Top-Forty-Gigs 2019, Culture-Forum-Edition: die erinnerungswürdigsten, am längsten nachhallenden Konzerte des vergangenen Jahres, selbstredend wie immer rein subjektiv gewertet. Unterstützen Sie Ihre lokalen Festival- und Konzertveranstalter, knausern Sie nicht rum, wenn der Hut rumgeht, haben Sie im neuen Jahr 2020 bitte Spaß mit den MusikantInnen Ihres Vertrauens, zur Not auch für über 1000 Taler im VIP-Bereich des Stadions bei einem aufgewärmten Rock’n’Roll-Derivate-Scheißdreck wie Gewehre n‘ Rosen: Jeder nach seiner Fasson, the show must go on…
Strom
The Thurston Moore Group + Rattle @ Strom, München, 2019-10-27
Als „The Ultimate Church Of Sound“ beschrieb einst in einem Interview der englische Throbbing-Gristle-/Psychic-TV-Weirdo Genesis P-Orridge die eruptiven Erschütterungen der Jimi Hendrix Experience, was der Gitarrengott aus Seattle für die Rockmusik der späten Sechziger im Alleingang leistete, darf sein Landsmann Thurston Moore zwanzig Jahre später für den No-Wave-, Noise, Experimental- und Alternative Rock vermutlich nicht ausschließlich komplett für sich selbst in Anspruch nehmen, maßgeblich mit stilbildend für den Indie-Sound ab den auslaufenden Achtzigern war er zweifellos mit seinem unverwechselbaren Gitarrenspiel bei der New Yorker Indie-Vorzeigekapelle Sonic Youth, die seinerzeit neben Moore mit Bandkollegen Lee Ranaldo einen weiteren Meister der krachenden sechs Saiten in ihren Reihen hatte.
Seit der Bandauflösung 2011 tummelte sich Thurston Moore in diversen Projekten, zwischenzeitlich mit Chelsea Light Moving in einem neuen, kurzlebigen, vielversprechenden Band-Format, davor und danach zuweilen in experimentellen Kollaborationen, dann wieder in konventionelleren Rock-Songs verhaftet wie auf seinen aktuelleren Alben „Rock n Roll Consciousness“ und „The Best Day“.
Seit Mitte September ist mit dem Tripple-Box-Set „Spirit Counsel“ sein jüngstes Werk in den (virtuellen) Plattenläden zu haben, und mit der Live-Aufführung der beiden ausladenden Instrumental-Nummern „ALICE MOKI JANE“ und „8 Spring Street“ kamen Thurston Moore, seine langjährigen Begleiter, die My-Bloody-Valentine-Bassistin Debbie Googe und der englische Gitarrist James Sedwards, plus ein neuer Mann an den Drums als Steve-Shelley-Ersatz einer experimentellen, modernen Variante der eingangs zitierten ultimativen Sound-Kirche sehr nahe.
Thurston Moore strebte mit dem kollektiven Improvisieren vertrauter wie avantgardistischer Gitarren-Tunes in perkussiver Begleitung einen spirituellen Geisteszustand an – Kontemplation und Energie, die ihre Kraft ungebremst vom Bühnengeschehen in Richtung Auditorium ausstrahlte. In der ersten Nummer würdigte der Noise-Großmeister die Jazz-Größen Alice Coltrane, Moki Cherry und Jayne Cortez, allesamt selbst Klangforscherinnen, die mit ihrer Musik die höheren Bewusstseinszustände anstreben.
„8 Spring Street“ ist die New Yorker Adresse des Apartments, in dem Thurston Moore seinem Mentor Glenn Branca in den späten Siebzigern zum ersten Mal zu einer gemeinsamen Probe begegnete. Der Geist des im vergangenen Jahr verstorbenen Minimal-/Drone-Pioniers schien über dem kompletten Set zu schweben, zuforderst in schier endlosen, minimalistischen, hypnotisch sich permanent wiederholenden Gitarrenriff-Schleifen. Branca, sein „Guitar Orchestra“ und Moores frühe Mitarbeit an den Ensembles des Avantgarde-Komponisiten wurden in einer ausgedehnten Zugabe als maßgeblicher Einfluss auf den späteren Klangkosmos des Sonic-Youth-Gründers gewürdigt.
Ein Klangkosmos, den Thurston Moore in seinen aktuellen, Gesangs-freien konzertanten Aufführungen grandios ergreifend offensichtlich zur Gänze entfaltet. Eingangs ruhige Ambient-Klänge, die sich nach minutenlanger Gitarren-Mediation in Richtung gängige Indie-Rock-Riffs mit dem vertrauten Sonic-Youth-Klirren und -Dröhnen entwickeln, um nach mehreren, wiederholten Improvisations-Mutationen in zwischenzeitlichen, übersteuerten Feedback-Orgasmen zu explodieren. Dazwischen, danach, wiederholt Postrock-artige Crescendi, lärmend-hymnische Soundwände, experimentelles Bleistift-Spreizen zwischen die Gitarren-Saiten zum Erzeugen exotischer, asiatisch angehauchter Drone-Töne. Die schiere Wucht und die Vielfalt der tonalen wie atonalen Ausdrucksformen auf Thurston Moores 12-saitigem Fender-Instrument, der seine Mitmusiker wie das Publikum gebannt konzentriert beiwohnen und folgen, ist mit Worten kaum zu beschreiben, ansatzweise ist es auf dem aktuellen Tonträger erlebbar, den Klang-forschenden Genius und die Kraft der ausladenden Stromgitarren-Kompositionen wird man voll umfänglich nur in der Live-Version erfassen. Wohl denen, die am vergangenen Sonntagabend im Münchner Strom diesem erschütternden Beben beiwohnen durften. Wer Songs erwartete, könnte ein langes Gesicht zur Schau getragen haben, wer weiß. Die mit den offenen Ohren und der unvoreingenommenen Herangehensweise ernteten reichhaltig, pures Gold gar.
The Thurston Moore Group live dieser Tage, dringende Empfehlung: heute Abend in Frankfurt/Main, im Das Bett. Weitere Termine im alten Europa:
31.10. – Antwerpen – Filter Festival
01.11. – Den Haag – Crossing Border festival
02.11. – Nantes – Soy Festival
03.11. – Berlin – Festsaal Kreuzberg
09.11. – Kortrijk – Sonic City Festival
10.11. – Salford – The White Hotel
Bevor Meister Moore und die Seinen zu fortgeschrittener Stunde am Sonntagabend die Bühne des Strom-Clubs beehrten, durften die beiden jungen Engländerinnen Katharine Eira Brown und Theresa Wrigley vom Postpunk-Duo Rattle aus Nottingham für eine knappe, verschwendete halbe Stunde ihre Trommelkünste demonstrieren. Allzuweit war’s damit nicht her, um es kurz zu machen. Eine gemeinsam bespielte, repetitiv-druckvolle Uptempo-Rhythmik an der Grenze zur schnörkellosen Monotonie, zu der die Ladies sich das Hi-Hat teilten und Katharine Brown angelegentlich ihre beschwörenden Gesänge anstimmte. This Heat für Arme, die Beschallung zum rituellen Hypnose-Tanz vollgedröhnter Halbnackter ums Feuer. Da im Saal weder ein Feuer loderte (durch diesen Sound schon mal gar nicht entfacht) noch irgendwelche sedierten Entblößten rumturnten, war’s ein sich schnell abnutzendes Unterfangen – beim dritten Gähnen war der Trommel-Workshop durchgefallen…
Oh Sees + Aluk Todolo @ Strom, München, 2019-08-30
Am vergangenen Freitagabend schütteten die Münchner Konzertveranstalter vom Clubzwei ein fulminantes Doppelpack an psychedelischen Kubikmetern ins konzertante Sommerloch der Stadt und präsentierten mit dem kalifornischen Hauptact Oh Sees eine der wandlungsfähigsten Combos des US-Indierock im Münchner Strom. Die Band aus San Francisco hat in den vergangenen zwei Dekaden zahlreiche Umbenennungen, Umbesetzungen und stilistische Umorientierungen hinter sich, einzige personelle Konstante über die Jahre ist Multiinstumentalist, Sänger und Label-Betreiber John Dwyer, der im ausverkauften Münchner Indie-Club von den beiden Schlagzeugern Paul Quattrone und Dan Rincon, Basser Tim Hellman und Keyboarder Tomas Dolas begleitet wurde.
Unter Sauna-ähnlichen Bedingungen groovte sich die Band aus dem Soundcheck heraus direkt, ohne Umstände und intensiv aus der Hüfte geschossen in ihren Gig, die erste Druckwelle schwappte postwendend aus dem Auditorium mittels heftigstem Pogo-Eintanzen, Schuhe- und Bierbecher-Schmeißen, Stage-Diven und ausgelassenem Gerempel zurück auf die Bühne. Den hochsommerlichen August-Temperaturen mochte im Saal offensichtlich kaum jemand Tribut zollen, und so gaben sich große Teile des Publikum dem Transpirieren im enthemmten Bewegungsdrang hin, einerlei, ob passend zu schmissigen Garagen-Trash/Punk-Hauern, flott durchgeknallten, melodischen Indie-Psychedelic-Perlen oder weithin deplatzierter zu angejazzten Kraut-Passagen oder den gedehnt ausladenden, von frei fließender Space-Orgel und entrücktem Grateful-Dead-Doppelgetrommel geprägten Progressive- und Sixties-Psychedelia-Jams. Die Combo um den durchtätowierten Bandleader mit der hochgehängten Gitarre stand dem intensiv berstenden Geschehen vor der Bühne in nichts nach und hielt das Energie-Level über neunzig Minuten konstant am oberen Limit. Die Oh Sees erfinden in ihrem von den US-Underground- und Indie-Spielarten der Spät-Sechziger, Mitt-Siebziger und achtziger Jahre stark beeinflussten Stil-Mix das Rad gewiss nicht grundlegend neu, vor allem im minutenlangen Endlosschleifen-Flow findet sich etliches an improvisierten Instrumental-Ergüssen, was woanders schon x-fach in gleicher oder ähnlicher Form zum Vortrag kam, mitunter in spannungsgeladener Diversität, der Reiz der Oh-Sees-Auftritte liegt vor allem im wilden Ritt durch eine Vielfalt an stilistischen Mitteln, in unvermittelten Tempi-Wechseln und dem Aufeinanderprallen von früher unvereinbaren Elementen wie der direkten Energie und dem knappen Format des Punk-Rock mit den ausufernden Improvisations-Auswüchsen der kosmischen Progressive-Sternenfahrt. Die Band zelebrierte den Tanz zwischen den Extremen im Dauer-Rausch ohne Verschnaufpause, und so mochte man es dem Quintett nach schweißtreibenden eineinhalb Stunden nicht verdenken, dass dem lauthals vorgetragenen Begehr nach Zugabe kein Gehör geschenkt wurde.
Gibt Bands, die ziehen auf der permanenten Suche nach entsprechenden Ausdrucksformen zum Freisetzen der überbordenden Ideen und überschüssigen Energie in the spirit of rock’n’roll ihr Ding durch und fertig ist die Laube, siehe oben. Der Großteil im populär-musikalischen Zirkus eben, die einen mit einem Schuss mehr Sendungsbewusstsein, die anderen einfach mit ungebändigtem Spaß am eigenen Tun.
Und daneben gibt’s die, die ihr Gewerk bedeutungsschwanger und konzeptionell mit mystischem Überbau versehen, die Experimental-Metaller Sunn O))) in ihren Mönchskutten oder die rituellen Beschwörungs-Postmetaller von Amenra als herausragende Vertreter der Zunft – in die selbe Kerbe schlugen am Freitagabend die drei Franzosen der Abend-eröffnenden Band Aluk Todolo. Der Name der Formation aus Grenoble ist einer uralten ethnischen Religion aus den Bergregionen Indonesiens entlehnt, das instrumentale Lärmen des klassischen Powertrios versehen die Musiker selbst mit dem Label „Occult Rock“. Unter dem Logo des Buchstabens „Un“ aus dem henochischen Alphabet, das für eine magische Kunst-Sprache im Mittelalter vom englischen Alchemisten und Hofastrologen John Dee entwickelt wurde, loten die drei dunkel Gewandeten die Kräfte ihres finster dröhnenden Trance-Flows aus. Lässt man den mythologischen Firlefanz, die theatralische Lichtbeschwörung von Gitarrist Shantidas Riedacker oder die 2011er-Kollaboration mit der musikalisch ohne Zweifel exzellenten, politisch gleichwohl fragwürdigen österreichischen Kraut-Formation Der Blutharsch And The Infinite Church Of The Leading Hand außen vor, bleibt als bedrohlicher, naturgewaltiger Sound ein erschöpfend in dunklen Gefilden mäanderndes, minimalistisches wie hypnotisches Instrumental-Gebräu aus Black-, Experimental- und Post-Metal, schwerst psychedelischem Kraut-Noise und der von Magma-Drummer Christian Vander definierten Spielart Zeuhl, die sich vor allem im freien, schleppend bis fieberhaft nervös die Becken malträtierenden, obsessiven Spiel vom entrückten Perkussionisten Antoine Hadjioannou offenbart. Der Auftritt von Aluk Todolo wird traditionell nur von einer zentral über der Bühne hängenden Lampe durchflutet, deren flackerndes Leuchten mit der Intensität der verzerrten, mitunter radikal dissonanten, lange nachhallenden Gitarren-Riffs und den einhergehenden Feedback-Erschütterungen der Metal-Drones korrespondiert. Finsterwald-Beschallung für neblige November-Tage und die Filmmusik für jegliche Ausprägungen an seelischen Abgründen, die durch diese Art von Schamanen-Kult kaum Aussicht auf Heilung erfahren, dargereicht in den letzten Tagen des Sonnen-durchfluteten Augusts – gewagte Nummer, für den geneigten Postmetal-Freund nichtsdestotrotz für eine halbe Stunde Erbauung und damit mit dem verdienten Applaus bedacht.