Reingelesen (71): Colum McCann – Die große Welt

I bought Philippe Petit a round
And asked what his high wire was for
He said „I put one foot out on the wire,
One foot straight into heaven“
As the prophets entered boldly into the bar
On the Boeing 737, Lord, on the Boeing 737
(The Low Anthem, Boeing 737)

Colum McCann – Die große Welt (2009, Rowohlt)

Am Morgen des 7. August 1974 landete der französische Hochseil-Artist Philippe Petit in New York „le coup“, wie er seine Aktion selbst bezeichnete, 400 Meter über dem Grund wanderte, sprang und tanzte er mit einer 8 Meter langen Balancierstange ausgestattet eine dreiviertel Stunde lang auf einem von ihm gespannten Drahtseil zwischen den Zwillings-Türmen des World Trade Center und hielt damit die Passanten, Anwohner und Sicherheitskräfte in Downtown Manhattan in Atem.

„Er war in seinem Körper und zugleich außerhalb von ihm und genoss, was es hieß, der Luft zugehörig zu sein: ohne Zukunft, ohne Vergangenheit, und das verlieh seinem Gang diese schlendernde Lässigkeit. Er trug sein Leben von einer Seite zur anderen. Auf der Suche nach dem Moment, in dem er sich nicht einmal mehr seines Atems bewusst war.“
(Colum McCann, Die große Welt, Lasst die große Welt sich drehen)

In seinem als Allegorie auf die 9/11-Ereignisse gedeuteten Roman nimmt der irisch-stämmige Autor Colum McCann die spektakuläre Aktion Petits als Aufhänger und buchstäblich über allem schwebende thematische Klammer für zwölf ineinander verwobene Geschichten einzelner Protagonisten, deren Schicksale an diesem speziellen Tag durch richtungsweisende, einschneidende Ereignisse geprägt werden.

Nicht für alle im Roman auftretenden Figuren laufen die Geschicke in diesen Sommertagen im Big Apple aufsehenerregend, geplant und mit glücklichem Ausgang wie für den Seiltänzer, alle porträtierten Figuren nehmen die artistische Sensation auf die ein oder andere Weise wahr, manche am Rande aus den Radio-Nachrichten ohne weitere Bedeutung für die eigene Existenz, andere werden im Nachgang Teil der spektakulären Geschichte, für manche endet der Tag in einer persönlichen Katastrophe oder – bedingt durch den „Simple Twist Of Fate“ – in einer neuen Ausrichtung des Lebens.
Der Roman versucht darüber hinaus auf einer eigenen Ebene die großen Themen der US-amerikanischen Geschichte jener Zeit zu umreißen, Vietnam, Rassismus, die ersten Zuckungen des Computer-Zeitalters, hinsichtlich politischer Weltbühne bleibt aus dieser Zeit im Sommer des Jahres 1974 vor allem ein Ereignis im kollektiven Gedächtnis präsent: Zwei Tage nach der Aktion von Petit trat Richard Nixon im Zuge der Watergate-Affäre als US-Präsident zurück und kam so dem drohenden Amtsenthebungsverfahren zuvor, der Roman streift auch dieses einschneidende Ereignis der jüngeren amerikanischen Geschichte und reflektiert die ablehnende Haltung und schwindende Unterstützung in der Bevölkerung für den republikanischen Amtsinhaber, zu viel Zweifelhaftes in Form von Abhörskandalen, eigenmächtig angeordneten Kambodscha-Bombardements während des Vietnam-Kriegs und Manipulationen im Vorfeld der Wahlkämpfe hat sich auf dem Negativ-Konto des umstrittenen Präsidenten gesammelt. Der tiefe Fall von „Tricky Dick“ fügt sich nahtlos in das komplexe Bild menschlicher Tragödien, in denen sich das Schicksal demokratisch nicht um Ober- oder Unterschicht-Zugehörigkeit schert und so in allen Teilen der Gesellschaft zuschlägt.
Im Zentrum der Romanhandlung steht eine Handvoll Menschen, die aufgrund ihrer Sozialisation und ihrer gesellschaftlichen Stellung im Sinne des klassischen Schichten-Musters wenige bis keine Berührungspunkte und gemeinsame Interessen haben, auf die ein oder andere Art kreuzen sich ihre Lebenswege jedoch und nehmen so Einfluss auf weitere Entwicklungen, im letzten Kapitel des Buches wird abschließend der sprichwörtliche Flügelschlag des Schmetterlings aus längst vergangenen Zeiten thematisiert, der exemplarisch den Weg einer jungen Frau aus der nächsten Generation der Roman-Protagonisten lenkt.
Eine der im Mittelpunkt stehenden Figuren ist der irisch-stämmige Priester Corrigan, der bereits in jungen Jahren auf der grünen Insel im alten Europa eine besondere Form des Altruismus entwickelt und sich einfühlend bis zur Selbstverleugnung um die Alkoholiker seines Heimatorts annimmt – ein Radikal-Christ im Geiste der von der katholischen Kirche wie von marxistischen Ideen geprägten Befreiungstheologen, der sich im New York der Siebziger in der Bronx wiederfindet und sich dort um die Untersten in der sozialen Hierarchie kümmert, Prostituierte, Zuhälter, Drogensüchtige, eine kurze, unkonventionelle und allen Geboten des Zölibats zuwiderlaufende Affäre des Geistlichen mit einer Krankenschwester aus Lateinamerika fügt sich dahingehend exemplarisch in die Thematik der ungewöhnlichen Beziehungen.
Dafür steht auch die Figur der gebildeten Afro-Amerikanerin Gloria aus der Nachbarschaft des Priesters, eine Nachfahrin von Südstaaten-Sklaven, die Opern liebt, sich im weitern Verlauf des Romans um die Kinder einer verunglückten Prostituierten annimmt und einer Selbsthilfe-Gruppe von Müttern angehört, die ihre Söhne im Vietnam-Krieg verloren haben. In dem Zusammenhang lernt sie die reiche Park-Avenue-Gattin eines jüdischen Richters näher kennen, eine weitere Hauptdarstellerin in diesem Panoptikum seelisch Verwundeter, auch das eine Konstellation, die hinsichtlich sozialer Konventionen fernab des Vietnam-Traumas in der Form kaum denkbar, hier aber mit ihren entsprechenden Komplikationen, Verwerfungen und konträren Lebenswelten thematisiert wird. Der erwähnte Richter wird im Übrigen im Laufe der Geschichte über das Strafmaß für den Seiltänzer Petit wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses und über die Strafanstalt-Einweisung einer der Prostituierten-Freundinnen des Priesters entscheiden, Querverbindungen im Roman auf allen Ebenen.

„Sie nimmt einen weiteren tiefen Zug und behält den Rauch lange in der Lunge – sie hat irgendwo gehört, dass Zigaretten gut sind, wenn man traurig ist. Ein tiefer Zug, und man vergisst zu weinen. Der Körper ist zu sehr mit dem Gift beschäftigt. Kein Wunder, dass die Soldaten sie umsonst bekommen haben. Lucky Strikes.“
(Colum McCann, Die große Welt, Miró, Miró an der Wand)

Ob der literarische Drahtseilakt McCanns im erzählenden Verweben divergierender Existenzen gelungen ist, mag nicht zuletzt von der emotionalen Kitsch-Toleranz der Leserschaft abhängen, obwohl im Wesentlichen eine gut geschriebene und flüssig zu lesende Geschichte – vor allem in den Dialogen – wird die Grenze zur sentimentalen Gefühlsduselei ab und an angetestet, wenn nicht sporadisch überschritten. Mindestens dezent in Zweifel darf auch gezogen werden, ob die bedeutungsschwangere Suche des Autors nach dem Sinn selbst in der größten Katastrophe stets zu befriedigenden und abschließenden Antworten führt, der Romancier zieht sich im Nachwort zum Buch dabei elegant aus der Affäre: „Die Literatur erinnert uns daran, dass nicht alles im Leben bereits aufgeschrieben ist: Es gibt noch viele Geschichten, die erzählt werden müssen.“ 
McCann darf aber attestiert werden, dass er seine Figuren zwar nicht gänzlich Klischee-befreit, so doch einfühlsam, unvoreingenommen und ohne formelhafte Vorurteile konzipiert und so einen individuell geprägten Blickwinkel der einzelnen Akteure nachzeichnet.
Für New-York-Besucher ist es in jedem Fall eine lohnende Lektüre, zeigt der Roman doch eine Welthauptstadt, wie sie heute, bedingt durch voranschreitende Gentrifizierung und die nachwirkende Zero-Tolerance-Politik der Giuliani-Ära in der Kriminalitäts-Bekämpfung, längst nicht mehr existiert.

„Sie fand schon immer, dass das eins von den Dingen ist, die New Yorks Schönheit ausmachen: Man kann von irgendwoher in die Stadt kommen und im Nu ein Gefühl von Vertrautheit haben.“
(Colum McCann, Die große Welt, Seewärts brüllend, und ich geh‘)

Colum McCann wurde 1965 in Dublin geboren. Seit Mitte der Neunziger lebt er mit seiner Frau und drei Kindern in New York. Ab 1994 veröffentlichte er Erzählungen und Romane, zuvor war er als Journalist tätig. Seine Prosa wurde in 35 Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen prämiert. Für „Let The Great World Spin“ („Die große Welt“) erhielt er 2009 den National Book Award.
Der Roman wurde im selben Jahr vom New Yorker Songwriter Joe Hurley in Zusammenarbeit mit dem Autor für das Album The House the Horse Built (Let The Great World Spin)“ vertont. An den Aufnahmen waren bekannte Musiker wie Tony Shanahan von der Patti Smith Band, Chieftains-Chef Paddy Moloney, Indie-Größe Don Fleming und der ehemalige Mink-DeVille-Keyboarder Kenny Margolis beteiligt.

6 Kommentare

  1. Schon einige Zeit her, dass ich das Buch gelesen habe, aber Du rufst Erinnerungen wach: Ja, ich fand es auch fluffig zu lesen, hab mich aber auch an diesen sentimentalen Ausreißern und so einem dezent missionarischen Unterton gestört. Guten Start in die Woche! Birgit

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  2. Meine Lektüre liegt nun auch schon lange zurück, aber ich meine mich zu erinnern, dass alle Hauptfiguren dieselbe Sprache zu sprechen schienen, ich fand das alles mehr gewollt als gekonnt. Viel interessanter fand ich die Aktion Petits, dessen Erinnerungen an seinen Balanceakt und die dafür notwendigen Vorbereitungen ich total gern gelesen habe. LG, Anna

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    1. Hallo Anna – Das mit der Sprache wäre mir nicht aufgefallen, ich denke doch, dass z.B. die Prostituierten auch in der wörtlichen Rede anders gezeichnet sind als etwa die Bildungsbürger, aber da mag jede/r andere Kriterien ansetzen. Das mit der Aktion Petits kann ich absolut nachvollziehen, das Thema hat mich schon immer interessiert, ohne diesen Aufhänger hätte ich das Buch gar nicht gelesen. Auch für mich die stärksten Passagen. – Liebe Grüße, Gerhard

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