Industrial

Reingehört (537): Youff

„…finds liberation in daydreaming about having the confidence of a psychopath.“

Youff – 20/20 Hindsight (2019, Stadskanker)

Die belgische Noise-Band Youff aus Gent hat sich im Sommer 2018 für fünf Tage in einen alten Schuppen zurückgezogen und mit Kasper De Sutter von El Yunque live im Studio neunzehn neue Nummern eingespielt, roh und unbehandelt, so, wie es dem Sound der lärmenden Kapelle entspricht und ohne Zweifel am zuträglichsten ist.
Das aufgezeichnete Material soll in 2019 über zwei Alben verteilt im Laufe des Jahres veröffentlicht werden, der erste Wurf ist mit dem Tonträger „20/20 Hindsight“ für kommende Woche angezeigt.
Schwere Geschütze, die das Quartett aus Flandern damit auffährt: Der egozentrische Gesangspart ein verzweifeltes Geplärr, verzerrt und schrill, sich in irrsinniger Raserei windend, kurz vor dem endgültigen Überschnappen in die Hysterie, in zurückgenommener Ausprägung in Dauerschleife repetitiv, nahezu katatonisch vor sich hin schwadronierend – Lautsprecher Michiel De Naegel reiht sich damit ein in die Riege der selbstreinigenden Schrei-Therapeuten, die das Innerste ungefiltert nach außen kehren und dabei weder sich selbst noch die Konsumenten-Schar mit ihren Ausbrüchen schonen. Komfort-Zonen und Wohlfühl-Oasen muss sich die Hörerschaft woanders suchen, hierzu ist in den elf unvermittelt mit der Tür ins Haus fallenden Titeln kein Land in Sicht, nirgends. Der „Harshcore“ der Band trifft direkt ins Zentrum des Nervensystem und ist dabei gezeichnet von schnörkellos zuschlagenden, hart und dissonant klirrenden Gitarren-Riffs und einer bedingungslosen, nicht nach rechts oder links schielenden Brachial-Rhythmik im straighten Vorwärtsgang. Eine frontal angreifende Spielart aus spartanischem, stumpfem No-Wave-Stakkato und radikalem Hardcore, die den analog erzeugten, energetischen DIY-Postpunk der Belgier in die Nähe von verfremdetem, experimentellem Industrial-Lärmen rücken – die letzten, sich final aufbäumenden und weithin vernehmbaren Zuckungen von automatisierten, aus dem Ruder laufenden und kollabierenden Maschinen-Komplexen – oder ist es am Ende doch einfach nur die Marschmusik für alle Schwarzmaler und Nihilisten, die begleitende atonale Untermalung für den letzten Gang einer hoch komplexen und überzüchteten Zivilisation in Richtung Abgrund?
„20/20 Hindsight“ erscheint am 27. Mai beim belgischen Label Stadskanker in Brüssel, mit freundlicher PR- und Vertriebsunterstützung von Consouling Sounds.
(*****)

Reingehört (519): Barst

Barst – Re: Cycles (2019, Consouling Sounds)

Die Phantasie der Hörerschaft anregen und herausfordern, Wandeln auf unbekannten Pfaden des experimentellen Postrock und artverwandter Mutationen, gängige Kompositions-Muster und Klang-Strukturen weit hinter sich lassen, ungeahnte tonale Schönheiten entdecken, diesen eigenen, ambitionierten Ansprüchen stellt sich der belgische Klangmagier Bart Desmet mit seinem „Totalmusik“-Projekt Barst auf dem aktuellen Album „Re: Cycles“ nicht zum ersten Mal. Die Messlatte für derlei Ansinnen hängte er selbst in jüngster Vergangenheit in olympische Höhen, mit überwältigenden Live-Auftritten und exzellenten, auf Tonträger konservierten Klang-Orkanen wie dem Vorjahres-Album „The Endeavour“ als berauschendes Instrumental-Abbild einer sich immer schneller drehenden Welt oder dem 2016er-Werk „The Western Lands“ in Reminiszenz an Kult-Autor William S. Burroughs, mit seiner jüngsten Remix-Arbeit auf Basis früherer Sound-Entwürfe knüpft er nahtlos an diese Glanztaten an.
Auf der Neubearbeitung und Weiterverwertung seiner älterer Aufnahmen bleibt sich Desmet in seinem radikalen Ansatz treu, indem er sich denkbar weit von traditionellen Spielarten der Indie-Musik entfernt. In einem schwer Electronica-dominierten Entwurf recycelt er seinen Urstoff zu einem überwältigenden Darkwave/Industrial/Trance-Hybrid, der von dunkel-hypnotischen, archaischen, nahezu rituellen Beats aus dem tiefsten Inneren der Maschinen, schneidend-verzerrten Gitarren-Drones und sich in Dauerschleife wiederholenden Beschwörungs-Gesängen durchdrungen ist.
Der von Loops und Synthie-Effekten beseelte, durch die technischen Gerätschaften gejagte Geist spukt machtvoll raumgreifend durch die Gehörgänge und lässt die Gehirnwindungen zwischen bedrohtem Empfinden und entfesselter Euphorie tanzen, ein zeremonielles Requiem wie Hochamt für das digitale Zeitalter. Selbst in den monotonen, Tempo-reduzierten, abstrakteren Passagen bleiben die Sinne geschärft, für Entspannung ist da kein Raum im Space-Drone, die Erwartung liegt auf der Lauer nach dem nächsten Intensitäts-Ausbruch.
Bart Desmet bleibt der herausragende Klangforscher, der sich und seine Musik permanent neu erfindet, der sich um die Grenzen von elektronischer Musik, Post- und Progressive-Rock und abgeleiteter Genres keinen Deut schert, der Barrieren niederreißt und mit ungebändigter Energie neue, faszinierende Gebilde erschafft. Progress, Innovation und die permanente Revolution mögen zu anderen Gelegenheiten oft im Sande verlaufen oder schlimmstenfalls das Gegenteil des Geplanten bewirken, bei Barst ist das Ende der tonalen Reise offensichtlich noch nicht absehbar, die Wegstrecke bietet nach wie vor überraschende Abzweigungen und Wendungen zuhauf.
Digital explodiert das Album bereits seit Dezember 2018 in ungebremster Wucht durch das Netz, auf Vinyl erscheint „Re: Cycles“ zum Record Store Day am 13. April 2019 beim geschätzten belgischen Label Consouling Sounds.
(***** – ***** ½)

Svartvit + Space Eating Dogs @ Pension Noise #13, Import/Export, München, 2019-02-10

Lärmende Nachmittags-Matinee der Galerie Kullukcu-Gregorian am vergangenen Sonntag: Zu ungewöhnlich früher Uhrzeit ab 16.00 Uhr luden die Veranstalter der Pension Noise mit einem experimentellen Doppelpack zur 13. Ausgabe der sporadisch stattfindenden Konzert-Reihe in die Räumlichkeiten im Obergeschoss des Import/Export.

Space Eating Dogs sind ein junges Noise-Duo aus München, die Local Heroes bestritten den ersten Teil der launigen Veranstaltung mit einer abstrakten Sinfonie aus geloopten und durch ein Arsenal von verzerrenden Effektgeräten gejagten Bass-Tönen, rhythmisch in Form gebracht vom Anschlag auf diversen Basstrommeln, der an wuchtiges Pauken-Gewitter im klassischen Kontext gemahnte und vor allem dem dunklen, bedrohlich wirkenden weißen Rauschen und Feedbacks Struktur gab wie rituell-hypnotisches Element. Der Flow der 50-minütigen Live-Komposition wurde multimedial verstärkt durch eine in grellen Farben gezeichnete Video-Installation, die verwackelte und kolorierte Bilder eines an der Wasseroberfläche schwimmenden U-Boots an die Wand warf. Ein mit virtuosen Ideen geizender und damit tendenziell etwas zu ausgedehnt vor sich hin mäandernder Monoton-Drone in maximaler Electronica-Verfremdung trifft auf analoges, rudimentäres Improvisations-Drumming, ein spannender Ansatz, der nach dringender Weiter-Entwicklung wie -Verfolgung verlangt.

Der Niederländer Kevin Jansen aus Den Haag, der seine Klangskulpturen selbst als „Harsh Noise Violence“ bezeichnet, brachte seine atonale Message im zweiten Teil der Pension-Noise-Veranstaltung mit seinem Solo-Projekt Svartvit in knapp bemessenen zwanzig Minuten kurz und bündig auf den Punkt, die hoffnungsvolle Aussage seines eingeflochtenen, verfremdeten Sprach-Samplings „Just Listen To Me, Everything Will Be Alright“ konterkarierte der Electonica-Artist mit einer wütenden, zu Teilen verstörenden Aufführung. Eine diffus pochende, abstrakte Industrial-Dunkelheit, einem Echolot aus finsteren, trüben Gewässern gleich, steckte den lautmalerischen Rahmen für die extrovertiert-erratische One-Man-Performance des Klangforschers, der das Klirren von Ketten in den Sound loopte wie die latent befremdlichen Geräusche seiner eigenen Körperfunktionen. Neben verzweifeltem Hardcore-Geschrei zur Befreiung der inneren Dämonen und Verarbeitung der auf wen oder was auch immer projizierten, aufgestauten Wut fixierte der Künstler Verstärker-Kabel mit grobem Klebeband in einer angedeuteten Selbst-Strangulation an seinem Hals, gab durch Versenken eines Knopf-großen Mikros im Mundraum beklemmende Würge-Laute von sich und bereicherte damit den bereits Grenzen-antestenden Charakter der erschütternden Lärmgebilde und die Form seiner Bühnenpräsenz um weitere unkonventionelle Faktoren.
Der ganzheitliche Radikal-Ansatz von Svartvit konfrontiert das Publikum mit reinigenden Elementen des Wiener Aktionismus, dem Feedback-dominierten, dumpfen und monotonen Geist des Proto-Industrial und der heftigen Raserei des Hardcore-Punk – eine atonal und mit engagiertem Einsatz auf den Punkt gebrachte Schrei- und Schmerz-Therapie, in einer kurzen Sitzung dem überwältigten Publikum als individuelle Körper/Geist/Seele-Erfahrung angedient. Selber einen gewaltigen Sprung in der Schüssel oder alternativ dazu bereits alles Erdenkliche an Absonderlichem aus der weiten Welt der experimentellen Vorführungen gesehen, das wären wohl die einzig denkbaren Ausreden, um nicht auf die ein oder andere Weise vom intensiven Herauskehren der inneren Befindlichkeit im Kurz-Seelen-Strip von Svartvit angerührt zu sein.