US-Literatur

Reingelesen (74): Donald Ray Pollock – Die himmlische Tafel

„After Appomattox they were on the loosing side
So no amnesty was granted
And as outlaws they did ride
They rode against the railroads,
And they rode against the banks
And they rode against the governor
Never did they ask for a word of thanks“
(Warren Zevon, Frank and Jesse James)

Donald Ray Pollock – Die himmlische Tafel (2018, Heyne Hardcore)

Bereits mit den ersten Sätzen in Donald Ray Pollocks zweitem Roman „Die himmlische Tafel“ wird klar: Gemütlich wird’s sicher nicht in dieser Geschichte, und hinsichtlich erbaulicher, schöngeistiger Literatur wäre man bei vielen anderen Autoren als Leser_In gewiss weitaus besser aufgehoben, diejenigen jedoch, die sich vor einigen Jahren an „Das Handwerk des Teufels“ labten, dem Roman-Debüt des Autors, einem von psychopatischen Serienkillern, religiösen Fanatikern und korrupten Polizisten bevölkerten Southern-Gothic-Death-Metal-Grosswurf in Buchform, diejenigen werden auch am Zweitwerk des spätberufenen Krimi-Schreibers aus Ross County/Ohio ihre helle – oder vielmehr finstere – Freude haben.

„Von da ab, und das ist nun schon fast vierzehn Jahre her, hat er des Nachts seinen Kopf auf diesen Sack gebettet; er sollte ihn auch daran erinnern, dass nichts in diesem weltlichen Leben gewiss ist, nur der Tod.“
(Donald Ray Pollock, Die himmlische Tafel, Kapitel 3)

Die himmlische Tafel, das ist das mit Leckereien bestückte Buffet, an dem sich die geschundene Kreatur nach entbehrungsreichen Jahren und finalem Ableben endlich satt essen darf, und es ist das Sinnbild der Erlösung und anvisierte Ziel des bitterarmen Pachtfarmers Pearl Jewett und seiner drei Söhne Cane, Cob und Chimney, die in Georgia im Jahr des Herrn 1917 buchstäblich von der Hand in den Mund leben und der Laune eines Leute-schindenden Großgrundbesitzers ausgeliefert sind. Prekäre Verhältnisse, die andernorts zur selben Zeit eine bolschewistische Revolution auslösten, in den Südstaaten der US of A hingegen nach einer individuellen Outlaw-Nummer drängen, in einem Land, dessen Geschichte und Kultur im jungen 20. Jahrhundert geprägt ist vom noch nicht lange zurückliegenden Sezessions-Krieg, von Rassismus, Selbstjustiz und dem Recht des Stärkeren, in dem die individuellen Probleme bis zum heutigen Tag nicht zuletzt dank entsprechender Gesetzgebung und verfassungsmäßig garantierter Rechte bisweilen mit der Schnellfeuerwaffe im Anschlag geklärt werden, und das zum Zeitpunkt der Geschichte kurz vor dem Eintritt in den ersten Weltkrieg steht, wenn auch kaum einer der Roman-Protagonisten weiß, wo genau dieses ominöse Deutschland eigentlich sein soll, nicht zuletzt davon wird im weiteren Verlauf der Geschichte ausführlich die Rede sein.
Nachdem der Altvordere völlig ausgezehrt das Zeitliche segnet, befreien sich die jungen Jewett-Hinterwäldler aus der kargen Lohnsklaverei, plündern und morden sich mittels gestohlener Waffen und Pferde durch Feudalherren-Farmen, Banken und Laden-Lokale in Richtung kanadische Grenze – „Shoot Your Way To Freedom“, wie Grant Hart, Gott hab ihn selig, vor Jahrzehnten so anarchistisch wunderbar einen seiner Songs betitelte.

„Er liebte es, so lange gegen sie zu sticheln, bis sie etwas Dummes sagten oder nach ihm ausholten, damit er eine Ausrede hatte, sie in die Hintergasse zu zerren und sie durchzuprügeln; viele Jahre lang hatte ihm das genügt.“
(Donald Ray Pollock, Die himmlische Tafel, Kapitel 12)

Auf ihrer Schleifspur der Gewalt begegnen die Jewetts so manchem Zeitgenossen, der entweder selbst vom Schicksal über Gebühr gebeutelt wurde oder in seinen charakterlichen Ausprägungen, Abarten und Obsessionen jeder besseren Freak-Show zur Ehre gereicht hätte, hier überzeichnet Pollock seine Figuren ab und an gehörig über Gebühr, dem Unterhaltungswert der finsteren Moritat tut es indes kaum Abbruch, wenn Serien-killende, psychopathische Gastronomen, professionelle Latrinen-Entleerer, minderjährige Prostituierte, schwule Offiziers-Anwärter oder der Farmer Ellsworth Fiddler als weiterer Hauptdarsteller des Romans den Weg der Bande kreuzen. Für den einfältigen Landwirt und seine Frau, die ihr gesamtes Erspartes an einen Trickbetrüger und den einzigen Sohn vermeintlich an die Armee und tatsächlich an den Alkohol verloren, gerät das Einlassen mit den White-Trash-Amateur-Gangstern unverhofft zum persönlichen Segen, der die prekäre Misere des hart arbeitenden Ehepaaars beendet.
Die großen Experten sind die Jewett-Brüder weder beim Ausrauben noch beim Flucht-Organisieren, jeder der drei frönt weitaus lieber seinen präferierten Gelüsten, der Älteste als einziger des Lesens Befähigter seinem Hang zur Literatur, wobei ihm die Auseinandersetzung mit Shakespeare oder einem Groschenroman einerlei ist, von den beiden Analphabeten-Brüdern der Ältere der Weiberei, der Jüngere der Völlerei, wer weiß schon, ob die Nummer mit der himmlischen Tafel am Ende nicht ein Luftschloss ist, da haut man sich den Wanst bei Gelegenheit schon mal im Diesseits ordentlich voll, vom Rumhuren des anderen Experten ganz zu schweigen.
Der Mensch denkt, Gott lenkt, und so ist es ausgerechnet der Junior mit dem offensichtlich kleinsten Spatzenhirn, der halbwegs unbeschadet aus der Nummer herauskommt und weiter von der Öffentlichkeit unbemerkt sein Dasein fristen darf, für viele andere Hauptdarsteller endet die Geschichte so, wie sie in den Erzählungen bei Pollock gerne endet: mit durchsiebten Eingeweiden, vor dem Henker, mit abgetrennten Gliedmaßen, einsam wie Vince Vaughn im Abgesang der zweiten „True Detective“-Staffel in der Einsamkeit der Prärie vor sich hin verreckend oder publikumswirksam vom Arm des Gesetztes zur Strecke gebracht.
Das harte Leben im Pollock-Roman ist ausweglos und brutal, ein irdisches Jammertal, in dem das Schicksal letztendlich nur fatalistisch angenommen werden kann, weil ein Dagegen-Ankämpfen kaum der Mühe wert ist und letztendlich zu keiner versöhnlichen Auflösung führt.

„Obwohl Homer in nahezu jeder Hinsicht unfähig war, hatte er zumindest gelernt, dass das Beste, was ein Politiker tun konnte, um zu überleben, darin bestand, absolut nichts zu tun.“
(Donald Ray Pollock, Die himmlische Tafel, Kapitel 22)

In den Rahmen des klassischen Kriminalromans mögen die 430 Seiten nicht passen, die Geschichte ist weitaus mehr Sozialstudie und Sittenbild, in der der tägliche Kampf ums Überleben, soziale Ausgrenzung und Bildungsmangel, sadistische Gewalt, Totschlag und andere Verbrechen allgegenwärtig sind. Was den harten Broterwerb anbelangt, davon weiß Pollock dank eigener Vita, wovon er spricht. Bevor 2008 sein erster Erzählband „Knockemstiff“ erschien, verdiente sich der Autor jahrzehntelang den Lebensunterhalt als Lastwagenfahrer und Arbeiter in einer Fleischfabrik.
Die nüchterne, illusionslose Sprache, die kaum Hoffnung aufkeimen und diese dann sicher wie das Amen in der Kirche zum Ende sterben lässt, mit der Pollock seine rabenschwarze, düstere Geschichte im „Handwerk des Teufels“ erzählt, diesen Slang lässt der zweite Roman-Wurf weitgehend vermissen, der Autor schlägt hier wiederholt den Sound der Groteske, der Satire und der keineswegs unfreiwilligen Komik an, was der exzellent erzählten, prallen Geschichte hinsichtlich Unterhaltungswert sicher nicht abträglich ist, das Buch aber um ein Alleinstellungsmerkmal beraubt und es in eine Reihe mit den ausgesucht schrägen, schwarzhumorigen, Gewalt-triefenden Trash-Splatter-Spätwestern wie „Das Dickicht“ oder „Kahlschlag“ von Joe R. Lansdale und die historischen, satirischen Antihelden-Romane von T. C. Boyle stellt, selbstredend beileibe nicht die schlechtesten Referenzen für dieses literarische Horror-Panoptikum. Und wer einst bei Paul Newman und Robert Redford im Geiste mitrannte und mit den beiden in ihren Rollen als Butch Cassidy und The Sundance Kid den Gesetzeshütern, Militärs und Kopfgeldjägern zu entfleuchen trachtete, wird an dieser Geschichte sowieso wenig zu bemäkeln haben.

Die amerikanische Originalausgabe ist 2016 unter dem Titel „The Heavenly Table“ beim Verlag Doubleday in New York erschienen. Im selben Jahr wurde auch die gebundene deutsche Erstausgabe in der Münchner Verlagsbuchhandlung Liebeskind publiziert. 2017 zeichneten die Juroren „Die himmlische Tafel“ mit dem ersten Platz des Deutschen Krimi-Preises in der internationalen Kategorie aus.

Donald Ray Pollock wurde 1954 in Knockemstiff/Ross County im US-Bundesstaat Ohio geboren, die Ortschaft, die seiner ersten Kurzgeschichten-Sammlung den Namen gab, ist heute eine entvölkerte Geisterstadt. Im Alter von 45 Jahren reichte Pollock seine erste Short Story bei einer Zeitschrift für englische Literatur an der Ohio State University ein, woraufhin ihn eine Herausgeberin des Blattes zum Studium für kreatives Schreiben an der Hochschule überredete.
Die New York Times veröffentlichte während der US-Präsidentschaftswahl 2008 regelmäßig seine Reportagen zum Wahlkampf in Ohio. Neben dem Deutschen Krimi-Preis wurden seine Arbeiten mit diversen renommierten Literatur-Auszeichnungen in Frankreich und den Vereinigten Staaten geehrt.

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Reingelesen (71): Colum McCann – Die große Welt

I bought Philippe Petit a round
And asked what his high wire was for
He said „I put one foot out on the wire,
One foot straight into heaven“
As the prophets entered boldly into the bar
On the Boeing 737, Lord, on the Boeing 737
(The Low Anthem, Boeing 737)

Colum McCann – Die große Welt (2009, Rowohlt)

Am Morgen des 7. August 1974 landete der französische Hochseil-Artist Philippe Petit in New York „le coup“, wie er seine Aktion selbst bezeichnete, 400 Meter über dem Grund wanderte, sprang und tanzte er mit einer 8 Meter langen Balancierstange ausgestattet eine dreiviertel Stunde lang auf einem von ihm gespannten Drahtseil zwischen den Zwillings-Türmen des World Trade Center und hielt damit die Passanten, Anwohner und Sicherheitskräfte in Downtown Manhattan in Atem.

„Er war in seinem Körper und zugleich außerhalb von ihm und genoss, was es hieß, der Luft zugehörig zu sein: ohne Zukunft, ohne Vergangenheit, und das verlieh seinem Gang diese schlendernde Lässigkeit. Er trug sein Leben von einer Seite zur anderen. Auf der Suche nach dem Moment, in dem er sich nicht einmal mehr seines Atems bewusst war.“
(Colum McCann, Die große Welt, Lasst die große Welt sich drehen)

In seinem als Allegorie auf die 9/11-Ereignisse gedeuteten Roman nimmt der irisch-stämmige Autor Colum McCann die spektakuläre Aktion Petits als Aufhänger und buchstäblich über allem schwebende thematische Klammer für zwölf ineinander verwobene Geschichten einzelner Protagonisten, deren Schicksale an diesem speziellen Tag durch richtungsweisende, einschneidende Ereignisse geprägt werden.

Nicht für alle im Roman auftretenden Figuren laufen die Geschicke in diesen Sommertagen im Big Apple aufsehenerregend, geplant und mit glücklichem Ausgang wie für den Seiltänzer, alle porträtierten Figuren nehmen die artistische Sensation auf die ein oder andere Weise wahr, manche am Rande aus den Radio-Nachrichten ohne weitere Bedeutung für die eigene Existenz, andere werden im Nachgang Teil der spektakulären Geschichte, für manche endet der Tag in einer persönlichen Katastrophe oder – bedingt durch den „Simple Twist Of Fate“ – in einer neuen Ausrichtung des Lebens.
Der Roman versucht darüber hinaus auf einer eigenen Ebene die großen Themen der US-amerikanischen Geschichte jener Zeit zu umreißen, Vietnam, Rassismus, die ersten Zuckungen des Computer-Zeitalters, hinsichtlich politischer Weltbühne bleibt aus dieser Zeit im Sommer des Jahres 1974 vor allem ein Ereignis im kollektiven Gedächtnis präsent: Zwei Tage nach der Aktion von Petit trat Richard Nixon im Zuge der Watergate-Affäre als US-Präsident zurück und kam so dem drohenden Amtsenthebungsverfahren zuvor, der Roman streift auch dieses einschneidende Ereignis der jüngeren amerikanischen Geschichte und reflektiert die ablehnende Haltung und schwindende Unterstützung in der Bevölkerung für den republikanischen Amtsinhaber, zu viel Zweifelhaftes in Form von Abhörskandalen, eigenmächtig angeordneten Kambodscha-Bombardements während des Vietnam-Kriegs und Manipulationen im Vorfeld der Wahlkämpfe hat sich auf dem Negativ-Konto des umstrittenen Präsidenten gesammelt. Der tiefe Fall von „Tricky Dick“ fügt sich nahtlos in das komplexe Bild menschlicher Tragödien, in denen sich das Schicksal demokratisch nicht um Ober- oder Unterschicht-Zugehörigkeit schert und so in allen Teilen der Gesellschaft zuschlägt.
Im Zentrum der Romanhandlung steht eine Handvoll Menschen, die aufgrund ihrer Sozialisation und ihrer gesellschaftlichen Stellung im Sinne des klassischen Schichten-Musters wenige bis keine Berührungspunkte und gemeinsame Interessen haben, auf die ein oder andere Art kreuzen sich ihre Lebenswege jedoch und nehmen so Einfluss auf weitere Entwicklungen, im letzten Kapitel des Buches wird abschließend der sprichwörtliche Flügelschlag des Schmetterlings aus längst vergangenen Zeiten thematisiert, der exemplarisch den Weg einer jungen Frau aus der nächsten Generation der Roman-Protagonisten lenkt.
Eine der im Mittelpunkt stehenden Figuren ist der irisch-stämmige Priester Corrigan, der bereits in jungen Jahren auf der grünen Insel im alten Europa eine besondere Form des Altruismus entwickelt und sich einfühlend bis zur Selbstverleugnung um die Alkoholiker seines Heimatorts annimmt – ein Radikal-Christ im Geiste der von der katholischen Kirche wie von marxistischen Ideen geprägten Befreiungstheologen, der sich im New York der Siebziger in der Bronx wiederfindet und sich dort um die Untersten in der sozialen Hierarchie kümmert, Prostituierte, Zuhälter, Drogensüchtige, eine kurze, unkonventionelle und allen Geboten des Zölibats zuwiderlaufende Affäre des Geistlichen mit einer Krankenschwester aus Lateinamerika fügt sich dahingehend exemplarisch in die Thematik der ungewöhnlichen Beziehungen.
Dafür steht auch die Figur der gebildeten Afro-Amerikanerin Gloria aus der Nachbarschaft des Priesters, eine Nachfahrin von Südstaaten-Sklaven, die Opern liebt, sich im weitern Verlauf des Romans um die Kinder einer verunglückten Prostituierten annimmt und einer Selbsthilfe-Gruppe von Müttern angehört, die ihre Söhne im Vietnam-Krieg verloren haben. In dem Zusammenhang lernt sie die reiche Park-Avenue-Gattin eines jüdischen Richters näher kennen, eine weitere Hauptdarstellerin in diesem Panoptikum seelisch Verwundeter, auch das eine Konstellation, die hinsichtlich sozialer Konventionen fernab des Vietnam-Traumas in der Form kaum denkbar, hier aber mit ihren entsprechenden Komplikationen, Verwerfungen und konträren Lebenswelten thematisiert wird. Der erwähnte Richter wird im Übrigen im Laufe der Geschichte über das Strafmaß für den Seiltänzer Petit wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses und über die Strafanstalt-Einweisung einer der Prostituierten-Freundinnen des Priesters entscheiden, Querverbindungen im Roman auf allen Ebenen.

„Sie nimmt einen weiteren tiefen Zug und behält den Rauch lange in der Lunge – sie hat irgendwo gehört, dass Zigaretten gut sind, wenn man traurig ist. Ein tiefer Zug, und man vergisst zu weinen. Der Körper ist zu sehr mit dem Gift beschäftigt. Kein Wunder, dass die Soldaten sie umsonst bekommen haben. Lucky Strikes.“
(Colum McCann, Die große Welt, Miró, Miró an der Wand)

Ob der literarische Drahtseilakt McCanns im erzählenden Verweben divergierender Existenzen gelungen ist, mag nicht zuletzt von der emotionalen Kitsch-Toleranz der Leserschaft abhängen, obwohl im Wesentlichen eine gut geschriebene und flüssig zu lesende Geschichte – vor allem in den Dialogen – wird die Grenze zur sentimentalen Gefühlsduselei ab und an angetestet, wenn nicht sporadisch überschritten. Mindestens dezent in Zweifel darf auch gezogen werden, ob die bedeutungsschwangere Suche des Autors nach dem Sinn selbst in der größten Katastrophe stets zu befriedigenden und abschließenden Antworten führt, der Romancier zieht sich im Nachwort zum Buch dabei elegant aus der Affäre: „Die Literatur erinnert uns daran, dass nicht alles im Leben bereits aufgeschrieben ist: Es gibt noch viele Geschichten, die erzählt werden müssen.“ 
McCann darf aber attestiert werden, dass er seine Figuren zwar nicht gänzlich Klischee-befreit, so doch einfühlsam, unvoreingenommen und ohne formelhafte Vorurteile konzipiert und so einen individuell geprägten Blickwinkel der einzelnen Akteure nachzeichnet.
Für New-York-Besucher ist es in jedem Fall eine lohnende Lektüre, zeigt der Roman doch eine Welthauptstadt, wie sie heute, bedingt durch voranschreitende Gentrifizierung und die nachwirkende Zero-Tolerance-Politik der Giuliani-Ära in der Kriminalitäts-Bekämpfung, längst nicht mehr existiert.

„Sie fand schon immer, dass das eins von den Dingen ist, die New Yorks Schönheit ausmachen: Man kann von irgendwoher in die Stadt kommen und im Nu ein Gefühl von Vertrautheit haben.“
(Colum McCann, Die große Welt, Seewärts brüllend, und ich geh‘)

Colum McCann wurde 1965 in Dublin geboren. Seit Mitte der Neunziger lebt er mit seiner Frau und drei Kindern in New York. Ab 1994 veröffentlichte er Erzählungen und Romane, zuvor war er als Journalist tätig. Seine Prosa wurde in 35 Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen prämiert. Für „Let The Great World Spin“ („Die große Welt“) erhielt er 2009 den National Book Award.
Der Roman wurde im selben Jahr vom New Yorker Songwriter Joe Hurley in Zusammenarbeit mit dem Autor für das Album The House the Horse Built (Let The Great World Spin)“ vertont. An den Aufnahmen waren bekannte Musiker wie Tony Shanahan von der Patti Smith Band, Chieftains-Chef Paddy Moloney, Indie-Größe Don Fleming und der ehemalige Mink-DeVille-Keyboarder Kenny Margolis beteiligt.

Reingelesen (67): Willy Vlautin – Lean On Pete

Del starte das Pferd an, dann bückte er sich und fuhr mit den Händen Petes Vorderlauf ab. „Tja“, sagte er, und man sah, dass seine Laune mit jeder Sekunde schlechter wurde.
Dann richtete er sich wieder auf. „Wenn ich eine Knarre hätte, würde ich ihn gleich hier erschießen.“
„Wenn ich eine hätte, würde ich mich selber umlegen“, sagte Harry und sah aus, als müsste er gleich kotzen.
(Willy Vlautin, Lean On Pete, 10)

Willy Vlautin – Lean On Pete (2010, Berlin Verlag)

Berühmte Romane über die Nöte der Jugend in der Adoleszenz gibt es in der US-Literatur einige, die Bücherregale dieser Welt sind gut bestückt mit den Schilderungen der Irrungen und Wirrungen eines Huckleberry Finn oder eines Holden Caulfield. Wo der Roman Mark Twains über die Abenteuer eines Waisen am Mississippi zwar satirische und gesellschaftskritische Anmerkungen zu Rassismus und Sklaverei enthält, aber letztendlich doch eine romantisch verklärte Abenteuergeschichte für den lesenden Nachwuchs bleibt, und wo Salingers „Fänger im Roggen“ den Weltschmerz und die Ablehnung der verlogenen Erwachsenen-Welt des 16-jährigen Holden umfänglich seziert, der Anti-Held im Kult-Buch aber trotz aller für ihn in diesem Lebensabschnitt widrigen Umstände durch seine New Yorker Upper-Class-Familie sozial abgesichert und geborgen bleibt, schildert Autor und Alternative-Country-Songwriter Willy Vlautin in seinem dritten Roman „Lean On Pete“ die Geschichte des jugendlichen Charley Thompson aus der Perspektive des „White Trash“, der Trailerparks, der Sozialbau-Siedlungen, aus dem Blickwinkel des Amerika der abgehängten Arbeiterklasse, der Alkoholiker und der zwielichtigen Pferderennbahn-Zocker, von einer Warte aus, die keinen Platz lässt für die verklärte Romantik und die atmosphärische Mystik der amerikanischen Landschaft am Rande des Highway, wo sich die Lebensumstände prekär und die Zukunftsaussichten düster darstellen.
Wie bereits im Roman „Northline“ mit der jungen, alkoholkranken Allison Johnson als Protagonistin skizziert Vlautin in „Lean On Pete“ freudlose und widrige Verhältnisse, in denen sich der junge Roman-Held Charley zurecht finden muss. Durch den Umzug in eine Wohnwagen-Siedlung in Portland losgelöst aus dem gewohnten sozialen Umfeld, der Altvordere oft tagelang von der Bildfläche zwecks Schürzenjägerei verschwunden, von Hunger und Geldmangel zum Essen-Klauen im Supermarkt getrieben – auf sich alleine gestellt ist der Heranwachsende gezwungen, sein tägliches Überleben zu meistern. Bedingt durch einen familiären Schicksalsschlag verschlechtert sich seine Situation unvermittelt, der Job als Tagelöhner auf der Rennbahn beim charakterlich zweifelhaften Rennpferde-Besitzer Del Montgomery bringt dahingehend wenig Entlastung. So, wie Allison Johnson in „Northline“ ihren vordergründig rettenden Anker in den fiktiven Dialogen mit dem von ihr verehrten Schauspieler Paul Newman findet, so sind die einseitigen inneren Monologe mit dem Rennpferd „Lean On Pete“ aus dem Stall Montgomerys der einzige Trost im tristen Überlebenskampf des jungen Charley. Als sich das Pferd bei einem Rennen ernsthaft am Lauf verletzt und der launische wie zwielichtige Stallbesitzer infolgedessen seinen Verkauf an den Abdecker verkündet, brechen bei dem Jungen alle Dämme. In einer Nacht- und Nebelaktion bricht er mit dem Pferd zu dessen Errettung auf zu seinem persönlichen Road Trip, auf der Suche nach seiner Tante, seiner letzten vertrauenswürdigen Bezugsperson, begegnet er neben einem völlig verkorksten Sektierer, versoffenen Indianern und anderen fragwürdigen Zeitgenossen am Straßenrand der großen amerikanischen Highways auch hilfsbereiten Truckern und Sheriffs, die ihre schützende Hand über den Jungen halten.

Man möchte verzweifeln am Umstand, wie der Autor im Roman dem Schicksal freie Hand lässt, seinem jugendlichen Protagonisten übel mitzuspielen, und doch offenbart Vlautin zum Roman-Ausklang Mitgefühl für seine Figur, die Geschichte hält im Open-End-Schluss einen guten Ausgang für den jungen Charley bereit, weitere detaillierte Ausführungen hierzu wären mindestens so verwerflich wie das Agieren mancher charakterlich verkommener Akteure aus dem Romanpersonal. Darum: selber lesen, lohnt.

Der Roman thematisiert die Motive der großen Jugendromane wie das Unterwegssein der bis heute zu Teilen nicht sesshaften amerikanischen Einwanderungsgesellschaft und deren soziale und ökonomische Verwerfungen. Wem beim Lesen auch Kerouac und sein Beat-Manifest „On The Road“ in den Sinn kommt, liegt selbstredend nicht komplett falsch. Die große Stärke des Romans ist das völlige Fehlen von falschen Sentimentalitäten, von gezierten Gefühlsduseleien. Die Schilderungen sind nüchtern, im echten Leben verhaftet, wie in „Northline“ ist Vlautins Gespür für literarischen Realismus herausragend. Das Weglassen spektakulärer Effekthascherei führt umso mehr zu berührender Lektüre, die Leserschaft kann sich unverstellt der eigenen Ergriffenheit stellen, ohne diese peinlich angetan in Frage stellen zu müssen, vermutlich der größte Verdienst der Erzählung.

„Ich wollte dir nur etwas sagen.“
„Was?“
„Wenn du mich in einer Woche oder so nicht mehr magst, kannst du mich rauswerfen.“
„Ich werfe dich nicht raus.“
„Aber wenn doch, musst du deshalb keine Schuldgefühle haben.“
„Ist gut“, sagte sie.
(Willy Vlautin, Lean On Pete, 30)

„Lean On Pete“ ist in diesem Jahr vom englischen Regisseur Andrew Haigh mit dem US-Nachwuchsschauspieler Charlie Plummer in der Hauptrolle und Stars wie Chloë Sevigny und dem großartigen Steve Buscemi verfilmt worden. Die Premierevorstellung der Literatur-Adaption lief Anfang des Monats bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig, das Roadmovie-Drama soll im Februar 2018 in die Programmkinos kommen.

Der Autor Willy Vlautin wurde 1967 in Reno/Nevada geboren, er hat bisher vier Romane veröffentlicht, die alle auch ins Deutsche übersetzt wurden. Seine literarischen Einflüsse benennt er selbst mit US-Autoren wie John Steinbeck, Raymond Carver, William Kennedy und dem im vergangenen Sommer verstorbenen Sam Shepard.
Neben seiner Beschäftigung als Schriftsteller ist Vlautin seit über 20 Jahren als Sänger, Gitarrist und Songschreiber der amerikanischen Alternative-Country-Band Richmond Fontaine unterwegs.

Reingelesen (63): Richard Ford – Kanada

„Ich weiß nur, dass man bessere Chancen in seinem Leben hat – bessere Überlebenschancen – wenn man gut mit Verlusten umgehen kann; wenn man es schafft, darüber nicht zum Zyniker zu werden.“
(Richard Ford, Kanada, Teil Drei, Kapitel 68)

Richard Ford – Kanada (2014, Deutscher Taschenbuch Verlag)

„Es gibt Kinder, die kommen ohne Schutzengel auf d‘ Welt, und der Sandmann haut ihnen Reißnägel in d‘ Augen, unterm Christbaum liegt jedes Jahr ein Packerl Tränen als Geschenk, und ein Märchenbuch, wo der Teufel immer gwinnt“ textet der österreichische Song-Poet Ludwig Hirsch auf seinem Debüt-Album „Dunkelgraue Lieder“ im Stück „Der blade Bua“, Down South Bavaria würde man zu derart prekären Lebenslagen kurz und knapp den Spruch „Der Teufel scheißt immer auf den gleichen Haufen“ zum Besten geben, beides bringt damit drastisch und überzeichnet auf den Punkt, wovon auch der Erzähler Dell Parsons im Roman „Kanada“ von Richard Ford ein Lied zu singen weiß.

Das Schicksal meint es nicht gut mit dem 15-jährigen Dell und seiner Zwillingsschwester Berner. 1960 lassen sich die Parsons in Montana nieder, der Altvordere Bev, Südstaatler mit Kopf in den Wolken, ex-Militär und gescheiterter Auto- und Immobilien-Händler, macht krumme Geschäfte mit den Indianern, wird von ihnen massiv bedroht und beschließt zusammen mit seiner Frau, zwecks Schulden-Tilgung eine Bank im Nachbar-Staat zu überfallen. Die Parsons führen eine unglückliche Ehe, Neeva, die Mutter der Zwillinge, entstammt einem jüdischen, intellektuellen Osteuropäer-Haushalt, eine feingeistige Künstler-Natur, da bleiben zwei über viele Jahre zusammen, die nicht zusammenpassen, warum Mrs. Parsons dem Gatten treu bleibt und später den Bankraub trotz besseren Wissens und moralischer Skrupel mitplant und begleitet, bleibt unklar, ein ausgeprägter Hang zum Fatalismus schwingt hier unverholen mit.
Wie nicht anders zu erwarten bei kriminellem Handeln von Dilettanten floppt der Bankraub, kurz nach der Erbeutung einer Handvoll Dollar stehen die Ermittlungsbeamten vor der Haustür, das Paar geht ins Gefängnis und die Familie hat aufgehört zu existieren. Die jugendlichen Zwillinge stehen in ihrer unendlichen Verlorenheit, Desillusionierung und Traurigkeit vor dem Scherbenhaufen ihrer Träume und Zukunftspläne, nach einem letzten Besuch bei den inhaftierten Eltern verschwindet Schwester Berner kurz darauf auf eigene Faust nach Kalifornien und führt ab dann ein unstetes Hippie-Leben inklusive etlichen gescheiterten Beziehungen und Problemen mit diversen Substanzen, man wird im weiteren Verlauf des Romans sporadisch von ihr hören.
Der Erzähler Dell entzieht sich der staatlichen Aufsicht des Staates Montana und wird von einer Freundin der Mutter illegal über die Grenze nach Kanada gebracht, wo sie den Jungen bei ihrem exzentrischen, politisch radikalisierten, wegen diverser Kapitalverbrechen aus den Staaten geflohenen Bruder unterbringt, einem Hotelier mit denkbar zweifelhaftem Ruf, hier fristet der junge Dell sein Dasein in einem Nest auf dem Land, das bessere Zeiten gesehen hat, im Ungefähren ohne jegliche konkreten Zukunftspläne. Er besucht keine Schule, ist der Gesellschaft zwielichtiger Zeitgenossen ausgesetzt und verdingt sich mit einfachen Arbeiten im Hotelbetrieb, ein täglich wiederkehrender, nach Auflösung schreiender Albtraum. Die Kindheit ist endgültig zu Ende, als der Junge Zeuge eines Doppelmordes wird, den der Erzähler bereits auf der ersten Seite des Romans ankündigt: „Zuerst will ich von dem Raubüberfall erzählen, den meine Eltern begangen haben. Dann von den Morden, die sich später ereignet haben.“
Das illusionslose Ankommen in der Realität der Erwachsenen, das Erkennen der Kausalität zwischen Tat und Schuld, es ist eine harte, radikale und schnelle Lektion, die dem ohne jeglichen geistigen und materiellen Halt in den Weiten Kanadas verlorenen Jungen widerfährt – im letzten Teil des Romans geschildert aus der Perspektive des inzwischen 65 Jahre alten, verheirateten Dell Parsons, der am Ende seines Berufslebens als Lehrer für Literatur angekommen ist, und der letztendlich seinen Werdegang und die eigene Bildung in die Hand nahm, aber selbst nach einem halben Jahrhundert nur rudimentär erklären kann, warum ihm das Schicksal in jungen Jahren derart übel mitgespielt hat, eine Metapher über die nicht zu lösenden Grundfragen des Lebens. Der Versuch, das nicht Beeinflussbare in seiner Sinnhaftigkeit zu durchdringen, muss letztendlich für den Romanhelden scheitern, auch wenn er es zu erklären versucht: „Das Vorspiel zu schrecklichen Ereignissen kann lächerlich sein, ganz wie Charley gesagt hatte, aber auch beiläufig und unauffällig. Es lohnt sich, das zu erkennen, den es zeigt den Ursprung vieler schrecklicher Ereignisse an: einen Zentimeter vom Alltag entfernt“. Immerhin gelingt es dem Protagonisten, bedingt durch Verlust und persönliche Rückschläge, die Notwendigkeit für den Blick in die Zukunft und den Drang nach Veränderung zu erkennen, ein Funken Optimismus in einer im Grundton trostlosen und verstörenden Geschichte.

„Es gibt zwei Arten von Menschen auf der Welt, verkündete Mildred. Na ja, eigentlich gibt es ganz viele Arten. Aber mindestens zwei. Erst mal diejenigen, die begreifen, dass man es nie weiß; und dann diejenigen, die meinen, man wüsste es immer. Ich gehöre zur ersten Gruppe. Ist sicherer.“
(Richard Ford, Kanada, Teil 2, Kapitel 39)

Es geht im 460-Seiten-Werk vordergründig um Bankraub und Mord, die beiden einschneidenden Ereignisse in dieser Erzählung, aber „Kanada“ ist weit von einem Spannungs- oder Kriminal-Roman entfernt. Richard Ford erzählt im Stil eines klassischen Entwicklungsromans mit der ihm eigenen, sämtliche Aspekte ausformulierenden, stetig-ruhigen Diktion, mit feingliedrigen Charakterstudien des handelnden Personals, einfach, unverstellt und ohne Schnörkel, das mag dem ungeübten Ford-Leser mitunter ermüdend und langatmig erscheinen und ist doch große Literatur, die den Zeitgeist und vor allem die Hektik der immer schnelllebigeren Entwicklungen im sozialen, politischen und technischen Umfeld völlig ausblendet – eine in Text gegossene Oase der Sorgfalt und ausführliche thematische Erörterung, man möchte es fast eine Meditation über die Sinnhaftigkeit der Fügung nennen.
„Zuweilen werden wir erst dann richtig erwachsen, wenn wir einen einschneidenden Verlust erlitten haben, so dass unser Leben uns gewissermaßen einholt und wie eine Welle über uns hinwegspült und alles mit sich reißt“, hat Richard Ford bereits 1986 in seinem ersten Roman „Der Sportreporter“ aus der Frank-Bascombe-Reihe geschrieben, ein Gedankengang, den er in „Kanada“ in ausführlicher und anregender Form wieder aufnimmt.

Richard Ford wurde 1944 in Jackson/Mississippi geboren, einer breiten Leserschaft bekannt geworden ist er vor allem durch die oben erwähnte Roman-Reihe über den Sportreporter und späteren Immobilienmakler Frank Bascombe. In den sechziger Jahren studierte er an der University of California, wo er unter anderem Vorlesungen der Schriftsteller E. L. Doctorow und Oakley Hall hörte.
Sein Werk wurde mit zahlreichen renommierten Literaturpreisen ausgezeichnet, der Nobelpreis war bisher nicht dabei, aber der ist seit der letztjährigen Lachnummer mit dem Bänkelsänger bis auf weiteres auch nicht mehr erstrebenswert.

Reingelesen (43)

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„Nein, wenn sie einem Mann einen Schlag versetzen wollen, mussten sie etwas haben, was sicherer und präziser als ein Hammer war. Und da entschieden sie sich für elektrischen Strom.“
„Mein Gott, haben die sich nicht überlegt, was das für Schaden anrichten kann? Hat die Öffentlichkeit nicht dagegen protestiert?“
„Ich glaube, Sie verstehen nicht richtig, worum es der Öffentlichkeit geht, mein Freund. Wenn in diesem Land etwas nicht in Ordnung ist, dann ist die schnellste Lösung immer die beste.“
(Ken Kesey, Einer flog über das Kuckucksnest, Zweiter Teil)

Ken Kesey – Einer flog über das Kuckucksnest (1985, Zweitausendeins)

Kesey Revisited, Teil 1: Einer der wichtigsten amerikanischen Romane des 20. Jahrhunderts hat auch nach weit über 50 Jahren seit Erstveröffentlichung nichts an gesellschaftskritischer Brisanz verloren, er funktioniert nach wie vor als gewichtiges Plädoyer für die Freiheit des Individuums und als Statement gegen die Überwachung und Reglementierung durch Institutionen und staatliche Apparate. Die Geschichte von der psychiatrischen Anstalt, der dort diktierenden und manipulierenden – an Orwell angelehnten – „Großen Schwester“ Mildred Ratched und ihrem Widersacher, dem gegen das System aufbegehrenden, zwangseingewiesenen Strafgefangenen Randle Patrick McMurphy ist ein Drama, das sich wie jede gute Erzählung in mehreren Ebenen entfaltet.

Zum einen ist es die Biografie des Ich-erzählenden Halbindianers Chief Bromden, der den Prozess seiner eigenen, isolierten Passivität und sein Zurückfinden in das gesellschaftliche Leben dokumentiert, ergänzend hierzu bekommt der Leser im Nebenstrang ein Gespür für die Entmündigung der US-amerikanischen Ureinwohner Mitte des 20. Jahrhunderts vermittelt.
Die vom dominierenden realistischen Erzählstil abgehobenen Schilderungen von Wahrnehmungen unter Einfluss von Psychopharmaka verleihen dem Roman ein psychedelisches Element, Kesey ließ hier seine Erfahrungen aus dem CIA-Forschungsprogramm MKULTRA über die Möglichkeiten von Bewusstseinskontrolle durch Verabreichung von halluzinogenen Drogen einfließen, an dem er Ende der fünfziger Jahre freiwillig teilnahm, wie seine Inspiration für den Roman durch seine Tätigkeit als Aushilfe in der psychiatrischen Abteilung des kalifornischen Veterans Hospital Menlo Park verleihen diese persönlichen Eindrücke dem Werk die entsprechende Glaubwürdigkeit. Die Beschreibungen von damals gängigen Behandlungsmethoden wie der Elektroschock-Therapie tun als Schilderungen aus erster Hand ihr übriges.

Zentrales Motiv des Romans ist das Aufbegehren gegen die „Große Schwester“ und ihre absurden Stations-Vorschriften der polternden Spielernatur McMurphy, des nonkonformistischen irischen Raubeins, der sich keinen Normen und Regeln unterwerfen mag und in seinem Drang nach Freiheit die letargischen, sich selbst kasteienden und völlig passiven Insassen zur Rebellion gegen das Establishment  und die herrschenden Zustände in der Klinik anfeuert.

„Niemand beschwerte sich über den vielen Nebel. Ich weiß jetzt auch, warum: So schlimm er ist, man kann sich wenigstens darin verkriechen und in Sicherheit fühlen. Das ist es, was McMurphy nicht begreifen kann: dass wir uns sicher fühlen wollen. Er versucht dauernd, uns aus dem Nebel nach draußen zu ziehen, wo man uns leicht bekommen könnte.“
(Ken Kesey, Einer flog über das Kuckucksnest, Erster Teil)

Zu spät entdeckt der strafgefangene Querulant, der letztendlich der Willkür der Anstaltsleitung ausgeliefert ist, dass er von den freiwilligen Insassen der Heilsanstalt, die jederzeit ein Wahlrecht hinsichtlich ihrer eigenen Entlassung haben, für deren Zwecke manipuliert und missbraucht wird. In diesen Sequenzen zeigt sich auch McMurphys sensible Seite, hervorgerufen durch die Erkenntnis des möglichen Scheiterns.

Die letztendliche Niederlage des Kopfes der Revolution, bedingt durch eine eskalierende Katastrophe zum Finale des Romans, birgt den Sieg der verbleibenden Patienten über eine gebrochene, in ihren Grundfesten erschütterten „Großen Schwester“ und vor allem den Sieg des Indianers Chief Bromden, dem McMurphy den Weg aus der Passivität wies, der sich seiner Stärken bewusst wird und durch einen einzigen, befreienden Kraftakt den Weg in seine angestammte Lebenswelt zurückfindet – No you won’t fool the children of the revolution, wie Marc Bolan seinerzeit so schön sang…

Die flüssig zu lesende und sich vor allem durch geschliffene Dialoge auszeichnende, durch die paranoiden, Medikations-bedingten Phantasien Chief Bromdens und durch detaillierte Schilderungen aus dem psychiatrischen Betrieb bereicherte Erzählung vom Freigeist McMurphy und seinem Aufbegehren dient noch heute als Metapher für den Widerstand gegen kontrollierende und überwachende Institutionen, im Handeln eines Edward Snowden, in seiner individuellen Aktion gegen die NSA in diesen Zeiten der sich verselbstständigenden Überwachungs- und Nachrichtendienste finden sich auch aktuell exemplarische Parallelen zur Erzählung aus der Anstalt.

„Wie hatte er es geschafft, ihnen zu entgehen? Vielleicht war es wie beim alten Pete, und der Apparat verpasste es, ihn rechtzeitig in die Mangel zu nehmen. Vielleicht hat ihn die Schule nie lange halten und bearbeiten können, und er hat sich schon als Junge im ganzen Land herumgetrieben und ist nie länger als ein paar Monate an einem Ort geblieben, und dann hat er sich mal als Holzfäller betätigt, mal als Spieler oder als Anreißer für Glücksräder auf dem Jahrmarkt, immer in Bewegung, so dass der Apparat nie eine Chance hatte, ihm etwas einzubauen.“
(Ken Kesey, Einer flog über das Kuckucksnest, Erster Teil)

„Einer flog über das Kuckucknest“ wurde zweimal ins Deutsche übertragen, 1972 für die deutsche Erstausgabe im März-Verlag von Hans Herrmann (u.a. auch Übersetzer von Werken von John Irving und Richard Ford), und 1985 in einer weiteren Bearbeitung für die Zweitausendeins-Neuausgabe durch den Burroughs-, Bukowski- und Algren-Experten Carl Weissner.
Die Herrmann-Übersetzung ist nach wie vor als Rowohlt-Taschenbuch im Buchhandel erhältlich.

Das Werk wurde 1975 von Miloš Forman mit Jack Nicholson als sensationell aufspielendem McMurphy-Darsteller, Louise Fletscher als Schwester Ratched sowie Will Sampson, Brad Dourif und Danny DeVito in weiteren Hauptrollen kongenial verfilmt, der Streifen gilt bis heute völlig zu Recht als eine der gelungensten Hollywood-Literaturadaptionen, wenngleich Ken Kesey den Film nie selbst gesehen haben soll und insbesondere monierte, das er nicht aus der Sicht des Native Americans Bromden erzählt wird.
Neil-Young- und Willy-DeVille-Spezi Jack Nitzsche hat die Musik zum Film geschrieben.
Die Kesey-Verfilmung erhielt 1975 fünf Oscars für den besten Film, die beste Regie, das beste adaptierte Drehbuch, die beste Hauptdarstellerin und den besten Hauptdarsteller, er ist damit neben „Es geschah in einer Nacht“ (1935, Frank Capra) und „Das Schweigen der Lämmer“ (1991, Jonathan Demme) einer der drei Filme, die bisher bei den Academy Awards alle „Big-Five“-Kategorien gewinnen konnten.

Ken Kesey wurde 1935 in Colorado geboren, ab 1959 studierte er an der kalifornischen Stanford University Kreatives Schreiben. Nach dem Welterfolg von „Einer flog über das Kuckucksnest“ gründete er Anfang der sechziger Jahre zusammen mit anderen Künstlern und LSD-Befürwortern die „Merry Pranksters“, mit denen er durch die USA tourte und „Acid Tests“ genannte LSD-Happenings veranstaltete. Bekanntestes Mitglieder der Pranksters war der Kerouac-Spezi Neal Cassady, dem der Beat-Poet in der Figur des Dean Moriarty in „On The Road“ ein Denkmal setzte. Der Schriftsteller Tom Wolfe verarbeitete seine Erfahrungen mit den Pranksters in seinem Buch „The Electric Kool-Aid Acid Test“ (1968, aktuelle deutsche Ausgabe: 2009, Heyne Verlag).
Die Grateful Dead fungierten in der Zeit, anfangs noch unter dem früheren Bandnamen The Warlocks, als Begleitband der Happenings.
Ken Kesey moderierte das Benefiz-Konzert der Dead für die Springfield Creamery am 27. August 1972 in den Old Renaissance Faire Grounds in der Nähe seiner Farm in Veneta/Oregon, das Konzert gilt bei vielen Deadheads als das Beste in der jahrzehntelangen Karriere der Jam-Band-Institution, nachzuprüfen seit 2013 auf der exzellenten Rhino-4-CD/DVD-Box ‚Sunshine Daydream‘.
1964 veröffentlichte Ken Kesey mit „Manchmal ein großes Verlangen“ (engl.: Sometimes a Great Notion, dt.: 1987, Rowohlt, vergriffen) einen weiteren herausragenden Roman, der 1970 von Paul Newman mit ihm selbst, Henry Fonda und Lee Remick in den Hauptrollen verfilmt wurde, das Werk wurde für zwei Oscars nominiert. Eine Würdigung des Romans ist für die Zukunft an dieser Stelle geplant.
Die 1989 bzw. 1992 veröffentlichten, weitaus weniger erfolgreichen Kesey-Romane „Caverns“ und „Sailor Song“ wurden offensichtlich nie ins Deutsche übersetzt, Gegenteiliges/Korrigierendes hierzu gern in die Kommentarfunktion rein.
In späteren Jahren hat sich Ken Kesey nach etlichen Prozessen wegen Drogenbesitz und einer zwischenzeitlichen Flucht nach Mexiko auf der Familien-Farm in Pleasant Hill/Oregon niedergelassen. 1984 musste er den Tod seines 20-jährigen Sohnes Jed betrauern, der bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam.
Am 10. November 2001 ist Ken Kesey an den Folgen einer Leberkrebs-Operation in Eugene/Oregon gestorben. Er wurde 66 Jahre alt.

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