Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum. (Friedrich Nietzsche)
Zum Jahresende ein (sehr wahrscheinlich) letztes Mal, aus alter Gewohnheit, und um die Nummer hier zu einem halbwegs geschmeidigen Ende zu bringen: eine Kulturforum-Liste der Lieblings-Alben 2019, die Top 25 Longplayer, subjektiv, absolut unvollständig, in jedem Fall ergänzungswürdig, unfertig, ohne weitere Kommentare. Weil das Leben 2019 zu Teilen ein Irrtum war. Seit dem Spätsommer keine Platten-Besprechungen mehr in diesem Theater. Zeitmangel, dadurch bedingt fehlende Muse und zunehmend weniger Lust am Fabulieren. So manches Weitere wäre unbedingt erwähnenswert gewesen, das neue Großwerk der runderneuerten Swans, der aktuelle Output der grandiosen französischen Postrock-Experimentierer von Oiseaux-Tempête, die jüngste Song-Sammlung von Baby Kreuzberg, das exzellente Krautrock-Album „The Ground“ des Hamburger Quartetts Halma, mit „Odds Against Tomorrow“ ein weiteres Meisterwerk des US-Gitarristen Bill Orcutt, der zweite Wurf der Münchner Rembetiko-No-Waver The Grexits, um nur ein paar wenige, sträflich vernachlässigte Beispiele zu nennen. Es sollte nicht sein, und es wird wohl auch nicht mehr werden. Anyway, alles hat seine Zeit, und manchmal spielt die Musik eben wo anders…
Danke für’s Lesen, danke für’s Reinhören, alles Gute für 2020 und darüber hinaus.
„a near-perfect balance between 70s rock tradition and present day experimentation“ (Pitchfork)
Chris Forsyth – All Time Present (2019, No Quarter)
Hochamt für die Freunde der psychedelischen Rockgitarre, aus der faszinierenden Welt des Chris Forsyth: Der Ausnahmemusiker aus Philadelphia hat zusammen mit Mitgliedern seiner Solar Motel Band und weiteren Gästen mit „All Time Present“ das nächste Glanzstück im Zusammenspiel zwischen Verhaften in der amerikanischen Musikhistorie und experimentellem Trance-Flow aus dem Hut gezaubert. Wo die vorangegangene Arbeit „Dreaming In The Non-Dream“ unter anderem mit Verweisen in den Krautrock und die englische Progressive-Schule der Früh-Siebziger aufwartete, konzentriert sich das neue Werk weit mehr auf die Interpretation und Einbindung klassischer Formen der US-Rockmusik im Kontext freier Experimental-Exerzitien. Forsyth präsentiert sich auf den acht neuen, zum Teil ausladend langen Nummern in glänzender Spiellaune, vor Ideen sprühend, technisch versiert wie stets und dabei weitgehend losgelöst von beengenden Konventionen. Die Form ist gewahrt, der Geist darf sich darin völlig ungehemmt und gedeihlich entfalten.
Die mancherorts eingewertete Postrock-Kategorisierung ist allenfalls durch die ausgedehnt langen Instrumental-Passagen gerechtfertigt, der Gitarrist lässt das Fundament aus klassischem Roots-, Desert- und Psychedelic-Rock zu freien Cosmic-American-Jams, Jazzrock-verwandten Improvisationen und hypnotischen Halluzinationen auswachsen.
Die Eröffnungsnummer „Tomorrow Might As Well Be Today“ ist ein beschwingtes Folk/Indie-Rock-Instrumental im Radio-Format als eingängige Lockerungsübung an der Grenze zum Jangle-Pop, mit „Mystic Mountain“ geht es dann erstmals auf ausgedehnten Trip in die heißen und trockenen Wüstenregionen, durchdrungen von psychedelisch flimmernden Luft-Phänomenen, das gefährliche Lauern der Klapperschlangen und der Peyote-Rausch sind nicht fern. „The Man Who Knows Too Much“ als feine, von mystischen Sirenen-Klängen des Synthies umwehte Akustikgitarren-Miniatur ist dann bereits das letzte Stück in klassischer Drei-Minuten-Kürze, die restliche Stunde bietet fünf Kompositionen in erschöpfender Ausdehnung zwischen knapp neun und annähernd zwanzig Minuten. „Dream Song“ ist tatsächlich traumwandlerisch grandiose Desert-Psychedelia mit ausladenden, herrlich jaulenden, lichternden Gitarren-Soli/Riffs und gespenstisch entrücktem Gastgesang von Rosali Middleman.
In „New Paranoid Cat“ glänzt Forsyth eingangs noch einmal als versierter Musiker an der akustischen Gitarre, der repetitive, wenig variierende Charakter der Nummer erinnert im Vorspann an Werke der American Primitive Guitar und wächst sich später zu einem bunt funkelnden Spektrum an opulenten, halluzinogenen Klangfarben aus.
Der über neun-minütige minimalistische Gitarren-Trance-Flow in „(Livin‘ In) Cubist Time“ nimmt sich aus wie eine Anmerkung und Fortführung zu den „Plunderphonics“-Samples und Sound-Layern, mit denen der kanadische Komponist John Oswald Mitte der Neunziger über hundert Aufnahmen der frei improvisierten Space-Jam-Nummer „Dark Star“ der Grateful Dead auf dem Album „Greyfolded“ zu den beiden abstrakt-surrealen Psychedelic-Kompositionen „Transitive Axis“ und „Mirror Ashes“ verdichtete. Überhaupt „Dark Star“ als Referenzwerk: Auch „The Past Ain’t Passed“ atmet diesen Improvisations-Spirit und geht als dezent vom indischen Raga durchwirkte, aktuelle Interpretation des Live-Klassikers von Garcia, Weir und Co. ohne Beanstandungen seitens der Deadhead-Fraktion durch. Das fast zwanzig-minütige „Techno Top“ ist ein schier endlos driftender Gitarren-Rave mit dezenten Electronica-Beigaben im funky Rhythmus zum finalen Tanz ins entrückte Nirvana, Forsyth selbst nennt das seine „nihilistic disco accountant“ Vibes.
Manche Musiker sind heilfroh, wenn sie auf ihren Alben dann und wann den ein oder anderen Ohrwurm zuwege bringen, Chris Forsyth hat mit „All Time Present“ eine ausgewachsene Riesenschlange als über 70-minütiges Komplettwerk im Doppel-LP-Format in die Welt und in die Gehörgänge gesetzt. Das feine Teil ist seit einer Woche im gut sortierten Plattenhandel und im Stream/Download-Netz zu haben.
(***** – ***** ½)
All the sings say pick up the pieces All the signs say make a stand as one What survives the long cold winter Will be stronger and can’t be undone (Jay Farrar/Son Volt, Back Against The Wall)
Das Musikjahr 2017 in Tonträgern (+ ein paar vom Vorjahr), ein wie immer höchst subjektives Rating. Eric Pfeil hat letztens in seiner Pop-Kolumne sinngemäß die Frage aufgeworfen, warum sich sowas hinsichtlich Output unbedingt auf ein Kalenderjahr beschränken muss, hat er natürlich einerseits völlig recht, aber andererseits: Jahr für Jahr „Paris 1919“ von John Cale auf Platz 1 wäre auch auf Dauer langweilig… so langweilig wie etwa der Großteil des Indie- und Alternative-Gelichters in 2017, dank willfährigem Erfüllungs-Journalismus bleibt das Abfeiern von Mainstream-artiger, glattproduzierter Supermarkt-Beschallung aus diesem Bereich indes bis auf Weiteres Konsens-fähig (die unsäglichen The War On Drugs als exemplarisch-passend-wie-A…-auf-Eimer-Platzhalter für all die Bonos, Nationals, Arcade Fires und alle anderen Weichspüler dieser Welt), aber warum soll es in der Musik anders sein als in vielen anderen Bereichen auch?
Das Spannungsgeladene, Entdeckenswerte, nicht bereits hundert Mal Gehörte fand sich meist neben den ausgetretenen Pfaden, man kann nur allen Künstlern und (Kleinst-)Labels dankbar sein, dass sie ihrer Musik eine Chance gaben und trotz trüber kommerzieller Aussichten in Zeiten der Downloads und Streaming-Dienste weder finanzielle Risiken noch Mühen scheuten, um ihre individuellen musikalischen Visionen auf den Weg zu bringen.
Herzlichen Dank allen, die hier regelmäßig oder sporadisch mitgelesen, reingehört, in den Kommentaren Feedback gegeben, angemerkt, kritisiert, widersprochen oder ergänzt haben.
2018 steht vor der Tür und drückt massiv rein. Möge es ein gutes Jahr werden, hoffentlich ein weitaus besseres als das vergangene, in vielerlei Hinsicht.
Rutscht gut rüber. Und bleibt vor allem gesund. Nothing else matters.
Platte des Jahres. Die Sturmvögel aus Paris präsentieren mit Gästen aus dem Nahen Osten eine der gelungensten Crossover-Arbeiten aus dem weiten Feld der experimentellen Rock-Musik. Auch live vor kurzem schwerst beeindruckend.
Instrumentale Wundertüte, dominiert von Crossover, Jazz, Metal – vor allem Hörer_Innen ans Herz gelegt, die ansonsten bei Crossover, Jazz und Metal rückwärts frühstücken…
Volker Bertelmann mit herausragendem Experiment im Grenzbereich Minmal Music, Ambient und Electronica, wer hätte anderes als Meisterliches von ihm erwartet?
Das Country-Blues-Album des Jahres von einem der Fleißigsten seines Fachs. Wermutstropfen: Mit dem geplanten Raut-Oak-Fest-Auftritt 2018 wird’s wohl nix werden…
Hätte bereits 2016 in die Wertung gehört. Der belgische Postrock von Bart Desmet und seinem Projekt in Anlehnung an die Cut-Up-Methodik von William S. Burroughs faszinierte heuer nicht minder…
Die Postmetal-/Doom-/Postcore-Institution aus Westflandern mit einem weiteren Kapitel an Kontemplation, Katharsis und entfesseltem Wahnsinn in berstender Monumental-Wucht.
„Whatever we do, it will be an Oxbow record of Oxbow music, meaning a lot of people probably won’t like it.“ – ein paar dürften ihn doch mögen, den virtuosen, herausragenden No-Wave-Jazz-Experimental-Hardcore-Krach der Kalifornier, live wie auf Tonträger.
Hervorragendes, aber leider viel zu kurzes erstes Postrock-/Neoklassik-Werk der englisch-französischen Kooperation, auch in der Live-Aufführung beim belgischen dunk!Festival von erlesener Güte.
Das Gebrüll von Jacob Bannon bei der Metalcore-Combo Converge mag nicht allerorts auf ungeteilte Zustimmung stoßen, seine Arbeiten mit dem Solo-Projekt Wear Your Wounds schon weitaus mehr.
Chris Forsyth & The Solar Motel Band – Dreaming In The Non-Dream (2017, No Quarter)
Tolles Post-irgendwas-/Psychedelic-Rock-Konglomerat von Chris Forsyth und seiner Solar Motel Band: der Musiker aus Philadelphia versteht es meisterhaft, US-amerikanische, durch jeweils charakteristisch-stilbildende Gitarristen geprägte Institutionen wie Grateful Dead, Crazy Horse, Dream Syndicate oder Television mit englisch geprägtem Früh-Siebziger Prog-/Kunst-Rock, instrumentalem Postrock-Ansatz und Space-/Krautrock-Anleihen in Einklang zu bringen, ohne irgendwelche schmerzhaften Brüche im Sound-Fluss wie in der Titelzusammenstellung zu offenbaren.
In den beiden zentralen Werken des aktuellen Albums nehmen sich Forsyth und seine Mitmusiker ergiebig Zeit zur Ausformulierung der musikalischen Vision, der Opener „History & Science Fiction“ lässt den ersten Teil des instrumentalen, von konterkarierender Rhythmusgitarre begleiteten, melodisch dominierten Indie-Rock-Flow in Van-Der-Graaf-/Roxy-Music-Frühphasen-angelehnte Art-Rock-Klangopulenz englischer Provenienz inklusive David-Jackson-/Andy-Mackay-verwandtem Gebläse übergleiten, eine 11-minütige, eindrückliche Demonstration des Zitierens wie individuellen Arrangierens ausgesuchter Blüten der progressiven Rockmusik. „Have We Mistaken The Bottle For The Whiskey Inside?“ vermengt reduziert-trashigen, stoischen Garagenrock mit dem neo-psychedelischen Paisley-Underground-Ansatz in dessen gespenstischster Ausprägung und versieht den ausgedehnten Gitarrenrocker mit einer dezenten, dunklen Blues-Note, im Folgenden frönt die Band im über 15-minütigen Instrumental-Titelstück ausgiebigst dem Space-Rock, inklusive gedehnt repetitiven Elementen, monotonen Bassläufen und entsprechendem, Effekt-heischendem Sci-Fi-Gefiepe, Wurlitzer-Gezirpe, Electronica-Gepfeife und Kraut-artigem Improvisations-Theater, Philadelphia-Ortsnachbar Jeff Zeigler besorgte die Schrauberei an den Synthie-Gerätschaften. „Two Minutes Love“ zum entspannten Ausklang ist in etwa das, was der Titel verspricht, auch hinsichtlich knapp bemessener Song-Länge, hingehauchte, verträumte wie völlig entschlackte Gitarren-Farbtupfer als unaufgeregte Instrumental-Balladenkunst.
Chris Forsyth und die Solar Motel Band offenbaren auf dem aktuellen Album ein exzellentes Gespür für die Rock-Historie und geben mit Deutungsansatz wie Fortschreibung Hoffnung und Anregung für den psychedelischen, Gitarren-dominierten Indie-Sektor.
(*****)
Chris Forsyth Live mit der Solar Motel Band, dem Nick Millevoi Duo und Loren Connors →nyctaper.com.