Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum. (Friedrich Nietzsche)
Zum Jahresende ein (sehr wahrscheinlich) letztes Mal, aus alter Gewohnheit, und um die Nummer hier zu einem halbwegs geschmeidigen Ende zu bringen: eine Kulturforum-Liste der Lieblings-Alben 2019, die Top 25 Longplayer, subjektiv, absolut unvollständig, in jedem Fall ergänzungswürdig, unfertig, ohne weitere Kommentare. Weil das Leben 2019 zu Teilen ein Irrtum war. Seit dem Spätsommer keine Platten-Besprechungen mehr in diesem Theater. Zeitmangel, dadurch bedingt fehlende Muse und zunehmend weniger Lust am Fabulieren. So manches Weitere wäre unbedingt erwähnenswert gewesen, das neue Großwerk der runderneuerten Swans, der aktuelle Output der grandiosen französischen Postrock-Experimentierer von Oiseaux-Tempête, die jüngste Song-Sammlung von Baby Kreuzberg, das exzellente Krautrock-Album „The Ground“ des Hamburger Quartetts Halma, mit „Odds Against Tomorrow“ ein weiteres Meisterwerk des US-Gitarristen Bill Orcutt, der zweite Wurf der Münchner Rembetiko-No-Waver The Grexits, um nur ein paar wenige, sträflich vernachlässigte Beispiele zu nennen. Es sollte nicht sein, und es wird wohl auch nicht mehr werden. Anyway, alles hat seine Zeit, und manchmal spielt die Musik eben wo anders…
Danke für’s Lesen, danke für’s Reinhören, alles Gute für 2020 und darüber hinaus.
All the sings say pick up the pieces All the signs say make a stand as one What survives the long cold winter Will be stronger and can’t be undone (Jay Farrar/Son Volt, Back Against The Wall)
Das Musikjahr 2017 in Tonträgern (+ ein paar vom Vorjahr), ein wie immer höchst subjektives Rating. Eric Pfeil hat letztens in seiner Pop-Kolumne sinngemäß die Frage aufgeworfen, warum sich sowas hinsichtlich Output unbedingt auf ein Kalenderjahr beschränken muss, hat er natürlich einerseits völlig recht, aber andererseits: Jahr für Jahr „Paris 1919“ von John Cale auf Platz 1 wäre auch auf Dauer langweilig… so langweilig wie etwa der Großteil des Indie- und Alternative-Gelichters in 2017, dank willfährigem Erfüllungs-Journalismus bleibt das Abfeiern von Mainstream-artiger, glattproduzierter Supermarkt-Beschallung aus diesem Bereich indes bis auf Weiteres Konsens-fähig (die unsäglichen The War On Drugs als exemplarisch-passend-wie-A…-auf-Eimer-Platzhalter für all die Bonos, Nationals, Arcade Fires und alle anderen Weichspüler dieser Welt), aber warum soll es in der Musik anders sein als in vielen anderen Bereichen auch?
Das Spannungsgeladene, Entdeckenswerte, nicht bereits hundert Mal Gehörte fand sich meist neben den ausgetretenen Pfaden, man kann nur allen Künstlern und (Kleinst-)Labels dankbar sein, dass sie ihrer Musik eine Chance gaben und trotz trüber kommerzieller Aussichten in Zeiten der Downloads und Streaming-Dienste weder finanzielle Risiken noch Mühen scheuten, um ihre individuellen musikalischen Visionen auf den Weg zu bringen.
Herzlichen Dank allen, die hier regelmäßig oder sporadisch mitgelesen, reingehört, in den Kommentaren Feedback gegeben, angemerkt, kritisiert, widersprochen oder ergänzt haben.
2018 steht vor der Tür und drückt massiv rein. Möge es ein gutes Jahr werden, hoffentlich ein weitaus besseres als das vergangene, in vielerlei Hinsicht.
Rutscht gut rüber. Und bleibt vor allem gesund. Nothing else matters.
Platte des Jahres. Die Sturmvögel aus Paris präsentieren mit Gästen aus dem Nahen Osten eine der gelungensten Crossover-Arbeiten aus dem weiten Feld der experimentellen Rock-Musik. Auch live vor kurzem schwerst beeindruckend.
Instrumentale Wundertüte, dominiert von Crossover, Jazz, Metal – vor allem Hörer_Innen ans Herz gelegt, die ansonsten bei Crossover, Jazz und Metal rückwärts frühstücken…
Volker Bertelmann mit herausragendem Experiment im Grenzbereich Minmal Music, Ambient und Electronica, wer hätte anderes als Meisterliches von ihm erwartet?
Das Country-Blues-Album des Jahres von einem der Fleißigsten seines Fachs. Wermutstropfen: Mit dem geplanten Raut-Oak-Fest-Auftritt 2018 wird’s wohl nix werden…
Hätte bereits 2016 in die Wertung gehört. Der belgische Postrock von Bart Desmet und seinem Projekt in Anlehnung an die Cut-Up-Methodik von William S. Burroughs faszinierte heuer nicht minder…
Die Postmetal-/Doom-/Postcore-Institution aus Westflandern mit einem weiteren Kapitel an Kontemplation, Katharsis und entfesseltem Wahnsinn in berstender Monumental-Wucht.
„Whatever we do, it will be an Oxbow record of Oxbow music, meaning a lot of people probably won’t like it.“ – ein paar dürften ihn doch mögen, den virtuosen, herausragenden No-Wave-Jazz-Experimental-Hardcore-Krach der Kalifornier, live wie auf Tonträger.
Hervorragendes, aber leider viel zu kurzes erstes Postrock-/Neoklassik-Werk der englisch-französischen Kooperation, auch in der Live-Aufführung beim belgischen dunk!Festival von erlesener Güte.
Das Gebrüll von Jacob Bannon bei der Metalcore-Combo Converge mag nicht allerorts auf ungeteilte Zustimmung stoßen, seine Arbeiten mit dem Solo-Projekt Wear Your Wounds schon weitaus mehr.
Bill Orcutt – Bill Orcutt (2017, Palilalia Records)
Faszinierender Mann aus der weiten Welt der experimentellen Improvisation mit sehr starkem Stoff: Bill Orcutt hat in den Siebzigern Blues-Legende Muddy Waters im „Last Waltz“-Film von Scorsese gesehen und daraus die Inspiration zum Erlernen des Gitarrenspiels mitgenommen, in den frühen Neunzigern gründete er in Florida zusammen mit seiner Frau Adris Hoyos die Noiserock-Combo Harry Pussy, mit atonalem Seitenanschlag und Themen über Sex und Gewalt spielte die Band eine Hand voll Alben im Spannungsfeld von No Wave, ruppigem Hardcore-Punk und jazzigen Atonal-Zumutungen ein und tourte mit Bands wie Sonic Youth und Sebadoh durch die Staaten. 1997 trennte sich Band und Ehepaar, Orcutt siedelte von der Ost- an die Westküste gen Kalifornien und nahm eine lange Auszeit von der Musik. 2009 kehrte er solistisch mit dem hochspannenden wie extrem Aufmerksamkeit fordernden Instrumental-Akustikgitarren-Werk „A New Way To Pay Old Debts“ zurück, das seinen Ruf als exzellenten Klang-Improvisateur begründete. Neben seinen Solo-Arbeiten und Konzerten hat Orcutt in den vergangenen Jahren mit Größen der experimentellen Musik wie Peter Brötzmann und Sir Richard Bishop zusammengearbeitet.
Mit dem aktuellen, selbstbetitelten 2017er-Album wechselt Bill Orcutt erstmals zur elektrischen Gitarre und wendet sich dem Blues zu, einer roh entworfenen Instrumental-Spielart zwischen erkennbaren Strukturen und Drone-artiger Abstraktion, ein Paradoxon von gleichzeitiger Tonalität und atonalem Ausbruch bedienend. Die fingerfertig vorgetragenen zehn Titel stimulieren im unbehandelten Zustand die atmosphärische Gefangennahme durch Hall und dezenten Feedback-Einsatz, eine geradezu in Space-Sphären erhebende Klangreise zwischen latent meditativer Ambient-Kontemplation und heftigen Gitarren-Riff-Ausbrüchen, die Bilder von kargen amerikanischen Wüsten und Valleys gleichsam heraufbeschwören wie das nahende, finstere Donner-Grollen eines sich in Bälde entladenden Sommergewitters in Luftfeuchtigkeit-durchtränkter Witterung. Hinter jeder Sturm-geprüften Scheune lauert die nächste Überraschung, ob es immer eine Stimmungs-aufhellende ist, ist alles andere als sicher, eine extrem fesselnde wird es in jedem Fall sein. Desert-Blues mit unvorhersehbaren Widerhaken in improvisatorischer Perfektion, zwischen strahlender Schönheit und düsterer Nachtmahr.
(***** – ***** ½)