Was aus der Nostalgie-Abteilung, nach dem Motto „Früher war alles besser, die Musik mutiger und wir selbst wilder & vor allem jünger“: Die Combo Große Freiheit wurde Anfang der Achtziger von den Hamburger Musikern Martin Georg Grunwaldt und Michael Wentzel gegründet, 1982 veröffentlichte das ZickZack-Label von Alfred Hilsberg ihre beiden Maxis/EPs „Piroschka“ und „Die Moschusfunktion“. Begriffe wie DIY oder LoFi geisterten zu jener Zeit noch nicht durch die Musikpresse, die Band bewegte sich auf diesem Level in einem Spannungsfeld zwischen experimentellem NDW-Elektro-Pop und Synthie-New-Wave. Auf „Die Moschusfunktion“ glänzt vor allem das Stück „Expressomaschine“, eine wunderbar gelungene und in der Form bis heute unerreichte Coverversion mit surrealem Text im Geiste des Elektro-Punk, das Original „Auf der Espresso-Maschine“ stammt vom Liedermacher, Rechtsanwalt und Alt-Kommunisten Franz Josef Degenhardt und findet sich auf seiner 1965er-LP „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“.
Von Große Freiheit war’s das dann auch schon mehr oder weniger mit Erwähnenswertem aus der Pop-Historie. Martin Grunwaldt trat in den späten Achtzigern mit dem Bassisten Johann Bley als Duo auf, neben zahlreichen Fernseh-Shows unter anderem im Vorprogramm der Red Hot Chili Peppers. Im Nachgang veröffentlichte Grunwaldt zwei Solo-Alben, das bis dato aktuellste erschien im Jahr 2001.
Im laufenden Jahr ließen Soul Grip bereits einmal aufhorchen mit mächtigem Lautmalen, im Juni haben die fünf jungen Mannen aus Gent mit den belgischen Landsleuten der Noise-Formation VVOVNDS eine gemeinsame Split-EP zum Record Store Day veröffentlicht, in naher Zukunft geben sie mit dem Longplayer „Not Ever“ weiteren Druck auf den Kessel. Der Band gelang seinerzeit auf der Extended-Play-Scheibe das Kunststück, mit „Dwaler“ eine trotz schwärzester Beigaben dauer-rotierende Postcore-/Black-Metal-Überwältigungs-Hymne als Sonnen-verdunkelnden Alternativ-Sommer-Hit für die geneigte Hörerschaft der härteren Gangart auf die Ohren zu wuchten, auf dem neuen Longplayer „Not Ever“ sind derartig erhebende Momente im Auge des Sturms weitaus seltener, dafür lassen die fünf jungen Musiker aus Gent die Höllenhunde noch ein Stück weiter von der Leine und befreien die eigenen Dämonen mittels heftigstem Hardcore-Schreien des Frontmanns Nathan Vander Vaet, das keine Steigerung mehr zu kennen scheint hinsichtlich verzweifelter Hingabe und Urschrei-therapeutischem Herauskehren der inneren Pein, die von der Band nach allen Regeln der schwarzen Metaller-Kunst mit extremen Stakkato-Rhythmen und mächtigen Gitarren-Wänden in die stimmige tonale Form gebracht wird.
Melancholische Intervalle in ihrer Tarnung als instrumentale Postrock- und Progressive-Balladen mögen kurzfristige Ruhephasen und sporadische Komfortzonen bieten – sicheres Geleit geben und dauerhaften Schutz gewähren sie nicht vor den bereits wieder anrollenden Orkanen und Taifunen aus brüllenden Endzeit-Gesängen und donnerndem Mahlstrom. Hier arbeitet die Knochenmühle und der sich ins Hirn fräsende Irrsinn gründlich und ergiebig, einmal den point of no return überschritten, brechen alle Barrieren im Sog der lärmenden Messe, die auch in diesem schwarzen Gebräu aus vermeintlicher Destruktion, schwermütigem Niedergang und tiefster Innen-/Aussenwelt-Finsternis ein Funkeln erhabener Schönheit im Auge des Hurrikans aufscheinen lässt. „Not Ever“ wird am 2. November in der Heimatstadt der Band beim belgischen Postrock/Postmetal- und Experimentel-Label Consouling Sounds veröffentlicht.
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El Yunque – O Hi Mark (2018, Sentimental)
Und weil’s so schön war, gleich nochmal ab nach Belgien: Seit vergangener Woche ist das dritte Album der Formation El Yunque als limitiertes gelbes Vinyl, Tape oder Digital Download in den virtuellen Regalen zu finden, das flämische Experimental-Quartett aus Hasselt in der Provinz Limburg kündigte ihren Tonträger als Konzeptalbum (oder eben auch nicht) mit folgenden Worten an: „O Hi Mark is an album about the invasion of Normandy, social media, a Mongolian emperor and the worst movie ever made. Some might call it a conceptual record. Others might not. Anyways, the band wrote a manifesto about it“. In besagtem Manifest stellen El Yunque klar, dass sie keine Noiserock-Band sind und in welchem künstlerisch-visionären Kontext die Performance von „O Hi Mark“ (oder „EY3“, „Het Stabwaffer Kwartet“, „Josti Tosti and the Sandwichband“ und weiterer seltsamer Alternativ-Titel) zu verstehen ist, inklusive einer Liste an Empfehlungen von Schlagworten, die bei der Rezeption des Albums zu verwenden bzw. zu vermeiden wären. „Landung in der Normandie“ mag sich da beim Titel „Sword Beach“ noch unterbringen lassen, einer Elektro-Rhythmen getriebenen, artifiziellen und monoton vor sich hindräuenden Industrial-Nummer, die gegen Ende hin mit eine Prise Punk-Schärfe nachbrennt, mit der vorgeschlagenen referenziellen Bezugnahme zu King Elvis wird’s dann schon extrem eng, obwohl die sechs ausladenden Nummern des Werkes eine überaus Phantasie-anregende und Horizont-erweiternde Wundertüte an Postpunk-Beschallung bereithalten. Wer sich in den längst vergangenen Neue-Welle-Tagen des musikalischen Aufbruchs und der Dekonstruktion althergebrachter Muster, der Neudefinition von Sound and Vision etwa bei Formationen wie den Swell Maps, Cabaret Voltaire oder This Heat etwas mehr an Tanzboden-Tauglichkeit und breitgefächerter stilistischer Vielfalt, letztendlich einen Schuss mehr Pop-Appeal gewünscht hätte, bittschön, hier wäre der entsprechende Entwurf zu bestaunen. Dem Experimentieren mit kalten, futuristischen Sounds und dem Zusammenprall mit organischen, irgendwo noch geerdeten Indie-Entwürfen sind auf diesem Tonträger keine Grenzen gesetzt, die Band füllt den Spielraum auf der grünen Entwurf-Wiese ordentlich aus. Postpunk mit Trance-, Postrock-, Industrial- und Drone-Electronica-Einflüssen, getrieben von zumeist synthetischer, nervöser Taktgebung, ausgestaltet mit abstrakten Maschinen-Klängen mittels Synthie-/Sampling-Geschraube, erschöpfenden Spoken-Word-Tiraden und infiltriert von rudimentärer Neo-Space- und Wave-Pop-Melodik. „O Hi Mark“ ist am 12. Oktober beim belgischen Cassetten-Tape-Label Sentimental in Brüssel erschienen.
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Phal:Angst – Phase IV (2018, Bloodshed666 Records)
„Bella gerant alii, tu felix Austria nube“ – bei der Vereinigung der Herrscherhäuser via Hochzeits-Sause bewiesen die Österreicher einst eine glückliche Hand, auch heute noch mag die ein oder andere wie auch immer geartete Fusion geschmeidig, gegenseitig befruchtend und Besitzstands-mehrend über die Bühne gehen – auch wenn hierzu kein Walzer getanzt wird, kann dieser Tage beim stilistischen Verheiraten von Electronica/Industrial und Postrock ein großer Wurf aus der Alpenrepublik vermeldet werden: Die Wiener Formation Phal:Angst ist seit Ende September in die „Phase IV“ ihrer auf Tonträger veröffentlichten Arbeiten eingetreten, mit den fünf ausgedehnt überwältigenden Sound-Exzessen, die sich alle um die zehn Minuten Laufzeit bewegen, plus zweier nicht minder exzellenter, etwas kürzer gehaltener Remixe liefert das Quartett aus der Donaumetropole knapp über eine Stunde eindringliche Experimental-Beschallung, die mit elektronischem Beat und Bass-lastiger Polterei zum Zucken im Club-Bunker einlädt und sich einhergehend als Klang-epischer Hörgenuss nachhaltig in die Hirnwindungen fräst.
Schneidende Postrock-Gitarren wagen eine ausgewogen gelungene Symbiose mit elektronischem Ambient, treibenden Trance-Flows, dunklen Industrial-Rhythmen und abstrakten Digital-Drones, man möchte fast zum Begriff „harmonisch“ neigen, wäre der Spirit des Albums nicht von einer zutiefst nachdenklichen, selten aufgehellten, tendenziell geradezu pessimistischen Grundstimmung durchdrungen. Der zusätzlich mit EBM- und Electro-Wave-, Kraut- und modernen Progressive-Elementen angereicherte, mit melancholischer, klagender Stimme besungene und durch ausgedehnte Spoken-Word-Samples unterlegte Stil-Mix entwickelt hypnotische Sog-Kraft, der sich schwer zu entziehen ist, der dunkle Flow arbeitet gründlich, die Grundmuster der Songs werden ergiebig, opulent ausstaffiert und permanent mutierend durchexerziert.
Der „Deadverse“-Remix der Nummer „Despair II“ des amerikanischen Experimental-Hip-Hopers Will Brooks aka MC Dälek nimmt sich durch flirrende, verhallte Postrock-Gitarren geradezu luftig aus im Kontext des Gesamtwerks, am kontrastreichsten wohl zum massiven, Endzeit-Visionen befeuernden Drone-/Industrial-/Doom-Schwergewicht „They Won’t Have To Burn The Books When Noone Reads Them Anyway“, das nicht nur im Titel Erinnerungen an finsterste Momente der deutsch-österreichischen Geschichte heraufbeschwört. Eine scharfe Anklage und offene Wunde, die in metallener Härte und ergreifender Spannung noch vom JK-Flesh-Remix von Justin Broadrick gesteigert wird, da haben sich die vier Wiener mit dem Godflesh-/Jesu-Multiinstrumentalisten und Industrial-Metal-/Experimental-Großmeister genau den richtigen Hawara für diesen Job angelacht, zentraler ins abgrundtief Schwarze hätten sie zu dieser Rekrutierung nicht mehr treffen können.
Auch wenn das Plattencover einen vernichtenden Absturz suggerieren mag, ist „Phase IV“ ein einziger, rauschhafter Höhenflug in Staunen machenden, selten hell, oft dunkel funkelnden Electro-/Postrock-Sphären, in einem musikalisch weit reichenden Kosmos etwa von Coil bis Russian Circles, um ein paar referenzielle Fixsterne ins Spiel zu bringen – oder wie der Wiener und auch die Wienerin immer so schön kurz und knapp anmerken: eh olles leiwand!
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