This Heat und Throbbing Gristle haben sich Ende der Siebziger des vergangenen Jahrhunderts in der Hochzeit des Postpunk zu einer gemeinsamen Improvisations-Session im Studio getroffen, das Zeug über die Jahrzehnte in den Archiven gut abhängen und reifen lassen, im neuen Jahrtausend mit moderner Technik, zusätzlichen Samples und anderweitigen Electronica-Spielereien aufgemotzt und remastert und dieser Tage unter dem kryptisch-abstrakten Projektnamen UUUU unter das Volk gebracht. Schöne wie spannende Geschichte, die einem da spontan beim Abhören dieser Experimental-Orgie durch die Hirnwindungen spinnt.
Hat nur einen Hacken: Null Wahrheitsgehalt. Obwohl der Bezug zur Hochphase des avantgardistischen Industrial-Postpunk in allen Facetten gegeben ist: UUUU rekrutieren sich aus dem Wire-Gründer und -Bassisten Graham Lewis, dem „neuen“ Wire-Gitarristen Matthew Simms, Coil-/Spiritualized-Multiinstrumentalist Tim Lewis aka Thighpaulsandra und der italienischen Schlagzeugerin Valentina Magaletti, zusammen erschaffen die im weiten Feld der experimentellen Musik bestens bewanderten Musiker_Innen einen breit gefächerten Kosmos aus abstraktem Ambient-Drone, Free-Jazz-artigem Improvisationskrach, sich immer wieder aus dem kakophonen Gewirr herausschälendem, für die Album-Verhältnisse partiell sehr strukturiertem Space-, Kraut- und Noise-Rock und minutenlangen atonalen Verstörungen, die tatsächlich an die Zumutungen der nordenglischen Industrial-Pioniere Throbbing Gristle erinnern, wie auch die einhergehenden Postpunk-Phrasierungen jederzeit Referenzen an die von der charakteristischen Rhythmik eines Charles Hayward getriebenen, minimalistisch-innovativen Prog-/Punk-Gerippe der This-Heat-Meilensteine zulassen.
Auch bei UUUU kommt der Rhythmus-Abteilung eine besondere Rolle zu, in diesem sich in viele gegenläufige Richtungen ausdehnenden Experimental-musikalischen Universum leistet Frau Magaletti ganze Arbeit an Schlagwerk, Cymbals, Glocken und anderweitigem Geklapper, um diesem tonalen wie gleichermaßen atonalem Gebräu einen halbwegs greifbaren Rahmen zu geben. In den wenigen Passagen, in denen Graham Lewis singt, schimmert ein Hauch vom Wire-Avantgarde-Pop durch, weitaus mehr nur eine Ahnung oder homöopathische Dosis als ein verlässlicher Anker zum Festmachen vertraut-konventioneller Popularmusik-Muster.
Pure Schönheit im Auge des chaotischen Klang-Gewitters, die sich für die Schuhe-glotzende, Melodie-affinere Postpunk-Gefolgschaft selbstredend schnell in das schreckliche Gegenteil verkehren kann.
(*****)
Wire – Silver/Lead (2017, Pink Flag / Cargo Records)
Auch im vierzigsten Jahr ihres Bestehens versorgen Wire Herz und Hirn der Postpunk-Gemeinde mit bestem Stoff, das fünfzehnte Studio-Album von Newman, Lewis und Co kommt wie gewohnt im Uptempo, Downtempo und allem möglichen Dazwischen, in der erwartet schlauen Mixtur aus flottem, zackigem Punk-Gitarren-Anschlag und minimalistischem Stoiker-Beat, stringenten Arrangements und dem untrüglichen Gespür für den intelligenten Pop-Moment, wie ihn die Engländer seit Veröffentlichung ihres Kunst-Punk-Meisterwerk-Debüts „Pink Flag“ (Harvest) vor vier Dekaden über die Jahrzehnte in unverminderter Qualität pflegen.
Vermutlich sind Wire mit die letzten Überlebenden der britischen Punk-Ära, die diese Nummer bis zum heutigen Tag mit Würde hinbekommen und dem Musikgeschehen noch heute Vorwärts-gewandt ihren unverkennbaren Stempel mittels neuer Ideen aufdrücken, in der Vergangenheit war noch jede Veröffentlichung einer neuen Wire-Scheibe ein Anlass zur Freude, mit „Silver/Lead“ verhält sich das nicht anders.
(*****)
The Jesus and Mary Chain – Damage And Joy (2017, ADA / Warner)
Die Combo um die schottischen Brüder Jim und William Reid hat sich in den letzten Jahrzehnten nicht als Veröffentlichungs-Weltmeister hervorgetan, sage und schreibe 19 Jahre sind seit Erscheinen der letzten Studio-Arbeit „Munki“ (Creation / Sub Pop) ins Land gegangen, zwischendurch hat die Band für einige Jahre komplett den Betrieb eingestellt, das aktuelle Lebenszeichen „Damage And Joy“ liefert die erwartete JAMC-Kost, die Band shoegazed sich gefällig in psychedelischer Garagen-Rock-Manier durch ihren von verzerrten, sägenden Gitarren dominierten Düster-Gitarren-Pop, weibliche Sangeskunst wie etwa die der ehemaligen Belle-&-Sebastian-Musikerin Isobel Campbell bewahren das Werk vor allzu viel Gleichklang.
Haben die Misanthropen aus der Gegend South of Glasgow auf dem Band-Meilenstein „Darkslands“ (Blanco Y Negro) vor dreißig Jahren alles schon mal spannender, Ideen-reicher, griffiger und bezwingender eingespielt, aber groß Schaden und Ärgernis richtet der neue Aufguss in den Gehörgängen auch nicht an, in Reminiszenz an alte Zeiten ist das gut abgehangene Gedöns dann doch ein Ohr-leihen wert…
(****)
Bardo Pond – Under The Pines (2017, Fire Records)
Die hier betreiben ihr Geschäft auch nicht erst seit gestern, Bardo Pond aus Philadelphia, seit gut 25 Jahren unterwegs in Sachen schwerer, experimenteller US-Psychedelic-Space-Rock, auf dem neuesten Werk geben sie wie so oft zuvor in der reichhaltigen Bandhistorie in sechs langen bis sehr langen Epen eine eindrucksvolle Demonstration in ausladendem, von verzerrten, ausufernden Fuzz-Gitarren-Soli und feinst eingefangenen Feedback-Orgien dominiertem Prog-, Post- und Stoner-Rock, über den Isobel Sollenberger ihre gespenstischen, verhallten Folk-Vocals singt und ihre feinen Flötentöne haucht, die den Stücken eine entzückende, entrückte Dream-Pop-Note verleihen und die strukturierte Klammer bilden, um die Noise- und Drone-Bude vor dem völligen Ausfransen, Wegdriften und finalen Verabschieden ins Nirvana zu bewahren. Bezwingende Underground-Rock-Arbeit, wieder mal, und Highlight im facettenreichen, exzellenten Œuvre von Bardo Pond.
(**** ½ – *****)
Boss Hog – Brood X (2017, Bronzerat)
Im Jahr 2000 gab’s die grandios-gute „Whiteout“-Scheibe beim damals sehr angesagten City-Slang-Label, seitdem: nix mehr. Ändert sich nun mit „Brood X“, der gemeinsame New Yorker Haushalt des Ehepaars Chistiana Martinez und Jon Spencer knüpft nahtlos dort an, wo er die verzückte Hörerschaft vor einer halben Ewigkeit zurückgelassen hat, Frau Martinez und der Blues-Explosion-Gatte ziehen in Sachen vollgemülltem Blues-Punk, energetischem Indie-Rock-Swamp und schmissigem Großstadt-Trash alle Register, im Vergleich zum rausgeknallten, überdrehten Blues-Trash des ehemaligen Pussy-Galore-Gitarristen Spencer und seiner Hauscombo poltert der Boss-Hog-Sound mit wesentlich mehr unbeschwertem Funk und Hip-Hop-artigen Beats durch die Boxen, wie gehabt unterhält dieses LoFi-Gebräu aus billigen Keyboards, enthemmt-treibendem Mülleimer-Getrommel, übersteuerten Gitarren-Attacken und überdreht-beschwörendem Gesang maximalst und lädt zu heftigem Mitgrooven und Hüftschwenken ein, lange nicht mehr gehört und gleich wieder erkannt und für gut befunden, so muss das sein…
(**** ½ – *****)
„That’s fantastic that you’re passionate about cardboard and listening to music on multi colored plastic You’re a collector of rare vinyl, a total fanatic, that’s completely absolutely hip, motherfucking fantastic But I’m more concerned with how I feel“ (Jesu/Sun Kil Moon, Good Morning My Love)
Tonträger-Ranking 2016. Eine rein subjektive Zusammenstellung, die keinerlei Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt und selbstredend viele Lücken aufweist, man kann bei weitem nicht alles hören und gebührend würdigen, was von Interesse wäre.
Weg von der klassischen Songstruktur, hin zu instrumentalen Klang-Epen, so die individuelle Hörer-Tendenz im dahinscheidenden Jahr. Viele alte Helden haben sich reihenweise mit im besten Fall uninspirierter Durchschnittsware in die Belanglosigkeit verabschiedet, eine der wenigen rühmlichen Ausnahmen war Leonard Cohen mit seinem finalen „You Want It Darker“-Werk, aber der hat sich dann leider postwendend nach Veröffentlichung endgültig ganz woanders hin verabschiedet.
Kulturforum-Top-100 2016, ein paar Scheiben auch noch aus 2015, aufgeteilt in die Sparten Reguläre, Sampler, Bergungskommando, here we go:
(09) Russian Circles – Guidance (2016, Sargent House)
Das Postmetal-Trio aus Chicago bleibt eine verlässliche Größe des Genres und liefert mit „Guidance“ eine ihrer bis dato besten Arbeiten ab.
Das war’s für 2016. Kein schlechtes Musikjahr. Der schmutzige Rest in der realen Welt: Für die Zukunft viel Luft nach oben, keine Frage. Gerhard Polt würde sagen: „Wir stehen vor schwierigen Herausforderungen, die sehr schwierig sind.“
Kommt gut rüber ins neue Jahr, ich wünsche Euch für 2017 nur das Beste, bleibt auf Sendung, habt Glück und bleibt vor allem gesund. Danke an alle, die hier mitgelesen haben, danke für die Rückmeldungen, Anmerkungen, Kritik und Ergänzungen in den Kommentaren. Highly appreciated. Und jetzt hoch die Tassen…
Guided By Voices – Please Be Honest (2016, Guided By Voices / Fire Records)
Das von 2012 bis 2014 reformierte „Classic Line Up“ – unter anderem mit den Ur-Gitarristen Mitch Mitchell und Tobin Sprout – scheint passé zu sein, die Besetzung, die von 2012 bis 2014 sage und schreibe sechs neue GbV-Alben, darunter Perlen wie ‚English Little League‘ (2013) oder ‚Motivational Jumpsuit‘ (2014, beide Guided By Voices / Fire Records) veröffentlichte, ist in die Annalen eingegangen. Im Februar 2016 soll es eine erneute GbV-Reunion, unter anderem mit dem Nashville-Songwriter Bobby Bare Jr, gegeben haben, das aktuelle Werk hat Chef Robert Pollard noch komplett im Alleingang eingespielt – ist auch irgendwo egal, solange er federführend für Songwriting und Aufnahmen verantwortlich zeichnet, ist unter dem Label Guided By Voices mit herausragender US-Indie-Rock-Qualität zu rechnen, so auch hier.
Griffige, manchmal ins Pop-exzentrische neigende Melodien, ein punktuelles Experimentieren mit Hall und das Treiben des typischen GbV-Sounds in Richtung eines Psychedelic-Pop-verschwurbelten Indie-Rock-Ansatzes lassen auch beim x-ten Output eines Pollard-Ergusses keine Langeweile aufkommen und zaubern vor allem dem altgedienten Who-Fan in Reminiszenz an die ‚The-Who-Sell-Out‘- und ‚Tommy‘-Phase der britischen Überväter ein breites Grinsen ins Gesicht…
(**** ½ – *****)
Wire – Nocturnal Koreans (2016, swim ~)
8 Stücke / 25 Minuten, der Stoff, der von den Aufnahmen für das selbstbetitelte Album der einflussreichen Post-Punk-Pioniere vom Vorjahr übrig blieb, wäre auch zu schade gewesen, wenn diese Perlen nicht das Licht der Welt erblickt hätten.
Treibender Post-Punk-/Experimental-Pop-Sound in herausragender Qualität, nach wie vor die hohe Schule und Benchmark des Genres englischer Prägung. Die Band aus London fand im Oktober vor vierzig Jahren erstmals zusammen und klingt noch immer unvermindert frisch, innovativ, neugierig und Vorwärts-gewandt wie zu Zeiten ihrer ersten, bis heute essentiellen, wegweisenden, man kommt nicht umhin: zeitlosen Alben ‚Pink Flag‘ (1977), ‚Chairs Missing‘ (1978) und ‚154‘ (1979, alle: Harvest).
“We’re always going to be judged against our past, but we have to be working to try and just make the best things that we can and to work within a context that we understand, which is almost being pretty much a contemporary band. You know, you’re allowed to be a contemporary band if you’re over 20.”
Die Welt um einen herum mag im schlimmsten Fall zusammenbrechen, Wire bleiben mit ihrem konstant hohen Qualitätsanspruch eine verlässliche Größe im Pop-Universum.
(*****)
„When I said you’re strange It was a compliment, you know“ (Langhorne Slim & The Law, Airplane)
Irgendwie ein typisches „Es-war-schon-alles-da-in-der-Musik-darum-schon-wieder-kein-neues-‚Astral-Weeks‘-‚Zen-Arcade‘-‚Exile-On-Main-St‘-Wunderwerk“-Jahr, dafür aber ein Musik-Jahr mit überraschenden Comebacks, würdigen Alterswerken, spannenden Mixturen, ein paar erwarteten und etlichen unerwarteten Highlights, einigen gewichtigen Ausgrabungen aus den Archiven und einem ersten Platz, der das in der Gesamtheit nicht sonderlich rosige Jahr 2015 in seiner Grundstimmung einfängt.
(01) Steve Von Till – A Life Unto Itself (2015, Neurot)
Das düstere Songwriting des Neurosis-Sängers/-Gitarristen: die Platte des Jahres 2015 im Kulturforum. Der passende Soundtrack für ein Jahr, von dem Bilder/Eindrücke unter anderem von gekenterten Flüchtlings-Booten, dem Terror-Anschlag auf einen Live-Club und allerhand politischen Verwerfungen bleiben werden, leider.
(02) Pops Staples – Don’t Lose This (2015, Anti)
Würdiges Alterswerk der Gospel-/Soul-Ikone, aus Rohfassungen von Tochter Mavis Staples und Wilco-Vorturner Jeff Tweedy behutsam zu einem guten Ende gebracht.
(11) Die Buben im Pelz & Freundinnen – Die Buben im Pelz & Freundinnen (2015, Konkord)
Den Violinen-Drone aus „The Black Angel’s Death Song“ haben sie nicht hingekriegt, sowas bleibt natürlich nur Musikern wie dem Gott-ähnlichen John Cale vorbehalten, ansonsten haben sie wirklich alles richtig gemacht, die Buben im Pelz und ihre Schicksen, mit ihrer Wiener Adaption eines der wichtigsten Alben der Pop-Historie. Total leiwand, eh kloa…
(17) Waves – Stargazer (2015, Waves)
Mit das Interessanteste in Sachen Post-Rock kam heuer aus München. Meine Hardcopy fange ich mir beim Konzert am 14. Januar im Backstage ein und dann folgt auch eine ausführliche Besprechung. Versprochen.
Das soll’s gewesen sein von meiner Seite für 2015. Rutscht gut rüber ins neue Jahr, ich wünsche Euch alles Gute, Glück und vor allem Gesundheit für 2016, uns wird es vermutlich auch im neuen Jahr im Großen und Ganzen wieder besser ergehen als 99% vom Rest der Welt, in diesem Sinne, weil Sylvester ist und weil gleich die Böller und Sektkorken knallen, soll das letzte Wort im alten Jahr an dieser Stelle Nathaniel Rateliff gehören: „Son of a Bitch, give me a Drink !!!!“ ;-)