Steve Gunn

Abgerechnet wird zum Schluss: Die Platten des Jahres 2019

Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum.
(Friedrich Nietzsche)

Zum Jahresende ein (sehr wahrscheinlich) letztes Mal, aus alter Gewohnheit, und um die Nummer hier zu einem halbwegs geschmeidigen Ende zu bringen: eine Kulturforum-Liste der Lieblings-Alben 2019, die Top 25 Longplayer, subjektiv, absolut unvollständig, in jedem Fall ergänzungswürdig, unfertig, ohne weitere Kommentare. Weil das Leben 2019 zu Teilen ein Irrtum war. Seit dem Spätsommer keine Platten-Besprechungen mehr in diesem Theater. Zeitmangel, dadurch bedingt fehlende Muse und zunehmend weniger Lust am Fabulieren. So manches Weitere wäre unbedingt erwähnenswert gewesen, das neue Großwerk der runderneuerten Swans, der aktuelle Output der grandiosen französischen Postrock-Experimentierer von Oiseaux-Tempête, die jüngste Song-Sammlung von Baby Kreuzberg, das exzellente Krautrock-Album „The Ground“ des Hamburger Quartetts Halma, mit „Odds Against Tomorrow“ ein weiteres Meisterwerk des US-Gitarristen Bill Orcutt, der zweite Wurf der Münchner Rembetiko-No-Waver The Grexits, um nur ein paar wenige, sträflich vernachlässigte Beispiele zu nennen. Es sollte nicht sein, und es wird wohl auch nicht mehr werden. Anyway, alles hat seine Zeit, und manchmal spielt die Musik eben wo anders…
Danke für’s Lesen, danke für’s Reinhören, alles Gute für 2020 und darüber hinaus.

(01) Matana Roberts – COIN COIN Chapter Four: Memphis (2019, Constellation Records)
(02) Chris Forsyth – All Time Present (2019, No Quarter)
(03) Alexander Tucker – Guild Of The Asbestos Weaver (2019, Thrill Jockey Records)
(04) Lonesome Shack – Desert Dreams (2019, Alive Naturalsound Records)
(05) Siskiyou – Not Somewhere (2019, Constellation Records)
(06) H – H (2019, Echokammer)
(07) Fly Pan Am – C’est ça (2019, Constellation Records)
(08) Barst – Re: Cycles (2019, Consouling Sounds)
(09) House And Land – Across The Field (2019, Thrill Jockey Records)
(10) Lungbutter – Honey (2019, Constellation Records)
(11) Ni – Pantophobie (2019, Dur et Doux)
(12) Trigger Cut – Buster (2019, Bandcamp)
(13) Träden – Träden (2018, Subliminal Sounds)
(14) Steve Gunn – The Unseen In Between (2019, Matador)
(15) Erlend Apneseth Trio with Frode Haltli – Salika, Molika (2019, Hubro)
(16) Ralph Heidel // Homo Ludens – Moments Of Resonance (2019, Kryptox Records)
(17) Deadbeat & Camara – Trinity Thirty (2019, Constellation Records)
(18) Dire Wolves – Grow Towards The Light (2019, Beyond Beyond Is Beyond Records)
(19) Oozing Wound – High Anxiety (2019, Thrill Jockey Records)
(20) Efrim Manuel Menuck & Kevin Doria – are SING SINCK, SING (2019, Constellation Records)
(21) Black To Comm – Seven Horses For Seven Kings (2019, Thrill Jockey Records)
(22) Radare – Der Endless Dream (2019, Golden Antenna Records)
(23) William Tyler – Goes West (2019, Merge Records)
(24) Endon – Boy Meets Girl (2019, Thrill Jockey Records)
(25) Mono – Nowhere Now Here (2019, Pelagic Records)

Werbung

Reingehört (510): Steve Gunn

You think your life is so empty but it’s really so full
All the things you never thought mattered
(John Cale, Where There’s A Will)

Steve Gunn – The Unseen In Between (2019, Matador)

In den letzten Jahren hat er mit seinen Solo-Arbeiten nicht als Veröffentlichungs-Weltmeister geglänzt, doch wenn er ablieferte, dann stets im Segment der gehobenen Qualität: „Brooklyn-based“ Songwriter und Ausnahmegitarrist Steve Gunn – mit den Appalachen-Traditionalisten von den Black Twig Pickers, in Experimental-Psychedelic-Kollaboration mit seinem langjährigen Kompagnon John Truscinski oder eben unter eigener Firma, wo Gunn draufsteht, ist erwartungsgemäß Erbauliches drin. Fügt sich bei seinem aktuellen, vor ein paar Wochen erschienen neuen Album „The Unseen In Between“ keinen Deut anders.
Seit seinem letzten Solo-Werk „Eyes On The Lines“ sind gut zweieinhalb Jahre ins Land gezogen, was Tiefenentspannung und völlig unaufgeregtes, unangestrengt virtuoses Songwriting wie Umsetzung in Sachen amerikanischer Folk- und Indie-Rock anbelangt, ist die Zeit am aktuellen Output von Steve Gunn weitestgehend spurlos vorübergegangen, Gottlob möchte man anmerken, eine willkommene Konstante in diesen wirren Tagen der Schnelllebigkeit.
Durch die neun Kompositionen weht oft mehr als nur ein Hauch von luftigem, wie locker aus dem Ärmel geschütteltem Psychedelic-Folk-Rock, der trotz seiner trügerischen Leichtigkeit nie den Tiefgang und die gewichtige Substanz dieser Americana-Perlen komplett zu verschleiern mag, dafür sorgt allein schon die auch für den Laien unverkennbare Könnerschaft des großen Gunn, explizit durch seine frei fließende, gleichsam in sich ruhende, behutsame Gitarren-Dominanz.
Die Nummer „Vagabond“ hat nichts weniger als Go-Betweens-Qualitäten, die Grant-McLennan-Abteilung, großartig melancholisch swingender Indie-/Country-Pop inklusive wunderschön verhallter Backing Vocals von Meg Baird und dezent singender Pedal-Steel-Gitarre, hätte in der Form ohne Zweifel auch der sonnigen „16 Lovers Lane“-Unbeschwertheit der hochverehrten Australier Ehre gemacht.
Die als Akustik-Ballade arrangierte Zuneigung zur zugelaufenen Katze „Luciano“ vermögen selbst die Streicher-Sätze nicht in die Niederungen des Kitsches zu ziehen, Steve Gunn erweist sich sich hier wie stets als Meister des Dezenten. „New Familiar“ glänzt mit dem vertrauten Cosmic-American-Flow, ein in Töne gegossenes Nachhause-Kommen und der Song für all jene, die von den Grateful Dead aus dieser Ecke sowieso schon alles kennen und eine runderneuerte, zeitlose Modernisierung des hypnotischen Frühsiebziger-Sounds mit offenen Armen willkommen heißen.
„The Unseen In Between“ ist Mitte Januar bei Matador Records in New York erschienen. Ein Album wie ein entspannter Tag ohne die großen Aufreger, ohne Gram und Hektik, der am Abend erfüllt Resümee ziehen und vor allem nichts vermissen lässt. „Heute ist ein guter Tag um zu sterben, denn alle Dinge meines Lebens sind anwesend“ hat einst ein weiser alter Native American tief zufrieden und zitier-tauglich zum Besten gegeben. Muss ja nicht gleich Exitus sein, morgen noch da sein ist auch sehr ok, und sei’s nur, um sich durch das reichhaltige, vor allem zutiefst bereichernde Steve-Gunn-Œuvre zu arbeiten…
(***** – ***** ½)

Reingehört (388): Gunn-Truscinski Duo

If I were forced to put what John and Steve play into a genre I would simply call it „music“. There’s a quality of timelessness to it without being nostalgic that is impossible to manufacture.
(Kim Gordon)

Gunn-Truscinski Duo – Bay Head (2017, Three Lobed Recordings)

Gibt eine Handvoll Musiker, denen kann man blind vertrauen. Der amerikanische Indie-Gitarrist Steve Gunn ist in jedem Fall so einer – ob mit modernem, unaufgeregtem Alternative-/Cosmic-American-Rock auf seinen Soloalben, im strengeren Country-/Bluegrass-Rahmen mit den Black Twig Pickers oder im Improvisations-artigen, freien Instrumentalflow wie auf der jüngsten Kollaboration mit dem Drummer und langjährigen Weggefährten John Truscinski, der in Brooklyn ansässige Ausnahmemusiker liefert permanent ohne Abstriche Qualität und Erbauliches.
Das Gunn-Truscinski Duo ist erstmals 2010 mit vier exzellenten Kompositionen auf der in Kleinstauflage limitierten „Sand City“-LP in Erscheinung getreten, seitdem sporadisch auf ein paar weiteren Tonträgern und zu konzertanten Zusammenkünften. Das Duo versteht sich blind im Entwickeln der einnehmenden Klangkonstrukte, oft kristallisiert sich in den einzelnen Werken aus eingangs abstraktem Ambient-Drone eine klare Struktur heraus durch Führung der Gitarre, die sich auf dem aktuellen Album in berauschender Psychedelic, ausladendem Cosmic-American-Höhenflug, filigranem Akustik-Gitarren-Gezupfe und arabisch-orientalischer Trance-Mystik ergeht, weitaus komplexer und vielfältiger, als man das gemeinhin von Duo-Aufnahmen erwarten darf. Sich wiederholende Melodien-Muster und die sich steigernde Intensität des Vortrags wie die stoisch-robuste Rhythmik erinnern an Genre-typische Elemente des Postrock, auch der hypnotische Charakter einiger Instrumental-Übungen des Albums passen dahingehend gut ins Bild, man täte dem Tonträger aber unrecht, ihn stilistisch auf eine einzige Spielart zu fixieren, eine reichhaltige Bandbreite an losgelöstem Blues, Gitarren-Jazz, Experiment, östlichen Anklängen und bewährten Rock-Riffs greift beim Zusammenspiel des Gunn-Truscinski Duo ineinander. Ray Manzarek von den Doors hatte in den Sechzigern Momente in seinem Orgelspiel, in dem er sich völlig in seiner Musik verlor, Steve Gunn tut es ihm dahingehend an der Gitarre auf „Bay Head“ wiederholte Male nach und präsentiert so die reine Schönheit seiner tonalen Kunst.
(*****)

Gunn-Truscinki Duo Live @ nyctaper.com.

Reingehört (179)

dylan_covered

V.A. – Mojo Presents: Blonde On Blonde Revisited (2016, Mojo Magazine)
„Blonde On Blonde“ vom Bob einmal von vorne bis hinten durchgecovert, gibt weiß Gott Schlimmeres, sowohl bezogen auf das Objekt der Verehrung als auch hinsichtlich des hier vorliegenden Interpretationsansatzes: Das einmal im Monat erscheinende britische MOJO-Magazin hat in der Juli-Ausgabe die Sammlung mit den Würdigungen des Dylan-Meilensteins aus dem Jahre 1966 als CD-Beilage dazugepackt, vierzehn MusikerInnen und Bands vorwiegend aus dem Indie-Bereich verneigen sich in chronologischer Reihenfolge zur Track-Liste der Original-LP in den jeweiligen Stücken vor His Bobness und einem seiner größten Würfe.
Auch wenn einige, wenige Nummern den Originalen nichts Weiteres an wesentlichen Aspekten hinzufügen, die Spannung überwiegt.
Schottlands Ex-Arab-Strap Malcom Middleton steigt mit einer kryptischen Elektro-Trance-Version von „Rainy Day Women #12 & 35“ in den Reigen ein, in der er in Symbiose zum musikalischen Ansatz vor allem auf der Textzeile „Everybody must get stoned“ herumreitet, My Darling Clementine folgen mit saumseeligem Country in „Pledging My Time“, der den Chicago-Blues des Originals ersetzt.
Steve Gunn glänzt in einer tiefenentspannten, nüchternen, formvollendeten Fassung des Dylan-Meisterwerks „Visions Of Johanna“, der Mann macht derzeit einfach alles richtig.
„One Of Us Must Know (Sooner Or Later)“ in der Version von Altmeister Chip Taylor kommt ohne den Drive der Vorlage aus und klingt so, wie Dylan geklungen hätte, wäre er Bill Fay gewesen (also noch einen Tick besser als er selbst ;-)).
Progressive-Jazz/Folk-Gitarrist Michael Chapman beeindruckt auf „Leopard-Skin Pill-Box Hat“ weit mehr durch seine Saiten-Künste als durch seine Gesangseinlagen und Kevin Morby erinnert in „Temporary Like Achilles“ mit seinem spartanischen Akustikgitarren-Anschlag und seinem reduzierten Gesang an den frühen Kaffeehaus-Dylan und kaum an die schwere, wuchtige Grundstimmung des Blonde-On-Blonde-Originals, sicher nicht der schlechteste Ansatz.
Wer die ultraflotte „Absolutely Sweet Marie“-Cowpunk-Version von Jason & The Scorchers kennt (oder ganz einfach das Bob-Original schätzt), könnte Verdauungsschwierigkeiten bei der Zuckerguss-getränkten, ätherischen Marrisa-Nadler-Version des Klassikers bekommen, nichtsdestotrotz ist der Nummer in ihrem Zuviel an Wohlklang ein gewisser atmosphärischer Glanz nicht abzusprechen.
Der stets sehr gute Riley Walker ist in „4th Time Around“ weit mehr Tim Buckley als Dylan, aber das ist er sowieso immer, und Experimental-Spezialist Jim O’Rourke beschränkt sich in seiner ansonsten wunderschön als Ballade vorgetragenen, weit über 13 Minuten langen Fassung von „Sad Eyed Lady Of The Lowlands“ zum Abschluss auf dezente Elektronik-Grundrauschen-Beigaben, mitnichten ein erwartetes Dylan-goes-Sonic-Youth-Feedback-Massaker.
Wer das MOJO-Magazin nicht am Kiosk seines Vertrauens vorfindet, schaut nach im Netz in Willard’s Wormholes, Beitrag vom 13. Juni 2016. Lohnt.
(****)

Reingehört (173)

STEVE GUNN + BAND Glockenbachwerkstatt München 2015-05-31

Steve Gunn – Eyes On The Lines (2016, Matador)
Das Objekt auf dem Cover könnte ein Fußball sein, wie passend dieser Tage. Auch ansonsten fast Mainstream für Gunn-Verhältnisse, was die Musik betrifft auf dem neuen Album, in jedem Fall dürfte der neue Output mit das Zugänglichste sein, was der in Brooklyn ansässige Meistergitarrist im Rahmen seines mittlerweile in den letzten zehn Jahren angesammelten, reichhaltigen Œu­v­res veröffentlicht hat.
Schwer Eindruck hinterlassen hat er im letzten Jahr bei seinem Auftritt in der Münchner Glockenbachwerkstatt, und das tut er auch auf ‚Eyes On The Lines‘, in neun neuen Stücken glänzt Steve Gunn mit Unterstützung von renommierten Musikern wie seiner letztjährigen Tour-Begleiterin Mary Lattimore und seinem langjährigen Duo-Partner John Truscinski in einer perfekt anmutenden Mixtur aus modernem Country-Rock und Grateful-Dead-artiger Cosmic-American-Music-Entspanntheit.
Frei fließend, unaufgeregt-unangestrengt, nahezu Jam-Session-artig, weitaus weniger meditativ als auf etlichen früheren Werken groovt sich Gunn durch staubtrockene, sonnige Wüstenlandschaften assoziierende Alternative-Country-Rock-Perlen, die neben ausgeprägter technischer Finessen von weitaus mehr als nur soliden Songwriter-Qualitäten zeugen.
Ein Album über das Reisen, die Veränderung, das Entdecken und das Verlieren, das mit jedem weiteren Hören seine Kraft zwar bedächtig, aber stetig mehr entfaltet und zunehmend reifer, atmosphärisch dichter klingt, ein untrügliches Indiz für bleibende Werte. Langsam kommen sie ans Tageslicht, die Tonträger, die das Musik-Jahr prägen und auch in Zukunft nichts von ihrem Potenzial einbüßen werden…
(*****)