriges Dienstjubiläum feiert, was liegt näher, als die Sektkorken zur gemeinsamen Sause knallen zu lassen: Im April veröffentlichte das Genter Label für Experimental-Musik, Postrock und Artverwandtes eine feine Doppel-CD mit einer opulenten Sammlung aus zehn gedehnten Instrumental-Arbeiten des Musikers, der hier seinen expliziten Hang zur abstrakten Ambient-Musik dem Vernehmen nach final zelebriert. Dirk Serries selbst merkt in den Liner-Notes zur Veröffentlichung an, dass die Arbeiten den Stand der Klangforschungen nach über 30 Jahren Zweifeln, Frustrations-Momenten und vielen Ups und Downs zu seiner Vorstellung von Gitarren-Ambient und verfremdenden Electronica-Elementen dokumentieren, gleichsam ein Ende des Weges markierend mit Ausblick auf zukünftiges, weiteres Vordringen in individuell unerforschte Gebiete der Experimental-Musik, im Geiste einer lebenslangen tonalen Entdeckungsreise.
Direkt in den Computer eingespielt mit der E-Gitarre und ergänzt durch gesampelte Drone-Elemente, entstanden über neunzig Minuten improvisierte Melancholie, zum Innehalten gebietende Space-Reflexionen, die in hellen Klangfarben wie dunklem, unterschwelligem Rauschen und allen weiß-grau-schwarzen Schattierungen dazwischen in den Orbit driften und zum genauen Hinhören zwecks Erspüren der charakteristischen Nuancen gemahnen. „Epitaph“ ist weit von herkömmlichem Gitarren-Ambient entfernt, Serries abstrahiert, verfeinert und verfremdet den ursprünglichen Saiten-Anschlag zu synthetischen wie trotz Transformation organisch klingenden Sound-Scapes, die, einmal mit der verdienten Aufmerksamkeit und Konzentration bedacht, einen unglaublichen, Sucht-entfachenden Sog entfalten.
Wohin Genius in Verbindung mit Studiotechnik und handwerklicher Finesse Dirk Serries zukünftig führen, man darf wie stets bei diesem Musiker gespannt sein, mit dem letzten Kapitel der Bestandsaufnahme seiner experimentellen Ambient-Vergangenheit ist ihm zweifellos ein höchst gelungenes und hochspannendes Zwischenbilanz-ziehen geglückt.
(*****)