Top-Forty-Gigs 2019, Culture-Forum-Edition: die erinnerungswürdigsten, am längsten nachhallenden Konzerte des vergangenen Jahres, selbstredend wie immer rein subjektiv gewertet. Unterstützen Sie Ihre lokalen Festival- und Konzertveranstalter, knausern Sie nicht rum, wenn der Hut rumgeht, haben Sie im neuen Jahr 2020 bitte Spaß mit den MusikantInnen Ihres Vertrauens, zur Not auch für über 1000 Taler im VIP-Bereich des Stadions bei einem aufgewärmten Rock’n’Roll-Derivate-Scheißdreck wie Gewehre n‘ Rosen: Jeder nach seiner Fasson, the show must go on…
Toundra
Toundra @ Orangehouse, München, 2019-02-27
Im letzten Jahr umschifften sie im Rahmen ihrer Promo-Tour zum 2018er-Album „Vortex“ Münchens Gestade in einem großen Bogen, am vergangenen Mittwochabend war es dann knapp drei Jahre nach ihrem letzten Gig vor Ort in den Feierwerk-Gemäuern endlich wieder soweit: Die Compañeros der spanischen Postrock-Band Toundra machten dem Isardorf ihre Aufwartung zur nachträglichen Live-Präsentation des aktuellen Materials nebst einer Auswahl an älteren Instrumental-Perlen aus ihrem reichhaltigen Fundus.
Über den Kampf zum Spiel, ein passender Aufhänger für jeden dieser extrem engagierten Toundra-Auftritte, und damit wären die Madrilenen dann wohl eher Atlético als Real, um thematisch beim Fußball zu bleiben, wenn auch ihre Darbietung am Mittwoch gleichwohl königlich war und das Herz von Gitarrero Esteban Girón unübersehbar weit mehr für den FC St. Pauli schlägt, aber auch am Hamburger Millerntor ist die Tugend für beherzten Spiel-Einsatz ausgeprägt und geschätzt wie selten sonst wo im kickenden Liga-Betrieb. Die Leidenschaft und das Brennen für den eigenen Sound sind bei den Vieren von Toundra Qualitäten, die weder zu übersehen noch zu überhören sind, damit gestalten sich die Auftritte der Band in der Form bereits annähernd zu einzigartigen Ereignissen im weiten Feld des Postrock und seiner Metal-Abwandlungen.
Das Quartett war als Einheit wie stets von der ersten Sekunde an auf den Punkt präsent: wo andere Postrock-Bands introvertiert am Sound feilen, sich in endlosen Elegien verlieren und im langen Fluss mit der Intensität spielen, um irgendwann den „Wall Of Sound“ in den Raum zu stellen, lassen Toundra von den ersten Tönen an die massiv donnernden Springfluten über das Auditorium hinweg brechen und halten in ihrem gut achtzig-minütigen Set im weiteren Fortgang das Energie-Level auf beispiellos hohem Niveau, selbst in den spärlich vorgetragenen, Tempo-reduzierteren, kontemplativeren Momenten entfaltet die Formation aus der spanischen Hauptstadt weit mehr Druck als so manch artverwandte Combo in ihren vehementesten Ausbrüchen. Das unter Hochdruck arbeitende, Takt-gebende Duo mit Alberto Tocados am Bass und Álex Pérez an den Trommeln, Lead-Gitarrist David López, der mit filigranen wie gleichsam überwältigend dichten Soli den Toundra-Sound in erster Linie charakterisiert, und sein Pedant Esteban mit treibenden Rhythmus- und flirrenden Gitarren-Crescendi-Riffs kennen im Wesentlichen nur eine Richtung – die nach vorne drängende, weit raumgreifende, alles mitreißende. Bei Toundra geht es nie um das Postrock-typische, Ambient-affine meditative Versenken im Klangbild, die Band lebt den ungebändigten Geist des Rock’n’Roll und ist dementsprechend physisch aktiv im ruhelosen, von ungebremster Spielfreude getriebenen Ausleben der Emotionen, im Hineinschmeißen in die großen Rockstar-Posen und Punkrock-Gesten des Bühnen-Entertainments, im Anfixen des Publikums, das an dem Abend zu dieser extrovertierten Gangart Schritt hielt und für München-Verhältnisse geradezu enthusiastische Reaktionen auf das Anheizen der entfesselt aufspielenden Musikanten folgen ließ.
Hart zupackend im Anschlag, in hoher Schlagzahl die Tempi variierend, offenbaren die Vier aus Madrid daneben stets ein untrügliches Gespür für erbauende Melodien und auf die Spitze getriebene, ergreifende Hymnik, damit bleiben sie trotz nahezu völlig fehlender Melancholie- und Düster-Elemente doch weit mehr im klassischen Postrock-Lager verhaftet als in der Metal- und Hardcore-Variante des instrumentalen Genres, und damit werden sie im kommenden Sommer die zahlreichen Hard- und Heavy-Festivals nicht unwesentlich bereichern, zu denen die Band aufspielen wird.
Frenetischer Applaus war den Spaniern nach dieser tonalen Tour de Force gewiss, die gegenseitige Zuneigung zwischen Musikern und Publikum war förmlich greifbar, und einer stand da ganz besonders im Fokus: Nachdem er jetzt mit der Combo ganz dicke ist, findet das nächste München-Konzert bei Freund Anton im Wohnzimmer statt, Termin wird dann rechtzeitig für eine handverlesene Schar bekanntgegeben. In der Zwischenzeit wappnen wir uns schon mal vor dem Wehklagen der Nachbarschaft über das laute Sound-Gewitter und die bröckelnde Zimmerdecke in der Wohnung darunter, wenn Derwisch Estaban einmal mehr den doppelt eingesprungenen Townshend hinlegt… It’s only Postrock’n’Roll but we like it!
Toundra + Maudlin @ DOK, Gent, Belgien, 2018-05-09
Den diesjährigen Kulturforums-Betriebsausflug zum belgischen dunk!Festival weitaus entspannter als in den vergangenen Jahren angegangen und zur Entschleunigung bereits am Vortag angereist, stand der Aufenthalt vor dem dreitägigen Spektakel in der nahe gelegenen, altehrwürdigen und geschichtsträchtigen Stadt Gent bereits schwerpunktmäßig im Zeichen des Postrock, nebst der sich selbstredend anbietenden Besichtigung imposanter Bauwerke der ostflandrischen Provinz-Hauptstadt wie dem Schloss von Gerhard dem Teufel, der beeindruckenden St.-Bavo-Kathedrale als Hort des weltberühmten Genter Altars von Jan van Eyck, dem Belfried, der architektonisch imposanten Stadthalle und einem Stolpern über das alljährliche Street-Food-Festival, ging es am späten Nachmittag zur Privataudienz bei Consouling Sounds, der gute Mike Keirsbilck hatte die Pforten seines schönen Ladens und Label-Büros in der Baudelostraat am Mittwoch-Ruhetag extra für uns geöffnet und nebst einem netten Plausch ein Paket Promo-Material parat gehalten, die exzellenten, aktuellen Arbeiten von Barst und Inwolves sind hier bereits vor Kurzem zur Sprache und ausdrücklichen Belobigung gekommen, weitere demnächst anstehende Veröffentlichungen des kleinen, feinen Genter PR/PM/Experimental-Labels sollen beizeiten gewürdigt werden.
Und weil für die kommenden drei Tage nicht schon hinreichend genug tonale Beschallung an intensivem Gitarren-Rock mit und ohne Gesang angezeigt war, stand für das Abendprogramm ein Konzertbesuch zur Einstimmung auf die Festivitäten an, drängten sich doch hierfür die Madrilenen von Toundra im Rahmen des Gent-Zwischenstopps ihrer aktuell laufenden Tour zur Bewerbung des brandaktuellen „Vortex“-Tonträgers förmlich auf.
Austragungsort war das in Fußweg-Nähe zum Stadtzentrum gelegene DOK-Gelände, ein ehemaliges, alternativ genutztes Hafenareal am Achterdok-Kanal, dessen zentrale, überdachte, Außenwand-freie Lagerhalle Platz für mehrere hundert Besucher bietet, die fehlenden Wände wurden durch eine schwarze Abhängung ersetzt, was der Lokalität in ihrer zwitterhaften Aufmachung aus Open-Air-Gelände und Konzert-Club einen sehr speziellen, eigenen Charakter verleiht. In strengen Wintermonaten schwer vorstellbar eine heimelige Angelegenheit und dann wohl auch kaum genutzt, bot der alternativ-autonome DIY-Kunst-Freiraum an diesem lauen Frühsommer-Abend den idealen und überaus relaxten Rahmen für die Veranstaltung des ortsansässigen Muziekclub Democrazy, der zum Auftakt der konzertanten Beschallung die belgische Band Maudlin aus dem Seebad Oostende lud, das junge Quintett präsentierte in einem überaus gefälligen Warm-Up-Gig über gut 40 Minuten vorwiegend Material ihres Anfang März bei Consouling Sounds erschienenen Konzeptalbums „Sassuma Arnaa“ über die Tiefen des Ozeans, einer nicht zuletzt auch live gekonnt vorgetragenen Mixtur aus flirrender Psychedelic-Verschleierung und Desert-Rock-Mystik, beherztem Indie-/Alternative-Zupacken und schwerer Stoner-Wucht, die in ihren kompromisslosesten Ausprägungen gerne und wiederholt in metallene Prog- und Doom-Wucht abdriftete, es sich in bleierner wie komplexer Heavy-Gewichtigkeit wohl sein ließ und in den dunkelsten Momenten einen apokalyptisch beklemmenden Abgesang anstimmte, ein illusionsloses Lamentieren an einem Ort, der in seiner Funktion als Binnenhafen wohl schon bessere Zeiten gesehen hat und von dem der in der Nachbarschaft schwerst vor sich hin fluchende Schrottplatz-Betreiber vermutlich in naher Zukunft durch die Genter Gentrifizierungs-Maßnahmen vertrieben wird. Die Musikanten von Maudlin waren am Mittwoch mit ihrer Kunst in jedem Fall gut unterwegs wie einnehmend im Vortrag, in der Form darf man auf weitere Ausführungen gespannt sein und der Band die Daumen drücken, dass es sich dereinst ausgeht, mit einem höheren Bekanntheitsgrad über die Grenzen Flanderns hinaus.
Die vier Matadore von Toundra sind hinsichtlich Popularität über die iberischen Landesgrenzen hinaus bereits gut unterwegs, die Spanier haben schon vor zwei Jahren ihre Visitenkarte in heimischen Gefilden mit einem exzellenten Auftritt in der Münchner Kranhalle abgegeben, dementsprechend war die Vorfreude über die Gelegenheit zum Konzertbesuch fern der Heimat selbstredend groß, zumal die Band mit ihrer laufenden Tour einen großen Bogen um die bayerischen Gehöfte, Auen und Täler macht. Esteban Girón und Co sollten die Erwartungen dann auch nicht enttäuschen mit ihrem gut einstündigen, inoffiziellen dunk!-Einstimmen und ein Energie-geladenes, von schweren Gitarren, erhebenden Melodiebögen und vehementem Vorantreiben der instrumentalen Soundwellen dominiertes Set auf die Bühne der unkonventionellen Konzerthalle stellen, das sich in der Stücke-Auswahl neben einer Handvoll älterer Nummern naheliegend im Schwerpunkt den Werken vom jüngsten Album „Vortex“ widmete, überzeugende und ausladende Straight-Forward-Versionen von „Cobra“, „Touareg“, „Mojave“ und „Kingston Falls“, mit denen das Quartett aus Madrid einmal mehr unterstrich, womit es sich vor allem konzertant fundamental von artverwandten Instrumental-Bands unterscheidet: Wo sich die Brüder und Schwestern im Geiste gerne und oft introvertiert vor sich hinsinnierend der elegischen, ausladenden Schönheit des Musik-Genres widmen, geben die vier Mannen von Toundra die Rock’n’Roller des Postrock, eine keine Gefangenen nehmende, munter drauflos werkelnde Truppe mit dem Fokus auf das Wesentliche, auf Spaß am eigenen Schaffen und maximalstes Publikums-Entertainment, mit dem entsprechend energetischen, das Borstenvieh befreiendem Bühnengebaren. Der Auftritt wäre auch eine nicht zu knapp bemessene Bereicherung des 2018er-dunk!Fests gewesen, soviel darf an der Stelle bereits verraten werden, Tags zuvor in Gent ist er ohne Zweifel mit begrenzter Spieldauer viel zu kurz ausgefallen, das dankbare Publikum hungerte völlig zurecht nach weiteren Zugaben, die leider nur noch spärlich von der Band gewährt wurden, auch am Hafengelände wohnt wohl Nachbarschaft, die hinsichtlich Nachtruhe nach Halbelf keinen Spaß versteht, kennt man ja aus dem heimatlichen Isar-Dorf zur Genüge. Kann auch sein, dass der übellaunige Schrottplatz-Mensch keinen Postrock mag und mit Gabelstapler-Attacke drohte, wer weiß…
Gent war so oder so in jedem Fall einen Abstecher wert, Kultur-historisch, konzertant und nicht zuletzt zur Beziehungspflege zum Consouling-Label, wie auch das Abend-beschließende Schlendern über die illuminierte Belfortstraat und den Emile-Braun-Plein, wo das Genter Party-Volk in Massen unterstrich, dass der/die Belgier/in nicht nur den Postrock goutieren, Scooter-Hyper-Hyper und weitere Scheiß-Musik Hilfsausdrücke, wie Haas zu sagen pflegt, muss man nicht weiter erörtern… Nächste Ausfahrt E40/17 Wetteren → Zottegem.