Tav Falco

Lorette Velvette & The Hellcats + Girl On Catfish @ Milla, München, 2018-07-05

Extrem Kontrast-reiches und vor allem in der Qualität extrem schwankendes Konzert-Doppelpack am vergangenen Donnerstag im Keller des Münchner Milla.
Den Auftakt bespielte die Formation Girl On Catfish, eine für das Vorprogramm eines Trash-Blues-Abends nicht zwingend erwartete Berliner/Bayerische Krautrock-All-Star-Combo. Dass eine preußisch-bajuwarische Zweck-Gemeinschaft auch weitaus harmonischer und gedeihlicher kooperieren kann als derzeit Angie & Vollhorst, stellten die Berliner Avantgarde-Komponistin und Sängerin/Pianistin Stepha Schweiger, der Moosburger Jazz-Drummer Mäx Huber und die beiden Oberpfälzer Noise-Gitarristen Manfred Schimchen und Joseph „Pepe“ Pöschl unter Beweis, letzteren kennt und schätzt man seit seiner Arbeit als Bassist bei der Regensburger Indie-Band Baby You Know, der auch Karin Bäumler angehörte, die Frau und Mitmusikerin von ex-Go-Betweens-Indie-Ikone Robert Forster, den Pöschl zu Gelegenheiten wiederholte Male auch live begleiten durfte.
Fernab vom australischen Indie-Folk begaben sich die Musiker am Donnerstag auf weitaus experimentellere Pfade, der anfangs latent befremdlich anmutende Vokalvortrag der Keyboarderin Stepha Schweiger fügte sich schnell und passend zu einer Handvoll ausgedehnter Progressive-, Frühsiebziger-Kraut- und Space-Improvisationen im freien und vor allem mitreißenden Fluss, lärmende, psychedelische und free-jazzende Versatzstücke formten sich für eine gute halbe Stunde zum schillernden Klangbild, das den Rahmen für die hypnotischen und spontanen Beschwörungen der Berliner Sängerin absteckte.
Hätte man geahnt, was in dieser Sommernacht an ausgewiesen Defizitärem noch anstehen sollte, wäre man gerne noch weitaus länger eingetaucht in den improvisatorischen Crossover-Fluss des Grenzen-austestenden Quartetts.

Lorette Velvette aus Memphis/Tennesse wurde in München schwer vermutlich erstmalig am 27. März 1987 in der Öffentlichkeit vorstellig, vor über dreißig Jahren schwang sie bei einem Konzert von Tav Falcos legendärer LoFi-Trash-Blues-Kapelle Panther Burns die Trommelstöcke im mittlerweile seit geraumer Zeit den Weg alles Irdischen gegangenen Alabamahallen-Café, später nahm sie Falco-Spezi und Memphis-Kult-Musiker Alex Chilton als Produzent ihres Debütalbums unter seine Fittiche, das Werk ist seinerzeit beim inzwischen aufgrund Firmenpleite in den Neunzigern auch längst in die Geschichte eingegangenen Münchner Label Veracity Records veröffentlicht worden. Übermäßiges Talent hinsichtlich instrumentaler Fertigkeiten konnte der guten Frau neben der Plattenfirma indes über die Jahre kaum verlustig gehen, bereits beim von limitiertem Können geprägten, nichtsdestotrotz schräg-schönen Konzert mit Gustavo Falco und seiner Truppe vor etlichen Dekaden und ihren später folgenden, anderweitig sehr passablen Solo-Tonträgern wie „White Birds“ und „Dream Hotel“ war offensichtlich, dass die Kunst der Lorette Velvette ihre Faszination aus anderen Quellen speist als ausgewiesen virtuosem und versiertem Können im Musizieren.
So wussten ihre eingangs am Donnerstag Abend angestimmten Trash-Rock’n’Roll-Polterer, schmissigen Sixties-Surf-Ohrwürmer, hingemeuchelten und sezierten Memphis-Blues-Zitate und Garagen-LoFi-Cowpunk-Heuler noch weithin leidlich zu gefallen, im Verbund mit Ehemann Alex Greene und den beiden Hellcats Misty White und Giovanna Pizzorno gab Velvette die Primitiv-Blues-Combo aus einem fiktiven David-Lynch-Film, circa die imaginäre Szene, in der eine vom Leben gezeichnete, weitgehend talentfreie und dementsprechend erfolglose Truppe vor einer Handvoll Alkoholiker im Hintergrund einer schummrigen Kaschemme in the middle of nowhere für ein paar Bier und eine feste Mahlzeit ihre schwer in Schieflage geratene Show abzieht. Der Spaß an dieser hinsichtlich musikalischer Finessen überschaubaren Freakshow kam spätestens an dem Punkt zum Stillstand, an dem die ihre Krampfadern zur Schau stellende Hellcat Misty zu ihren unsäglichen Bierzelt-Country-Schlagern und an musikalischer und inhaltlicher Belanglosigkeit nicht mehr zu unterbietenden Schrammel-Americana ansetzte. Mochte das permanente Geprolle und Gefeixe der stämmigen Hellcat-Gitarristin in der Konversation mit dem Publikum wenigstens noch für gefühlte fünf Minuten humorige Erheiterung hervorrufen, bevor es sich final für den Rest des Abends tot lief, so konnte der amateurhafte Hobby-Kapellen-Dilettantismus in Sachen amerikanische Cowboy-Musik zu keiner Sekunde seinen wo auch immer versteckten Zauber entfalten, bei derart stumpfen wie talentfreien Aufführungen, zu denen selbst ein ausgeprägtes Faible für das Schräge und Abseitige nicht mehr weiterhelfen mochte im Konzert-Goutieren, wurde offensichtlich, wie die amerikanische Cowboy-Musik bei Teilen der Musik-Konsumenten-Schar zu ihrem schlechten Ruf kam. Seine Heiligkeit John Carter Cash dürfte noch heute in den engen Grenzen seiner letzten Ruhestätte Propeller-artig rotieren, mit einmal im Grab-umdrehen war’s in dem Fall kaum getan…
Eine auf das Wesentliche beschränkte Schräg-Blues-Version Lorette Velvettes des Delta-Klassikers „Baby Please Don’t Go“ oder die beschwingten Vaudeville-Gesangseinlagen der italienischen Drummerin Giovanna mit der Fifties-Dalida-Schmonzette „Love In Portofino“ und der ramponierten Stehkneipen-Version des Leonard-Cohen-Songs „Dance Me To The End Of Love“ versuchten da zu retten, was noch zu retten war an dem Abend, viel genützt hat es nicht mehr, um die unsägliche Nummer noch zu einem halbwegs passablen Ende zu bringen.
Seltsam nur, dass ein zu Teilen versiertes Münchner Konzertgänger-Publikum sich bei derart musikalischer wie anderweitig Publikums-erheiternder Magerkost zu solchen Begeisterungsstürmen hinreißen ließ, bei relevanten Fundamentalisten-Fachmessen wie etwa dem Riegsee-Raut-Oak hätten’s in so einem Fall in Erwägung gezogen, Bierflaschen auf die Bühne hageln zu lassen, und es nur deshalb nicht in die Tat umgesetzt, weil Damen zugange waren. Weiß Gott nichts gegen kaputte Blues- und Country-Welten, Scheiß-Dir-nix-LoFi, stumpfes, mitunter sinnentleertes Trashen und rohes, auf ein paar Akkorde reduziertes Schrammeln, aber auch das muss man halt dann als eigene und beseelte Kunst aus dem Effeff beherrschen, siehe Koryphäen von Velvet Underground über Eugene Chadbourne und Daniel Johnston bis hin zu unserem ortsansässigen Kapellmeister G.Rag.
Hinsichtlich Hauptattraktion vom vergangenen Donnerstagabend im Münchner Glockenbachviertel-Club Milla bleibt nur die Aufforderung: Sehr verehrter Franz Münchinger, bitte übernehmen Sie die kurze Ansprache zum Schlusswort…

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Spitzenprodukte der Popularmusik (10): Alex Chilton – Like Flies On Sherbert

Moments later a man entered the dressing room and asked if he could borrow a guitar. „BORROW A GUITAR???!!! WELL, WHO THE FUCK ARE YOU???!!!“ Haynes screamed, eyes flashing in delirious anticipation of forthcoming violence.
But the man was totally unfazed.
„I’m Alex Chilton“, the man answered calmly.
Haynes was flabbergasted. After a long pause, he methodically opened the remaining guitar cases one by one and gestured at them as if to say, „Take anything you want.“
(Michael Azerrad, Our Band Could Be Your Life, Butthole Surfers)

Alex Chilton – Like Flies On Sherbert (1980, Aura Records)

The great, unparalleled LX Chilton: Die Replacements haben ihm mit „Alex Chilton“ auf dem von seinem Spezi James Luther Dickinson produzierten Band-Meilenstein „Pleased To Meet Me“ (1987, Sire) ein musikalisches Denkmal gesetzt, mit den Box Tops und dem von ihm im Alter von 16 Jahren gesungenen „The Letter“ hatte er 1967 in den USA und in Kanada einen Nummer-Eins-Hit, der ihm dank der fälligen Tantiemen bis weit in die Siebziger Drinks und Drogen finanzierte, mit der Band Big Star spielte er ab 1972 eine Handvoll Alben ein, über die sich die Pop-Welt bis heute nicht einig ist, ob es sich bei dem Material um rückwärts gewandtes Byrds-, Beatles- und Stones-Gedudel handelt oder um für den Alternative- und Indie-Rock späterer Dekaden richtungsweisenden Stoff, Bands wie die Bangles, die die Big-Star-Nummer „September Gurls“ in ihrer Interpretation bekannt machten, R.E.M., Teenage Fanclub oder die Posies (die mit Ken Stringfellow und Jon Auer zusammen mit Chilton an der Band-Reaktivierung 1993 maßgeblich beteiligt waren), tendieren eindeutig zu letzterer Lesart.
Ab den späten Siebzigern beschäftigte sich Chilton mit Soloaufnahmen, bereits sein 1979 veröffentlichtes Debütalbum erweist sich als Pop-historischer Volltreffer.

„Mein Gott, das klebt ja! Wie Fliegen auf Sorbet.“
(Tav Falco)

1978 und 1979 nimmt Alex Chilton in seiner Geburtsstadt Memphis/Tennessee bei Sam Phillips und in den Ardent Studios zusammen mit Co-Produzent James Luther Dickinson sein LoFi-Meisterwerk „Like Flies On Sherbert“ auf, das Album bezeichnet der Pop-Theoretiker Diedrich Diederichsen im Indie-Magazin Spex im Rahmen eines Chilton-Interviews Ende der Achtziger als eine der zehn besten Platten aller Zeiten. Eine Einschätzung, die von Kritikern bei Erscheinen des Werks größtenteils nicht geteilt wird, viele monieren vor allem den Amateur-haften Sound und das vermeintlich schlechte Abmischen der Stücke, was indes den Charme der Aufnahmen im Wesentlichen ausmacht.
Das von einer gespenstischen, verhallten Grundstimmung und einer gehörigen Prise schlampigem Garagen-Psycho-Geschrammel getragene Album eröffnet mit „Boogie Shoes“, einer trashigen, von wildem Piano-Gehacke geprägte Boogie-Bluesnummer, es folgt „My Rival“ mit Spielereien am Anfang von Dickinson mit der Bandgeschwindigkeit, der Trash-Faktor nimmt in diesem Rock-Stampfer im weiteren Verlauf zu und franst gegen Ende hinsichtlich überdrehtem Gitarren-Gefrickel völlig aus.
„Hey! Little Child“ stampft als Kleine-Mädels-Anmachnummer munter weiter, das Stück wurde später von Rowland S. Howard und weiteren Crime-And-The-City-Solution-Abtrünnigen auf dem These-Immortal-Souls-Debütalbum „Get Lost (Don’t Lie)“ gecovert, Jutta Koether hat den Titel in der Spex einmal – neben „Good Morning Little Schoolgirl“ – als einen der Top-Päderastensongs der Rockgeschichte schlechthin bezeichnet.

„Hook Or Crook“ bietet verhallten Psychedelic-Garagen-Rock, der sich im Stil von Sky Saxon und Roky Erickson an eine diffuse Desert-Blues-Ästhetik anlehnt, die Roy-Orbison-Nummer „I’ve Had It“ bringt Chilton als Rock’n’Roll-Bastard zum Mitwippen und -Summen, mit intensivem Gitarren- und Piano-Gehacke und einem abrupten Ende.
Bei „Rock Hard“ mischt sich das Trash-Gepolter mit einer gehörigen Prise Glam, die schmissige, sorglose Gary-Shelton-Komposition „Girl After Girl“ zelebrieren Chilton und Dickinson im Stil der großen, wilden Rock’n’Roll-Hochstapler der Fünfziger Jahre, „Waltz Across Texas“, im Original von Country-Pionier Ernest Tubb, ist eine – man ahnt es bereits am Titel – Country-Walzer-Landpartie mit verhallten Gitarren, billigen Mandolinen und leicht angetrunkenem Gesang, die sich im Abgang hinsichtlich Tempo, Mitschunkel-Faktor und durchgeknallter Sangeskunst noch steigert, der Cajun-Klassiker „Alligator Man“ kommt als bester Proto-Cowpunk/Southern-Gothic-Swampblues, im finalen Titelstück ziehen Chilton und Co alle Register in Richtung einer schrägen Mixtur aus Experiment-Country, Trash-Boogie, Glam-Rock im Stil von Roxy Music, Velvet Underground und experimentellen Minimoog-Pfeifgeräuschen, der Text enthält eine kurze deutsche Passage.
Die B-Seite der „Hey! Little Child“-Single, „No More The Moon Shines On Lorena“, hat es nicht auf das Aura-Records-Release des Meilensteins geschafft, der Country-Klassiker aus der Feder von Carter-Family-Gründer A.P. findet sich auf diversen CD-Wiederveröffentlichungen als Bonustrack sowie auf der 500er-Erstauflage des kleinen US-Labels Peabody.

„Like Flies On Sherbert“ is a ghastly despatch from the terminal zone, definitely weird, a deranged masterpiece.
(Allen Jones)

Ende Mai 1980 fliegt Chilton mit einem Pyjama-Oberteil bekleidet, ohne Geld und Gepäck nach London-Gatwick für einige gebuchte Gigs in der britischen Hauptstadt, die Behörden lassen ihn erst ins Land, nachdem Aura-Labelchef Aaron Sixx für ihn bürgt und persönlich dafür haftet, dass der amerikanische Musiker das Land nach den Konzerten umgehend wieder verlassen wird. Alex Chilton bestritt seine London-Konzerte mit einer zusammengeschusterten Band, mit der er zuvor noch nie gespielt hatte, Knox von den Vibrators sowie Matthew Seligman und Morris Windsor von der Robyn-Hitchcock-Combo The Soft Boys erweisen sich als relativ sattelfest hinsichtlich Box-Tops-, Big-Star- und Chilton-Solo-Material, am 28. Mai spielt das Quartett im Londoner Dingwalls das Album „Live In London“ ein, das Repertoire besteht aus etlichen „Like Flies On Sherbert“-Nummern, „Bangkok“, Chiltons Reminiszenz an den Punk jener Jahre, seinem Sixties-Hit „The Letter“, alten Big-Star-Nummern und dem Blues-Klassiker „Train Kept A-Rollin'“, ein für diese Umstände sehr passabler Konzertmitschnitt, immer vorausgesetzt, man steht auf diese Chilton-typische Schräglage.

Anfang der Achtziger produziert der Kult-Musiker den Trash-Garagen-Blues-Debüt-Meilenstein „Behind The Magnolia Curtain“ seines Kumpels Tav Falco und dessen Combo Panther Burns, Falco gab „Like Flies On Sherbert“ seinerzeit den Album-Titel, bereits ab 1979 betreut Alex Chilton die Aufnahmen der ersten beiden Cramps-Scheiben, auf die Psychobilly-Garagen-Trash-Legende um die unvergleichlichen Lux Interior und Poison Ivy wird er zufällig im New Yorker East-Village-Club CBGBs aufmerksam, die Legende will wissen, dass er ursprünglich nicht zwecks der Live-Acts dort war, sondern wegen der Freidrinks, die er am Tresen als verehrter Held der Punk-Generation wegpicheln darf.
Vom damaligen Cramps-Label I.R.S. sieht Alex Chilton keinen Cent für seine Produzententätigkeit, genauso wenig wie für die Veröffentlichung seiner „Singer Not The Song“-EP beim deutschen Line-Label, die Produzent Jon Tiven ohne sein Wissen autorisierte, über den I.R.S.-Chef und Police-Drummer-Bruder Miles Copeland und Tiven sagt Chilton später in einem Interview: „Das sind von allen Schweinen, die ich kennengelernt habe, die beiden, die ich gerne langsam zu Tode foltern lassen würde“.
In späteren Jahren plagt sich Alex Chilton weiter mit Plattenfirmen, Alkohol und anderen Substanzen, erreicht in Indie-Kreisen unangefochtenen Kultstar-Status, bespielt auch in unseren Breitengraden charmant-beseelte, mitunter schwer Blues-lastige Konzerte und bringt mit Werken wie „Bach’s Bottom“, „High Priest“, „A Man Called Destruction“, der „Black List“– und der „No Sex“-EP sporadisch hochanständige Alben mit seiner charakteristischen Spielart von R&B, Trash-Blues, Soul-Jazz, Surf-Rock und Alternative Country heraus, zusammen mit Suicide-Sänger Alan Vega und dem Songwriter Ben Vaughn produziert er 1997 mit „Cubist Blues“ ein weiteres Meisterwerk im Spannungsfeld zwischen Garagen-Blues-Trash und frei fließendem, minimalistischem Avantgarde-Rockabilly-Punk-Irrsinn. Der bayerische Pop-Journalist Karl Bruckmaier zählt das Werk in seinem lesenswerten Schmöker „Soundcheck“ zu seinen 101 wichtigsten Platten der Popgeschichte.

Alex Chilton ist im März 2010 in New Orleans an den Folgen eines Herzinfarkts gestorben. Er wurde 59 Jahre alt. In den Wochen vor seiner tödlichen Herzattacke klagte der Musiker über wiederholte Atemnot, er konnte sich aber wegen fehlender Krankenversicherung keine ärztlichen Untersuchungen leisten.

Spitzenprodukte der Popularmusik (9): Der Scheitel

KULTURFORUM Attwenger @ Herzkasperlzelt, Oktoberfest München, 2014-09-21 www.gerhardemmerkunst.wordpress.com (21)

“Diese Band ist nicht respektlos sondern gnadenlos… Eine Beschwörung der radikalen Traurigkeit im Schlager.”
(Die Presse, Wien)

“Links und rechts sind die Haare, aber der Scheitel selbst ist nichts. Eine Demarkationslinie zwischen Kläglichkeit und dem Erhabenen, dem Pathos.”
(Fritz Ostermayer)

Der Scheitel – …in einem Haus das Liebe heißt (1994, Guardian Angel)

Guter Vorsatz für’s neue Jahr: Wiederbelebung dieser Reihe zur Vorstellung popularmusikalischer Glanzleistungen, die Schätze längst vergangener Zeiten kommen im hektischen Alltags-Betrieb mit permanent reindrückender, frischer Ware oft viel zu kurz.

Im Jahr 1994 haben sich Geistesmenschen wie der begnadete österreichische Musik-Journalist und Radio-DJ Fritz Ostermayer, sein Journalisten-Spezi Christian Schachinger, der Wiener Künstler Michael Krupica oder der auch heute noch bei den Buben im Pelz und zwischenzeitlich bei der Combo Neigungsgruppe Sex, Gewalt und Gute Laune aktive Christian Fuchs zum einmalig auf Tonträger dokumentierten Projekt Der Scheitel zusammengetan, um unter Mithilfe namhafter Gaststars eine einzigartige Songsammlung aus Traditionals, gut abgehangenen Schlagern und ausgewählten Preziosen aus der weiten Welt der Pop-Musik im Geiste von Trash-Kitsch, Freddy Quinn, Johnny Cash und dem unvergleichlichen Helmut Qualtinger unters Volk zu bringen.
Es gibt Musiker, deren Kunst ist einfach Abgrund-tief schlecht, Stichwort/Beispiele George oder Jackson Michael, da ist kein Platz für Komplizen-haftes Augenzwinkern, keine satirisch-ironisch angedachte Fußnote, kein „Das ist so schlecht, dass es schon wieder gut ist“, einfach nur synthetischer Sondermüll, und es gibt auf der anderen Seite jene Musiker, die haben im Vortrag des Banalen, des Billigen, des Schlager-haften diesen aus dem Erreichen des Bodensatzes mitgenommenen Aufschwung – der ab dem durchwanderten Tiefpunkt nur noch steil nach oben zeigt – implizit in ihrer Interpretation verankert, eben jenes Geniale im an sich Befremdlichen, Abgeschmackten, Sentimental-Geschmacklosen, und in genau diese Kategorie fallen die fünfzehn Interpretationsansätze auf „…in einem Haus das Liebe heißt“, die Scheitel-Band covert sich in einer unnachahmlichen Mixtur aus rumpelndem Schlager-Kitsch, Alternative-Country-Schräglage inklusive maximal ausgereiztem Pedal-Steel-Schmelz, Tanzcombo-Hammondorgel-Beschallung, latent angesoffenem Bierzelt-Combo-Gepolter und einer gehörigen Portion Wiener Schmäh durch Schlager-/Traditional-Allgemeingut wie „Carrickfergus“, dem Roy-Black-Schmachtfetzen „Wahnsinn“ oder „Follow Me“ mit der Münchner Künstlerin und F.S.K.-Musikerin Michaela Melián in einer Gastrolle als Amanda Lear. In der Udo-Jürgens-Glanznummer „Es war ein Sommertraum“ kommt Tav Falco als Special Guest am Gesang zu seinem großen Auftritt (nicht der naheliegende Hansi-Hölzel-Falco, sondern tatsächlich Granate Gustavo, der zusammen mit seiner Combo Panther Burns 1982 mit „Behind the Magnolia Curtain“ seinen großen Trash-Blues-Moment hatte und der mit „Like Flies On Sherbert“ Alex Chilton’s Genre-Meisterwerk den Titel gab, im Übrigen auch ein paar Kandidaten für diese Rubrik).
„The Hate Inside“ vom australischen Beasts-Of-Bourbon-Meisterwerk „Sour Mash“ (1988, Red Eye Records) wird mit „Da Hoß in mia“ eingewienert, eine Steigerung hinsichtlich fatalistisch herausgerotztem Nihilismus in der Textzeile „Wenn da Hoß in mia moi aussekummt, dann gehst in Oasch, du gschissene Wööd“ ist schwer denkbar, weitaus mehr positiv besetzter Humor macht sich in der lässig-schrägen Country-Interpretation der Bowie-Nummer „Helden“ breit, und die Attwenger-Ballade „Summa“ bleibt auch in der Scheitel-Bearbeitung eine ergreifende Angelegenheit mit viel Akkordeon und Schmalz, die Musikanten Hans-Peter Falkner und Markus Binder von dene Attwenger revanchieren und bedanken sich postwendend durch Beitrag zum Traditional „Mariana“.
„Selten war traurig so lustig“ hat mal ein schlauer Mensch über die Musik der Dad Horse Experience verlautbaren lassen, für das erste und einzige Scheitel-Album trifft diese Einschätzung nicht minder zu. Alle, die früher regelmäßig die Ö3-Musicbox gehört haben, heute noch bei „Willkommen Österreich“ von Stermann & Grissemann vor der Glotze hängenbleiben, den „Herrn Karl“ auswendig runterbeten können, den deutschen Schlager der fünfziger bis siebziger Jahre in ihrer wahren Pracht erkennen oder einfach nur einen Funken Zuneigung für den abseitig-morbiden Humor der notorisch schlecht gelaunten Hälfte der Bevölkerung der schönen Stadt Wien haben, sollten mindestens einmal im Leben dem Scheitel ihr Gehör leihen, eh klar.
Das lange vergriffene Wunderwerk ist dankenswerterweise 2007 beim Münchner Trikont-Label wiederveröffentlicht worden, ein Hoch auf die Giesinger Independent-Bastion des guten Musikgeschmacks.
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