Im Mai 2017 vermochten sie im Rahmen des dreitägigen Postrock-Hochamts beim belgischen dunk!Festival mit ihrer Electronica-gestützten Spielart des Genres und vor allem mittels groß angelegter, exzellenter Video-Show bleibenden Eindruck zu hinterlassen, dieser Tage bringen sich die vier Franzosen von Lost In Kiev mit einem neuen Longplayer wieder ins Gespräch. Zweieinhalb Jahre nach der letzten Veröffentlichung „Nuit Noire“ beim dunk!-eigenen Label geben die jungen Musiker aus Paris mit dem aktuellen Werk „Persona“ eine Vorstellung davon ab, wohin die Reise des Postrock in Zukunft gehen kann, böse Zungen würden mit fortschreitender Austauschbarkeit diverser Bands in dem Zusammenhang wohl von ersten ernsthaften Wiederbelebungsversuchen der instrumentalen Indierock-Spielart sprechen.
Lost In Kiev vereinen auf ihren groß angelegten, cineastischen Breitwand-Klangentwürfen ein ganzes Spektrum an Stil-prägenden Elementen des Genre-übergreifenden Progressive- und Post/Core-Sounds. Die handelsüblichen Postrock-Gitarren-Crescendi werden in dem Kontext prominent platziert und entfalten sich damit prächtig. Substanziellen Tiefgang, Fläche und individuelle Ausgestaltung gewinnen die Nummern mit einem Horizont-erweiternden Blick über die altbekannten Gitarren-Soundwände hinweg, mit einem Schweifen hinein in die Sphären des Synthie-Space, in ausgewählte Momente strahlender Krautrock-Glückseligkeit, Lichtjahre zurückliegend, in die zeitlose Supernova aus der „Phaedra“-Ära der deutschen Elektronik-Pioniere von Tangerine Dream und des „Neu!“-Debüts von Michael Rother und Klaus Dinger. Die französischen Musiker erweisen sich in den aktuellen Kompositionen als versierte Experimental-Protagonisten im futuristischen Neo-Prog/Postrock-Crossover, neben den atmosphärischen, Sound-dominierenden Synthesizer-Sequenzen und den markanten Gitarren-Timbres spielt das Quartett mit Drum-Machine-getriebenen New- und Dark-Wave-Zitaten, digitalen Samplings, Loops und der Sog-artigen Wirkung ihres Electronica-Trance-Flows. Der Analog/Synthetik-Hybrid lässt die Stimmungslage in permanenter Unruhe zwischen melancholischer Schwere und euphorischer Losgelöstheit wandern. Wo andere Bands die Spoken-Word-Samples oft völlig zusammenhanglos aus Field Recordings, hochtrabenden Politiker-Reden oder Film-Dialogen entlehnen, produzieren Lost In Kiev ihre digital verfremdeten Monologe und Zwiegespräche zum Durchbrechen der rein instrumentalen Strukturen des Postrock selbst, damit erzählen sie ihre eigenen Geschichten, die von implementierten menschlichen Erinnerungen in Robotern zwecks Überwindung der Vergänglichkeit, rein technischer, Maschinen-gestützter Kriegsführung, Robotern als Lebens- und Liebes-Partnern, künstlicher Intelligenz und anderen zukunftsorientierten, erschreckenden Sci-Fi-Themen handeln.
Summiert man die eingesammelten Pluspunkte nach diesem ergiebigen wie zuweilen Reiz-überflutenden Sound-Trip, kommt man auf nicht eben wenig, was dieses Album von herkömmlicher Instrumental-Durchschnittsware unterscheidet, Lost In Kiev dürften damit auf die drohende (böse Zungen: längst eingetretene) Stagnation im Postrock eine brauchbare Antwort gefunden haben. „Persona“ erscheint am 26. April beim Berliner Independent-Label Pelagic Records.
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„Ali war ein schöner Krieger und er reflektierte eine neue Haltung für einen Schwarzen. Ich mag Boxen nicht, aber er war etwas ganz Besonderes. Seine Grazie war beinahe erschreckend.“ (Toni Morrison)
Kein Geringerer als der Pop-Star schlechthin unter den Spitzensportlern des 20. Jahrhunderts soll Thema und besungener Held sein im heutigen Beitrag zur Black-Friday-Reihe: Die afroamerikanische Profi-Box-Legende Cassius Marcellus Clay aus Louisville/Kentucky, „The Louisville Lip“, seit 1964 nach Ablegen seines „Sklaven-Namens“ und Konvertierung zum Islam dem Universum als Muhammad Ali bekannt, dreimaliger „Undisputed Champion“ in der Schwergewichts-Klasse, laut IOC „Sportler des Jahrhunderts“, nach seiner eigenen, unbescheidenen Selbsteinschätzung schlichtweg „The Greatest“ – und um auf die Musik-Historie zurückzukommen: den Rap wie den Hip Hop hat er auch mit auf den Weg gebracht, wie nicht zuletzt der deutsche Kabarett-Minimalist Rolf Miller in seiner unnachahmlichen Art bezeugt: „Am End hat sich alles g’reimt. Des was der Eniman heut singt, des hat der Ali früher im Interview verzählt.“
„The less cynical, less media-saturated nature of the times allowed Ali to achieve a mythic grandeur he probably couldn’t today, and the overall tone here is one of unalloyed eulogy.“ (The Telegraph, CD of the week, 8.11.2003)
2003 veröffentlichte das Münchner Indie-Label Trikont zu Ehren des großen Boxsport-Entertainers den Sampler „Hits And Misses – Muhammad Ali And The Ultimate Sound Of Fistfighting“. Kompiliert, mit informativen Liner-Notes in dem für Trikont-Verhältnisse obligatorischen, exzellent aufgemachten Beiheft versehen und herausgegeben wurde die feine Sammlung vom Münchner Hobby-Boxer, DJ, Journalisten und Maler Jonathan Fischer, der bei der unabhängigen Giesinger Plattenfirma bereits mit der Veröffentlichung diverser anderer gewichtiger Themen-Sammlungen rund um die schwarze Musik glänzte. Unterstützt wurde er beim Ali-Sampler von Co-Herausgeber Claas Gottesleben, über den ansonsten neben seiner Beteiligung an diesem Projekt nichts in Erfahrung zu bringen war.
„Ich habe keinen Streit mit den Vietcong. Sie haben mich niemals Nigger genannt.“
Die Liner Notes zur CD-Ausgabe setzen sich mit dem Phänomen auseinander, dass die Auftritte von Muhammad Ali weit mehr waren als nur großer Kampfsport. Der Ausnahme-Athlet entwickelte im und neben dem Box-Ring einen ureigenen Stil, seine Pressekonferenzen und Interviews boten erstklassiges Show-Entertainment, seine kritischen wie großspurigen Ansagen und speziell seine Kriegsdienst-Verweigerung zum Einsatz in Vietnam hatten politisches Gewicht in den USA und darüber hinaus, seine Hinwendung zur „Nation Of Islam“ und seine zwischenzeitliche Freundschaft mit Malcolm X bargen gesellschaftlichen Zündstoff im Geiste der amerikanischen Bürgerrechts– und Black-Power-Bewegung.
Die großen, berühmten Kämpfe in den Siebzigern wie der „Thrilla in Manila“ gegen seinen Dauer-Rivalen Joe Frazier oder der „Rumble in the Jungle“ in Kinshasa/Zaire gegen George Foreman, die weltweit Millionen von Fernsehzuschauern zu nachtschlafender Zeit vor die TV-Geräte lockten, waren weit mehr als nur medial inszenierte Sport-Events, sie reihten sich darüber hinaus wie etwa das legendäre Woodstock-Festival in den Kanon großer Pop-historischer Ereignisse ein.
Wie jedes große Helden-Epos war das Leben von Muhammad Ali vom großen Drama gezeichnet, und so ließ seine schwere Parkinson-Erkrankung als Folge seines viel zu späten Abschieds vom Boxring, sein Umgang mit dem Nerven-zersetzenden Defekt in seinen späteren Jahren und sein finales Hinscheiden im Jahr 2016 niemanden kalt.
„Clay swings with a left, Clay swings with a right, look at young Cassius, carry the fight.“
Der Trikont-Longplayer selbst bildet eine breite stilistische Palette an musikalischen Ali-Lobpreisungen vorwiegend aus den Siebziger Jahren ab, die von afroamerikanischem Soul, Funk und Blues über jamaikanischen Dancehall-Reggae, brasilianischen Pop und kongolesischen Big-Band-Sound bis hin zur Country-Schunkel-Nummer „Muhammad Ali“ vom weißen Americana-Musiker Tom Russell reicht, wohltönend dosierte Wirkungstreffer und größtenteils unbekannte Perlen aus der weiten Welt der populären Musik, die sehr gut ohne den Johnny-Wakelin-Hit „In Zaire“ auskommen, ergänzt um Spoken-Word-Beiträge vom Box-Champ Ali selbst und einer Straßenpredigt seines einstigen Gegners George Foreman, der nach seiner aktiven Zeit als Sportler Karriere als Autor, Fernsehkoch und berühmter Kirchenmann machte. Und auch Joe Frazier darf ran ans Mikro, der „Undisputed Heavyweight Champion“ von 1970 bis 1973 nahm in den Siebzigern mehrere Singles und EPs für unter anderem Capitol und Motown auf, in den späten 70ern rief er die Soul/Funk-Combo Joe Frazier And The Knockouts ins Leben, mit der er durch Amerika und Europa tingelte. Auf der Trikont-Musikdokumentation über den „Ultimate Sound Of Fistfighting“ ist er mit seiner Version des Bobby-Byrd-Songs „Try It Again“ zu hören.
Hier im Anschluss eine kleine Auswahl an Song-Highlights aus „Hits And Misses“:
„Float like a butterfly, sting like a bee, my name is Muhammad Ali.“
Sensationell geht die Nummer „The Ballad Of Cassius Clay“ ab, eine ultra-flotte Soul-Single der Band The Alcoves aus dem Jahr 1964, über die Jonathan Fischer im Beiheft treffend wie eine Knockout-Gerade anmerkt: „Ein typischer Song aus den 60ern, schnell, laut und stark, über einen großmäuligen, schnellen, starken und verdammt gutaussehenden Boxer, dessen politische Wirkung auf die Welt zu der Zeit noch nicht für jeden abzusehen war…“ – über die Formation The Alcoves ist wenig bekannt, selbst allwissende Portale wie Discogs oder Allmusic kennen keine biografischen Daten und nennen als Output der Combo nur die Single, ihre Berücksichtigung auf der Tracklist der Trikont-Sammlung und die Single-B-Seite „Heaven“ als Beitrag zu einem Sampler des New Yorker Labels Carlton Records.
„Marcellus Cassius Clay“ stammt von Jorge Ben. In seiner Heimat gilt der Musiker als einer der bekanntesten Vertreter der Música Popular Brasileira, in der sich Einflüsse aus Rock, Samba, Bossa Nova und Reggae wiederfinden. Das Loblied auf den Boxer ist 1971 auf Bens Album „Negro é Lindo“ erschienen. Der Künstler tritt seit den Achtzigern unter dem Namen Jorge Ben Jor auf, seine einflussreichste Phase auf die brasilianische Popular-Musik hatte er zwischen 1963 und 1976. US-Präsident Obama erwähnte den Musiker 2011 in einer Rede in Rio de Janeiro.
Eine weitere herausragende Nummer des Samplers ist „Foremann Ali Welcome To Kinshasa“ vom Orchestre G.O. Malebo, das die Formation aus Zaire 1974 als musikalischen Willkommensgruß für die beiden Kämpfer des „Rumble In The Jungle“ einspielte. Eine feine Afro-Pop-Nummer mit treibendem Beat, grandiosen Chören, flotten Bläsersätzen und den für die Band typisch flirrenden „Soukous“-Gitarren, hier der westafrikanischen Juju-Musik nicht unähnlich. Das Orchester hat in den Siebziger Jahren zahlreiche Singles eingespielt, seither scheint sich die Spur der Band in der Musikwelt zu verlieren…
Der jamaikanische Reggae und seine spezielle Verehrung afro-stämmiger Helden ist auf der Sammlung nicht zu knapp vertreten, der als Dennis Smith geborene DJ, Produzent und Seventies-Dancehall-Star Dennis Alcapone ist mit seinen Riddims und originellem Toasting in „Muhammad Ali“ und „Cassius Clay“ gleich zweimal zu hören, sein Landsmann Manley Augustus Buchanan aka Big Youth würdigt in „Foreman vs. Frazier“ mit seinem Chant den 1973 in seiner Heimatstadt Kingston ausgetragenen Titelkampf der beiden Schwergewichtler, der als „Sunshine Showdown“ in die Box-Geschichte einging und mit einem K.o.-Sieg Foremans in der zweiten Runde im Nationalstadion endete.
Der Box-Champ selbst hat sich 1963 noch unter seinem Geburtsnamen Cassius Clay als Sänger versucht, mit einer Interpretation des berühmten Soul-Klassikers „Stand By Me“ von Ben E. King, die Singles-Auskopplung, die sich im Übrigen nicht auf dem Trikont-Sampler findet, ist der einzige Song seines Columbia-Albums „I Am the Greatest“, auf der sich Ali ansonsten mit seinen Spoken-Word-Reimen als unterhaltsamer Comedian gibt. Die Aufnahmen gelten als frühe Vorläufer des Rap und Hip Hop. Auf „Hits And Misses“ findet sich der Titel-Track der Monolog- und Gedichte-Sammlung.
„Hits And Misses – Muhammad Ali And The Ultimate Sound Of Fistfighting“ ist im September 2003 beim Münchner Independent-Label Trikont erschienen und nach wie vor als CD im gut sortierten Fachhandel sowie als Download über die Label-Homepage erhältlich.
„Wortkrieger, Überzeugungstäter, Provokateur, Humorist, selbst Motivations-Trainer: Was für ein wunderbar enthusiastisches und mitreißendes Geschnatter!“ (The Washington Post)
Man kennt das aus dem Privatleben: Freundeskreis bereist ferne Länder und lädt im Nachgang zum abendfüllenden Dia-Abend, zu dem dann jeder Kaktus und jedes bettelnde Kind zigfach per Foto und verbal bis zum Erbrechen dokumentiert und kommentiert werden, ein Teil der Gäste pennt bereits weit vor dem Finale des 800-Bilder-Marathons weg, ein Teil hält sich am Bier und den gereichten Fressalien schadlos und gibt sporadisch den ein oder anderen sarkastischen Einwurf zum Besten, und der Rest heuchelt bis zum bitteren Ende aufmerksames Interesse.
Dass die Nummer auch anders über die Bühne gehen kann, hat der gute alte Henry Rollins am vergangenen Sonntagabend in der vollbepackten Münchner Muffathalle eindrücklich vorgeführt: Das amerikanische US-Punk-Urgestein, formerly known as the hardest working man in rock and roll business, ehemals berserkernder und nichts weniger als alles gebender, Muskel-bepackter Straight-Edge-Frontmann der legendären kalifornischen Hardcore-Combo Black Flag wie in späteren Jahren seiner eigenen Rollins Band (inklusive zweiter Auflage mit diesen unsäglichen Mother-Superior-Deppen), ließ auch mit seiner „Travel Slideshow“ zu keiner Sekunde Langeweile aufkommen und schwadronierte in einem einzigen, schier endlos dahinfließenden Wortschwall-Stakkato über sage und schreibe zwei Stunden fünfzehn ohne Punkt und Komma, in unseren bajuwarischen Auen und Fluren sagt man über so einen gemeinhin: „Bei dem müassns d’Goschn amoi extra daschlong“.
Als launiges, höchst unterhaltsames Entertainment, im Modus eines frei referierenden Stand-Up-Comedians, ergossen sich unzählige ineinander greifende Geschichten auf die lauschende Zuhörerschaft, die der seit über einem Jahrzehnt inaktive Punkrock-Sänger neben seinen derzeitigen anderweitigen Professionen als Radio- und TV-Moderator, Schriftsteller, Schauspieler und Spoken-Word-Artist in seiner Inkarnation als weit gereister, investigativer, rasender Reporter von seinen Aufenthalten in den entlegensten Erdteilen zu berichten wusste. Wo ihn seine frühen Konzertreisen vor allem in Nordamerika und Europa touren ließen, bereist Rollins heutzutage die Mongolei, Sibirien und die Antarktis, von amerikanischen Streitkräften heimgesuchte Staaten wie Afghanistan oder den Irak, die fernöstlichen Länder oder Krisenregionen wie Syrien oder Mali.
Nebst humorigen Geschichten wie die Anekdote über gefakte Black-Flag-Shirts im fernen Asien oder Kamele als Zuhörer beim Desert Music Festival in der Sahara ließ the great Hank auch immer wieder ernsthafte, kritische und nachdenkliche Statements verlauten. Rollins kommentierte seine Fotos aus ehemaligen Kriegsgebieten, für die es nach seinem Dafürhalten von US-amerikanischer Regierungsseite weitaus sinniger gewesen wäre, die Bevölkerung mit Nahrung und Bildung zu versorgen statt mit Waffenlieferungen und militärischen Interventionen, er machte sich Gedanken über gute und schlechte Regierungen, ausgelöst durch einen Besuch der „Killing Fields“ in Kambodscha, und schilderte seine Eindrücke im Zusammenhang mit den zerstörerischen Nachwirkungen des Kampfstoffs „Agent Orange“ mittlerweile bereits in der dritten Generation nach dem Vietnamkrieg an Beispielen von Heimkindern und den Lebensläufen ehemaliger Kämpfer des Vietcong.
Die Diashow des Henry Rollins ist weit mehr als ein locker beplauderter Bilder-Reigen, sie ist permanentes Schwanken zwischen den Extremen, eine verbale Tour de Force in einem Wechselbad der Gefühle und letztendlich das eindringlich und in bunten Farben dokumentierte Panoptikum des prallen und vielfältigen Lebens. Nebst polemischen, zuweilen extrem witzigen Geschichten fällt der ex-Punk immer wieder in Reflexionen über das Dasein auf der untersten Stufe der sozialen Leiter, etwa durch seine Begegnungen mit Menschen in Bangladesh, die Essen in Müllbergen sammeln und trotzdem ihre Würde bewahren, wie in Gedanken über die letzten Dinge des Lebens, die ihm beim zeremoniellen Leichen-Verbrennen in Bhutan durch den Kopf geisterten. Die ehemals entfesselte, ungebändigte Wut des Punk-Sängers ist mittlerweile einer gewissen Altersmilde gewichen, sein kritischer Geist ist gleichwohl wach wie eh und je.
Bei Henry Rollins liegt es auf der Hand, dass er als ausgewiesener Verehrer und Chronist zahlreicher Bands und Musiker punktuell seine Anekdoten und Anmerkungen zum Rock’n’Roll-Business in den Kontext seines Vortrags einfließen lässt, sei es zu brillanten Tuareg-Blues-Bands aus West-Afrika, sei es zu dummen Bruce-Dickinson-Statements über die Relevanz des Punkrock (der – von Rollins ironisch dokumentiert – selbst in einem mongolischen Friseur-Laden seine Spuren hinterlassen hat), zu gemeinsamen Touren mit den Beastie Boys und Cypress Hill oder zum spontanen Backgroundsänger-Auftritt zusammen mit Kumpel Jello Biafra für seinen langjährigen Freund Nick Cave. Der beschließende Teil des Abends gehörte seinem Part in der amerikanischen Punkrock-Historie: Nachdem Rollins ein paar alte Fotos präsentierte, die ihn und seinen alten Freund aus Washington-DC-Tagen, den ehemaligen Fugazi-Frontmann Ian MacKaye, als junge Skate-Punks im Flug über die Halfpipe zeigten, erzählte er die Story, wie er als spontaner und sich selbst in Stellung bringender Gast-Sänger 1981 postwendend zu seinem Black-Flag-Job kam, für ihn der Startschuss zu einem langen, bis heute andauernden Road-Trip, und damit schloss sich der thematisch weit ausholende Kreis des Abends.
Direkt und unverstellt, wie seine hart zupackende Musik in ihren besten Momenten auf den alten Alben eben auch ist, schildert Rollins unverblümt und frei von der Leber seine Sicht der Dinge, das mag nicht unbedingt immer höchsten philosophischen Ansprüchen genügen, dafür ist es fern jeglichen Hirngewichses allgemein für alle verständlich wie verbindlich in der Ansage, und es liegt sicher nichts Falsches im Statement, dass das Leben viel zu schnell vorbeirauscht und damit viel zu schade ist, um sich von Institutionen, langweiligen Jobs oder Konventionen reglementieren oder homo-/xenophobem und misanthropischem Gedankengut leiten zu lassen – wer hätte einst vermutet, dass die Punks von gestern damit nur einen Steinwurf von den Welt-verbessernden Gutmenschen-Hippies von vorgestern entfernt sind?
Für die altgedienten Fans war’s ein willkommenes, die eigenen Gedanken anregendes Wiedersehen mit einer alten Punk-Legende, die einen stets bestens bedient und gut versorgt mit grandiosen, intensivsten Konzerten durch die Achtziger und Neunziger brachte, mit energetischen Shows, zu denen der nur mit Boxer-Shorts gewandete Hardcore-Taifun auch nur auf einem Kamm hätte blasen können, um den Rest der seinerzeit als große Events gepriesenen Hanseln – nennen wir sie U2 oder Springsteen – von der Bühne gefegt hätte, für die Novizen bot die kommentierte Fotoschau die Gelegenheit, einen der außergewöhnlichsten Entertainer und subkulturellen Multitalente der letzten vier Dekaden endlich live erleben zu dürfen, wenn es auch kein lautstarkes „Liar“, „1000 Times Blind“ oder „Black And White“ durch die Verstärker gewuchtet gab.
Der gute alte Henry Lawrence Garfield aka Henry Rollins, in Zeiten des Trump-Trottels fast schon sowas wie ein amerikanischer Hoffnungsträger, und immerhin der Garant dafür, dass dort drüben nicht nur Vollpfosten durch die Gegend rennen – obwohl, oft daheim ist er ja nicht, wie seine Dia-Show eindrucksvoll aufzeigte…
Henry Rollins Travel Slideshow im alten Europa noch zu folgenden Gelegenheiten, do yourself a favour:
12.12. – Stuttgart – Im Wizemann 13.12. – Hamburg – Kampnagel 19.12. – Kiew – Caribbean Club
Im laufenden Jahr ließen Soul Grip bereits einmal aufhorchen mit mächtigem Lautmalen, im Juni haben die fünf jungen Mannen aus Gent mit den belgischen Landsleuten der Noise-Formation VVOVNDS eine gemeinsame Split-EP zum Record Store Day veröffentlicht, in naher Zukunft geben sie mit dem Longplayer „Not Ever“ weiteren Druck auf den Kessel. Der Band gelang seinerzeit auf der Extended-Play-Scheibe das Kunststück, mit „Dwaler“ eine trotz schwärzester Beigaben dauer-rotierende Postcore-/Black-Metal-Überwältigungs-Hymne als Sonnen-verdunkelnden Alternativ-Sommer-Hit für die geneigte Hörerschaft der härteren Gangart auf die Ohren zu wuchten, auf dem neuen Longplayer „Not Ever“ sind derartig erhebende Momente im Auge des Sturms weitaus seltener, dafür lassen die fünf jungen Musiker aus Gent die Höllenhunde noch ein Stück weiter von der Leine und befreien die eigenen Dämonen mittels heftigstem Hardcore-Schreien des Frontmanns Nathan Vander Vaet, das keine Steigerung mehr zu kennen scheint hinsichtlich verzweifelter Hingabe und Urschrei-therapeutischem Herauskehren der inneren Pein, die von der Band nach allen Regeln der schwarzen Metaller-Kunst mit extremen Stakkato-Rhythmen und mächtigen Gitarren-Wänden in die stimmige tonale Form gebracht wird.
Melancholische Intervalle in ihrer Tarnung als instrumentale Postrock- und Progressive-Balladen mögen kurzfristige Ruhephasen und sporadische Komfortzonen bieten – sicheres Geleit geben und dauerhaften Schutz gewähren sie nicht vor den bereits wieder anrollenden Orkanen und Taifunen aus brüllenden Endzeit-Gesängen und donnerndem Mahlstrom. Hier arbeitet die Knochenmühle und der sich ins Hirn fräsende Irrsinn gründlich und ergiebig, einmal den point of no return überschritten, brechen alle Barrieren im Sog der lärmenden Messe, die auch in diesem schwarzen Gebräu aus vermeintlicher Destruktion, schwermütigem Niedergang und tiefster Innen-/Aussenwelt-Finsternis ein Funkeln erhabener Schönheit im Auge des Hurrikans aufscheinen lässt. „Not Ever“ wird am 2. November in der Heimatstadt der Band beim belgischen Postrock/Postmetal- und Experimentel-Label Consouling Sounds veröffentlicht.
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El Yunque – O Hi Mark (2018, Sentimental)
Und weil’s so schön war, gleich nochmal ab nach Belgien: Seit vergangener Woche ist das dritte Album der Formation El Yunque als limitiertes gelbes Vinyl, Tape oder Digital Download in den virtuellen Regalen zu finden, das flämische Experimental-Quartett aus Hasselt in der Provinz Limburg kündigte ihren Tonträger als Konzeptalbum (oder eben auch nicht) mit folgenden Worten an: „O Hi Mark is an album about the invasion of Normandy, social media, a Mongolian emperor and the worst movie ever made. Some might call it a conceptual record. Others might not. Anyways, the band wrote a manifesto about it“. In besagtem Manifest stellen El Yunque klar, dass sie keine Noiserock-Band sind und in welchem künstlerisch-visionären Kontext die Performance von „O Hi Mark“ (oder „EY3“, „Het Stabwaffer Kwartet“, „Josti Tosti and the Sandwichband“ und weiterer seltsamer Alternativ-Titel) zu verstehen ist, inklusive einer Liste an Empfehlungen von Schlagworten, die bei der Rezeption des Albums zu verwenden bzw. zu vermeiden wären. „Landung in der Normandie“ mag sich da beim Titel „Sword Beach“ noch unterbringen lassen, einer Elektro-Rhythmen getriebenen, artifiziellen und monoton vor sich hindräuenden Industrial-Nummer, die gegen Ende hin mit eine Prise Punk-Schärfe nachbrennt, mit der vorgeschlagenen referenziellen Bezugnahme zu King Elvis wird’s dann schon extrem eng, obwohl die sechs ausladenden Nummern des Werkes eine überaus Phantasie-anregende und Horizont-erweiternde Wundertüte an Postpunk-Beschallung bereithalten. Wer sich in den längst vergangenen Neue-Welle-Tagen des musikalischen Aufbruchs und der Dekonstruktion althergebrachter Muster, der Neudefinition von Sound and Vision etwa bei Formationen wie den Swell Maps, Cabaret Voltaire oder This Heat etwas mehr an Tanzboden-Tauglichkeit und breitgefächerter stilistischer Vielfalt, letztendlich einen Schuss mehr Pop-Appeal gewünscht hätte, bittschön, hier wäre der entsprechende Entwurf zu bestaunen. Dem Experimentieren mit kalten, futuristischen Sounds und dem Zusammenprall mit organischen, irgendwo noch geerdeten Indie-Entwürfen sind auf diesem Tonträger keine Grenzen gesetzt, die Band füllt den Spielraum auf der grünen Entwurf-Wiese ordentlich aus. Postpunk mit Trance-, Postrock-, Industrial- und Drone-Electronica-Einflüssen, getrieben von zumeist synthetischer, nervöser Taktgebung, ausgestaltet mit abstrakten Maschinen-Klängen mittels Synthie-/Sampling-Geschraube, erschöpfenden Spoken-Word-Tiraden und infiltriert von rudimentärer Neo-Space- und Wave-Pop-Melodik. „O Hi Mark“ ist am 12. Oktober beim belgischen Cassetten-Tape-Label Sentimental in Brüssel erschienen.
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Seit ihrer herausragenden Konzertreise im letzten Herbst fressen wir ihr sowieso aus der Hand, da verstummt in dem Fall dann auch gleich wieder das in misanthropischen Hintergedanken aufkeimende Gemotze von wegen „den Konsumenten das Geld aus der Tasche ziehen, hätte man bzw. Frau ja auch gleich im ersten Wurf mitliefern können, das Zeug“, aber bevor es jahrelang in irgendwelchen Archiven vor sich hin gammelt, kommt es im Zweifel dann doch lieber gleich ans Tageslicht, das fürs Erste liegengelassene Material aus den Aufnahme-Sessions zum letzten, überaus genehmen EMA-Tonträger „Exile In The Outer Ring“ aus dem vergangenen Jahr.
Erika Michelle Anderson hängt auf den Outtakes weiter konzeptionell – wie in dem Kontext kaum anders zu erwarten – ihren Gedanken über das Leben in den amerikanischen Suburbs nach, im geistigen wie realen Prekariats-Niemandsland zwischen weitläufiger Prärie und den teuren Innenstädten der US-Metropolen, inhaltlich/im Sanges-Vortrag zwischen unterschwelligem, forderndem Zorn und heiserer, resignierter Agonie zu gesellschaftlichen und weltpolitischen Themen wie Armut im Industriestaat, sozialen Handicaps bei der Job-Vergabe und der weltweiten atomaren Bedrohung Stellung nehmend, von dunkel funkelnden Synthie-/Elektro-/Indie-Pop-Sounds, hypnotischen Loops und maschinellen Beats umspült.
Allein die alternative Instrumental-Version von „Breathalyzer“ in der zweiten Hälfte des Tonträgers lohnt die Anschaffungskosten und verdrängt letztendlich die böswilligen Unterstellungen über fragwürdige Geschäftspraktiken/Release-Politik, der zwanzig-minütige Elektro-Noise-/Trance-Drone-Trip, den die Herren Vega und Rev zu ihren besten Suicide-Tagen schwer vermutlich auch kaum besser hinbekommen hätten, bläst die Resteverwertung dann doch zum Volle-Länge-Werk im unteren Laufzeiten-Bereich auf und damit wollen wir der Nummer dann auch unseren Segen geben.
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