Oiseaux-Tempête

Abgerechnet wird zum Schluss: Die Platten des Jahres 2019

Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum.
(Friedrich Nietzsche)

Zum Jahresende ein (sehr wahrscheinlich) letztes Mal, aus alter Gewohnheit, und um die Nummer hier zu einem halbwegs geschmeidigen Ende zu bringen: eine Kulturforum-Liste der Lieblings-Alben 2019, die Top 25 Longplayer, subjektiv, absolut unvollständig, in jedem Fall ergänzungswürdig, unfertig, ohne weitere Kommentare. Weil das Leben 2019 zu Teilen ein Irrtum war. Seit dem Spätsommer keine Platten-Besprechungen mehr in diesem Theater. Zeitmangel, dadurch bedingt fehlende Muse und zunehmend weniger Lust am Fabulieren. So manches Weitere wäre unbedingt erwähnenswert gewesen, das neue Großwerk der runderneuerten Swans, der aktuelle Output der grandiosen französischen Postrock-Experimentierer von Oiseaux-Tempête, die jüngste Song-Sammlung von Baby Kreuzberg, das exzellente Krautrock-Album „The Ground“ des Hamburger Quartetts Halma, mit „Odds Against Tomorrow“ ein weiteres Meisterwerk des US-Gitarristen Bill Orcutt, der zweite Wurf der Münchner Rembetiko-No-Waver The Grexits, um nur ein paar wenige, sträflich vernachlässigte Beispiele zu nennen. Es sollte nicht sein, und es wird wohl auch nicht mehr werden. Anyway, alles hat seine Zeit, und manchmal spielt die Musik eben wo anders…
Danke für’s Lesen, danke für’s Reinhören, alles Gute für 2020 und darüber hinaus.

(01) Matana Roberts – COIN COIN Chapter Four: Memphis (2019, Constellation Records)
(02) Chris Forsyth – All Time Present (2019, No Quarter)
(03) Alexander Tucker – Guild Of The Asbestos Weaver (2019, Thrill Jockey Records)
(04) Lonesome Shack – Desert Dreams (2019, Alive Naturalsound Records)
(05) Siskiyou – Not Somewhere (2019, Constellation Records)
(06) H – H (2019, Echokammer)
(07) Fly Pan Am – C’est ça (2019, Constellation Records)
(08) Barst – Re: Cycles (2019, Consouling Sounds)
(09) House And Land – Across The Field (2019, Thrill Jockey Records)
(10) Lungbutter – Honey (2019, Constellation Records)
(11) Ni – Pantophobie (2019, Dur et Doux)
(12) Trigger Cut – Buster (2019, Bandcamp)
(13) Träden – Träden (2018, Subliminal Sounds)
(14) Steve Gunn – The Unseen In Between (2019, Matador)
(15) Erlend Apneseth Trio with Frode Haltli – Salika, Molika (2019, Hubro)
(16) Ralph Heidel // Homo Ludens – Moments Of Resonance (2019, Kryptox Records)
(17) Deadbeat & Camara – Trinity Thirty (2019, Constellation Records)
(18) Dire Wolves – Grow Towards The Light (2019, Beyond Beyond Is Beyond Records)
(19) Oozing Wound – High Anxiety (2019, Thrill Jockey Records)
(20) Efrim Manuel Menuck & Kevin Doria – are SING SINCK, SING (2019, Constellation Records)
(21) Black To Comm – Seven Horses For Seven Kings (2019, Thrill Jockey Records)
(22) Radare – Der Endless Dream (2019, Golden Antenna Records)
(23) William Tyler – Goes West (2019, Merge Records)
(24) Endon – Boy Meets Girl (2019, Thrill Jockey Records)
(25) Mono – Nowhere Now Here (2019, Pelagic Records)

Reingehört (467): Oiseaux-Tempête & The Bunny Tylers

Oiseaux-Tempête – TARAB طرب / Live (2018, Sub Rosa)

Sturmvögel Live, Volume 1: Die beiden Pariser Musiker Frédéric D. Oberland und Stéphane Pigneul von Oiseaux-Tempête haben im vergangenen Jahr mit „AL-‘AN ! الآن (And Your Night Is Your Shadow – A Fairy​-Tale Piece Of Land To Make Our Dreams)“ einen der herausragendsten Tonträger seit langem im experimentellen Postrock veröffentlicht und mit den Konzerten zum Präsentieren des exzellenten Materials nicht minder Eindruck hinterlassen, unter anderem auch bei ihrem fulminanten Auftritt in der Münchner Glockenbachwerkstatt, auf dem dieser Tage erschienenen Live-Album „TARAB طرب“ haben sie die magischen Momente der 2017er-Tour für die Nachwelt eingefangen.
Oberland und Pigneul zeichnen mit Hilfe von Musikern des libanesischen Johnny Kafta Anti-Vegetarian Orchestra, des Beiruter Drone-Duos The Bunny Tylers, Drummer Sylvain Joasson, Sampling/Electronica-Mixer Mondkopf und dem niederländischen The-Ex-Sänger G.W. Sok in dominierend dunklen Klangfarben ein düster funkelndes Bild in der thematischen Auseinandersetzung mit der aktuellen Situation im Nahen Osten, die acht ausgedehnten, oft weit über zehn Minuten langen Werke speisen sich naheliegend aus den Titeln der letztjährigen Veröffentlichung, aus ausgewählten Titeln vom 2015er-Album „ÜTOPIYA?“ sowie einer Handvoll bis dahin exklusiv live vorgetragener neuer Arbeiten wie dem intensivem, sich rauschhaft in Einklang mit der Musik steigerndem, von G.W. Soks großartigen Spoken-Word-Tiraden getragenem „Tuesday And The Weather Is Clear“.
Orientalische Mystik trifft auf arabischen Folk, freie Improvisation und Free-Jazziges auf eine Psychedelic, die nachhaltig in gehobene, vor allem abgehobene Klangregionen führt, Electronica, Sampling und schwere Drones auf den unvergleichlichen Postrock von Oiseaux-Tempête, der mitunter Tiefgang und Schwere des Doom- und Post-Metal nicht nur andeutet, sondern mit ureigenen, anderen, Genre-untypischen Mitteln umsetzt. Die Band erschafft zuforderst mit maßgeblicher Hilfe der beteiligten Musiker aus dem Libanon eine beziehungsreiche, vielschichtige musikalische Metapher im nachdenklichen, empathischen Grundton, die eine unterschwellige Bedrohung mitschwingen lässt und die fragile politische Situation im Nahen Osten in gedeckten Tönen abbildet.
Die Aufnahmen sind erfreulich weit entfernt vom herkömmlichen konzertanten Abbilden bereits bekannter Studio-Einspielungen, funktionieren darum als eigenständiges Gesamtkonzept und unterscheiden sich somit fundamental von handelsüblichen Live-Best-Of-Alben anderer Künstler. Viel mehr als nur eine sinnvolle Ergänzung zum bisher noch überschaubaren, komplett und mit Nachdruck empfehlenswerten Gesamtwerk der französischen Postrock-Institution.
(***** – ***** ½)

Oiseaux-Tempête & The Bunny Tylers – The True History Of The Tortoise & The Hare According To Lord Dunsany / Live At Reunion On March 19, 2016 (2018, Ruptured / Cargo Records)

Sturmvögel Live, Volume 2: Bereits aus 2016 stammt die gleichfalls aktuell veröffentlichte Aufzeichnung eines Konzerts, das Oiseaux-Tempête zusammen mit dem libanesischen Coldwave-Duo The Bunny Tylers seinerzeit im Beiruter Club Reunion spielten. In der französisch/nahöstlichen Kollaboration mit Charbel Haber und Fadi Tabbal zünden Oberland und Pigneul eine weitere Stufe ihres experimentellen Postrock-Ansatzes, der hier in sieben langen, ineinander fließenden Instrumental-Arbeiten einer einheitlichen, komplexen Komposition in stilistische Grenzen überwindende Space- und Krautrock-Sphären driftet. Der individuelle Progressive-Ansatz der Pariser Sound-Pioniere ist hier von einem gedehnten, bedrohlichen Downtempo-Virus befallen, das sich langsam, nichtsdestotrotz nachdrücklich, gründlich und vor allem schwerst Klangbild-prägend ausbreitet durch die Trip-artigen, abstrakten, dunkel schimmernden Drones und Ambient/Trance/Electronica-Infusionen der beiden Bunny Tylers, die sich ohne Brüche an den Nahtstellen wunderbarst in die geheimnisvoll schwelenden Instrumental-Improvisationen fügen.
Exzellente Klangreise und beispielhafter Ausflug in den jungen, vielschichtigen Beiruter Musik-Underground, in dem der damals mitten in die Wirren des Libanesischen Bürgerkriegs hineingeborene Bunny-Tyler-Gitarrist Fadi Tabbal neben seiner Profession als Musiker und Komponist eine zentrale Rolle spielt als Betreiber der Tunefork Recording Studios und Patron des Beirut Open Space, einer Bühne als Treffpunkt und Raum zum Austausch für libanesische und arabische Indie-, Experimental- und Folk-Musiker.
(*****)