Techno

Reingehört (515): Deadbeat & Camara

Deadbeat & Camara – Trinity Thirty (2019, Constellation Records)

Die Vorgeschichte ist weitgehend bekannt: Im November 1987 spielten die Geschwister Timmins unter vorgeblich falscher Flagge als The Timmins Family Singers zusammen mit Basser Alan Anton in der Kirche der heiligen Dreifaltigkeit im kanadischen Toronto nicht die angekündigten Weihnachtslieder, stattdessen eine geplante Auswahl an Eigen- und Fremdwerken als Live-Mitschnitt ohne Publikum ein, aufgenommen mit rudimentärem Equipment und einem einzigen Mikrophon. Das Material erschien ein Jahr später unter dem Titel „The Trinity Session“ als zweites Album der Cowboy Junkies. Die im Nachgang weitgehend unbehandelten Aufnahmen bestachen durch den Engels-gleichen, reinen wie betörenden Gesang von Margo Timmins, der nicht von dieser Welt zu sein schien, und einen ultra-relaxten, entschleunigten Country-Blues-Sound, der vor allem von einer unerschütterlichen, inwendigen Ruhe und vom nachhallenden Klang der Instrumente umweht wurde, ein atmosphärischer und tatsächlich fast sakraler Klang, wie er wohl nur in weitläufigen Kirchen-Gemäuern einzufangen ist.
Als etwas verspätete Würdigung zum 30-jährigen Veröffentlichungs-Jubiläum des Achtziger-Jahre-Meilensteins mit dem unverkennbaren Sound erscheint Ende April „Trinity Thirty“, eine Co-Produktion von DJ und Minimal-Electronica-Klangforscher Scott Monteith aka Deadbeat zusammen mit der Ambient/Techno-Musikerin Fatima Camara, die beiden in Berlin ansässigen Kanadier sind erklärte Fans der „Trinity Session“ und zaubern auf ihrer Neuinterpretation mit filigraner Indie-Electronica und narkotischen Zeitlupen-Trips zwischen Ambient, Synthie-Drones und Experimental-Pop einen zeitgemäßen, modern renovierten Entwurf.
Scott Monteith wie auch Fatima Camara bringen zum ersten Mal ihre eigenen Sangeskünste auf einem Tonträger zum Vortrag, die Premiere wird von Caoimhe McAlister (→ Dear Reader) in den Harmonien unterstützt, in Summe schwebt ein ätherisches wie ästhetisch ansprechendes Hauchen durch die Slow-Motion-Klangsphären, dahingehend durchaus den Originalen vergleichbar wie ebenbürtig.
Die „Trinity“-Wiederaufbereitung ist für einen von elektronischen Spielereien, Verfremdungen und Samplings geprägten Entwurf überraschend Wärme spendend und emotional anrührend, kaum eine Spur von technischer Kälte, konstruierten Effekten oder verkopfter Distanz.
„Sweet Jane“, das seinerzeit herausragende Velvet-Underground-Cover im Interpretationsansatz der Cowboy Junkies, bleibt in der synthetisch behandelten Version erstaunlich blass, eine geradezu überflüssige weitere Auslegung dieser nicht eben selten zitierten Lou-Reed-Nummer, der weitaus größte Teil von „Trinity Thirty“ ist hingegen geprägt von digital exzellent umgesetzten Ideen, die den ursprünglichen Arbeiten viele neue Aspekte und den ein oder anderen Dreh in eine ungeahnte Richtung angedeihen lassen.
Deadbeat und Camara orientieren sich nicht sklavisch am Original, „I Don’t Get It“ und „Walkin‘ After Midnight“ wurden zum Medley verdichtet, die Abfolge der einzelnen Nummern abgewandelt und eine Handvoll an Titeln zur Extended Version im flächendeckenden Flow gedehnt.
Die elektronisch-experimentelle Tiefenentspannung aus dem Berliner Chez-Cherie-Studio überzeugt weit mehr als das eigene 2007er-Rework der Cowboy Junkies zum 20-jährigen, „Trinity Revisited“ fiel damals unter Beteiligung von Kollegen wie Natalie Merchant, Ryan Adams und dem leider viel zu früh dahingeschiedenen Vic Chesnutt dann doch eine Spur zu dick aufgetragen hinsichtlich Kitsch und Pathos aus.
„Trinity Thirty“ von Deatbeat & Camara erscheint am 26. April beim kanadischen Indie-Label Constellation Records.
(*****)

Reingehört (497): B / CHVE / Syndrome

B / CHVE / Syndrome – Reworks (2018, Consouling Sounds)

B wie Beats Per Minute, B wie Belgien, B wie Bert: Der flämische Sound-Tüftler Bert Libeert in seiner Inkarnation als Live-Techno-DJ B hat sich zweier ausgedehnter Solo-Arbeiten aus dem Dunstkreis des Künstler/Musiker-Kollektivs Church Of Ra zum gepflegten Remix angenommen, unter dem Motto „One Man Versus Four Machines“ erweitert er die Sound-Dimensionen und verändert die Charakteristika der Werke mithilfe zweier Synthies bzw. Drum-Maschinen. Die im Original vom getragenen, gleichförmigen Drehleier-Spiel dominierte Folk-Drone-/Ambient-Nummer „Rasa“ vom Solo-Projekt CHVE des Sängers Colin H. Van Eeckhout der Postmetal-Institution Amenra aus dem westflämischen Kortrijk und der gespenstische, diffuse Crossover-Flow aus artifiziellem Desert Blues, Postrock-Drones und dezent-dunkler Ambient-Electronica in „Forever And A Day“ aus dem Syndrome-Fundus seines Bandkollegen Mathieu Vandekerckhove, beides im Original jeweils ausgedehnte Kompositionen mit einer Länge um eine halbe Stunde, erfahren in der Libeert-Transformation eine mehrschichtige Bereicherung an Electronica-Samplings und synthetischer Rhythmik. Wo das ursprüngliche Material in seiner jeweils individuellen Ausgestaltung in düsterer, meditativer, mystischer Grundstimmung mit bezeichnender Church-Of-Ra-Schwergewichtigkeit seine Wirkung bis hinein in die hintersten, tiefsinnigsten Winkel des Gemüts entfaltet, verstärkt Klangforscher Libeert zum einen mit dunklen Basslinien den kontemplativen Flow und trimmt die Stücke darüber hinaus mit Variationen in der monotonen Taktgebung in Richtung Club-taugliche Tanzbarkeit. Der Trance- und Drone-lastige Ambient wird dank komplexer Maschinen-Samplings mit fundamentalem Industrial-Pochen und frei lichternden Darkwave- und EBM-Elementen verwoben und lässt die finsteren Impressionen damit zuweilen in freundlicheren, optimistisch gestimmteren Klangfarben leuchten.
Die „Reworks“ von B bringen die spirituellen, emotionalen Grenzerfahrungen der CHVE- und Syndrome-Soundscapes mit dem präzisen Pulsschlag des Old School Techno in Einklang, mehr Aufforderung zum Tanz und Nightclubbing-Spuk dürfte es bis dato nicht gegeben haben in den heiligen Hallen der Church Of Ra.
„Reworks“ ist Anfang November beim verehrungswürdigen Postrock/Postmetal/Experimental-Label Consouling Sounds im belgischen Gent erschienen.
(*****)

Reingehört (477): Petrolio

Petrolio – Intramoenia: Noises For Angela (2018, Low Noise Productions)

Das Noise-Projekt Petrolio ist ein Kind des Soundtüftlers Enrico Cerrato, der Musiker und Mixer aus der Piemont-Stadt Asti war/ist in diversen weiteren, vor allem im italienischen Musik-DIY-Underground bekannten Metal-, Industrial- und Jazz-Noise-Formationen wie Infection Code, Gabbiainferno und Moksa engagiert, umfängliche Erfahrungen, die er in die drei experimentellen Elektro-Noise-Entwürfe der EP „Intramoenia: Noises For Angela“ einfließen lässt, einer gut 18-minütigen klanglichen Untermalung für avantgardistische Theateraufführungen der Performerin Angela Teodorowsky.
Pochende Industrial-Kälte, verfremdete, verhallte, semi-melodische Synthie-Kraut-Mixturen, Sprach-Samplings, rudimentäre, vom Noise verdeckte Elektro-Pop-Elemente und synthetischer Trance-Flow greifen ineinander und verflechten sich zu einer komplexen Mixtur, die ein weites Klangfeld aufspannt von abstrakten Krach-Interferenzen und Strukturen-auflösenden Lärm-Soundwänden über den Ohren-schmeichelnden Wohlklang der italienischen Sprache in Spoken-Word-Beimischungen bis hin zu tanzbaren, mindestens zum Mitzucken animierenden Techno-/Industrial-Beats.
Trotz aller Künstlichkeit der abstrahierten Soundgebilde wirkt der Verbund der drei experimentellen Arbeiten wie ein natürlicher Organismus, der permanent mutiert und in der Weiterentwickelung immer neue Evolutionsformen annimmt. Die drei mittellangen Nummern funktionieren als stand-alone-Klanginstallation ordentlich und entfalten ihren ganzen Reiz vermutlich erst im multimedialen Kontext als Soundtrack zur zugedachten Bühnen-Performance der in der Widmung bedachten Angela.
(**** ½ – *****)

Santamuerte + Haikkonen @ Maj Musical Monday #85, Glockenbachwerkstatt, München, 2018-02-19

Die monatliche Reihe Maj Musical Monday für Postrock, Independent, Underground-Experiment und Multimedia-Präsentationen ging am Montagabend im Münchner Stadtteiltreff Glockenbachwerkstatt in die mittlerweile 11. Saison, allein dafür ein Hoch auf die Organisatoren Josip Pavlov, Chaspa Chaspo/Asmir Šabić und Co, für ihren ungebremsten Elan in Sachen Do-It-Yourself-Plattform für tonale und manchmal auch atonale Beschallung jenseits der ausgetretenen Mainstream-Pfade.

Für den Auftakt zur jüngsten Ausgabe der stets hochspannenden MMM-Serie engagierten die Veranstalter den ortsansässigen Musiker Sascha Saygin aka Haikkonen: Alleinunterhalter flutet den Raum via PC/Sequencer mit digitalen Samples und Loops und spielt dazu analoges Schlagzeug, das ist im Wesentlichen das Konzept des Münchners, und sowas kann im schlimmsten Fall schwer daneben gehen wie das Publikum in den Tiefschlaf langweilen, bei Haikkonen lösen sich derartige Bedenken noch nicht mal in Luft auf, weil sie erst gar nicht aufkommen wollen – der Musiker präsentierte einen explosiven Mix aus minimalistischen Elektro-Drones, Trance-artigen, repetitiven Schleifen und wummernden Synthetik-Beats aus der Dose, über den er im Live-Vortrag seinen wuchtigen Drum-Anschlag legte, ein treibender und druckvoller, beherzter wie technisch versierter Drive aus der Welt des Post-Hardcore, der das einnehmende Gesamtwerk zu einer eigenen musikalischen Sprache formte und damit den analog-digitalen Hybrid-Sound einer eindeutigen Kategorisierung entzog. Elemente des Industrial, des Techno und der EBM aus der Frühphase der Deutsch Amerikanischen Freundschaft fanden sich ebenso wie strammer Postpunk und Ausflüge hin zu progressiver Kraut- und Space-Electronica in der Rhythmus-dominierten Aufführung, die beim Publikum auf viel Gegenliebe und Mitzappeln stieß und dementsprechend vehementes Einfordern von Nachschlag zur Folge hatte. Keine Frage: Beim Sampeln und Trommeln alles richtig gemacht und das Publikum komfortabel mit auf die Reise genommen, die hiesige One-Man-Band mit dem finnischen Pseudonym.
(*****)

Aus den angenehmen mediterranen Temperaturen der apulischen Garage direkt hinein in den Frost des verschneiten bayerischen Winters, das zeugte von unerschütterlichem Idealismus und Brennen für die eigene Kunst, und verdiente damit höchsten Respekt: Das Trio Santamuerte aus dem süditalienischen Bari feierte als zweiter Act des launigen Abends neben der Wiedergeburt des voluminösen Zappa-Moustache die zahlreichen Spielarten des Trash-Rock’n’Roll, in klassischer Besetzung nahmen die Herren Panzo, Vido Pura Vida und J.J. Springfield vom Start weg keine Gefangenen, garnierten ihre selbstbetitelte Spielart der „Hawaiian Garage“ im oberen Tempo-Bereich mit schmissiger Direktheit, polternd-dröhnendem Bass, treibenden Drums, scheppernden Gitarren, leidenschaftlichen Gesängen und zitierten sich in einem wilden Ritt in psychedelischer Grundierung durch den Sixties-Surf-Sound, rumorenden Garagen-Rock, ungestümen Rhythm and Blues, Anlehnungen an das Frühwerk der britischen Heroen von den Pretty Things und den Who wie an das verzerrte Saiten-Anschlagen eines Link Wray oder den melodischen Jangle-Pop-Punk der Barracudas – ein unverstelltes Vergnügen für alle Freund_Innen des forsch zupackenden Rock-and-Roll-Undergrounds, dass den Spaß und das gefällige Mitwippen massiv förderte und das Verkopfte in der Musik ganz weit hinten anstellte. „Power-trio that combines the warm sounds of South America and the discomfort of noise rock“ kündigte sich das Gewerk der Italiener vollmundig an und hat ohne Abstriche Wort gehalten, in dieser Qualität darf das Jahr hinsichtlich dritter Montag im Monat in der „Glocke“ gerne so weitergehen.
(*****)

Die 86. Ausgabe des Maj Musical Monday widmet sich am 19. März in einem Special dem Augsburger Non-Profit-Experimental-Label Attenuation Circuit, und am 16. April wird John Dorr mit seiner Postrock-Band Stems im Rahmen der Veranstaltungsreihe in der Münchner Glockenbachwerkstatt zu Gast sein, man darf gespannt sein, Stems sind der britische Teil der französisch-englischen Kooperation The Chapel Of Exquises Ardents Pears, die hier bereits mit ihrer exzellenten Debüt-EP „TorqueMadra“ und ihrem letztjährigen Auftritt beim belgischen dunk!Festival zu Lobeshymnen hinrissen.