Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum. (Friedrich Nietzsche)
Zum Jahresende ein (sehr wahrscheinlich) letztes Mal, aus alter Gewohnheit, und um die Nummer hier zu einem halbwegs geschmeidigen Ende zu bringen: eine Kulturforum-Liste der Lieblings-Alben 2019, die Top 25 Longplayer, subjektiv, absolut unvollständig, in jedem Fall ergänzungswürdig, unfertig, ohne weitere Kommentare. Weil das Leben 2019 zu Teilen ein Irrtum war. Seit dem Spätsommer keine Platten-Besprechungen mehr in diesem Theater. Zeitmangel, dadurch bedingt fehlende Muse und zunehmend weniger Lust am Fabulieren. So manches Weitere wäre unbedingt erwähnenswert gewesen, das neue Großwerk der runderneuerten Swans, der aktuelle Output der grandiosen französischen Postrock-Experimentierer von Oiseaux-Tempête, die jüngste Song-Sammlung von Baby Kreuzberg, das exzellente Krautrock-Album „The Ground“ des Hamburger Quartetts Halma, mit „Odds Against Tomorrow“ ein weiteres Meisterwerk des US-Gitarristen Bill Orcutt, der zweite Wurf der Münchner Rembetiko-No-Waver The Grexits, um nur ein paar wenige, sträflich vernachlässigte Beispiele zu nennen. Es sollte nicht sein, und es wird wohl auch nicht mehr werden. Anyway, alles hat seine Zeit, und manchmal spielt die Musik eben wo anders…
Danke für’s Lesen, danke für’s Reinhören, alles Gute für 2020 und darüber hinaus.
Nächster Schritt in Richtung solistische Etablierung: Der amerikanische Ausnahmegitarrist William Tyler wird im Line-Up seiner langjährigen Stammformation Lambchop mittlerweile als „Ex“ gelistet, bereits 2016 arbeitete er vorzugsweise am eigenen, grandiosen Instrumental-Werk „Modern Country“ und tauchte im selben Jahr weder in der Besetzungsliste zum gleichfalls nicht zu verachtenden Alternative-Country-/Electronica-Hybrid „FLOTUS“ noch im Reise-Tross zur konzertanten Promotion des Albums seiner ehemaligen Weggefährten um Wagner-Kurtl und Co auf, irgendwann in jenen Tagen müssen sich die Wege von Tyler und Lambchop getrennt haben.
Auf seinem Wurf vor zweieinhalb Jahren glänzte der Musiker aus Nashville/Tennessee mit einem Mix aus Ambient, Akustik-Folk und Country-Experimenten, der neben brillanten Gitarren-Meditationen vor allem durch seine glasklare Reinheit bestach, an diesem Ansatz knüpft er jetzt mit seiner jüngsten Veröffentlichung in voller Band-Montur nahtlos an und gibt ihm eine dezent neue Richtung.
Auf „Goes West“ präsentiert sich Tyler als versierter Vertreter einer zeitgemäßen Spielart der American Primitive Guitar, in der er mit ruhiger Hand, quasi mit links, eine Vielzahl an folkloristischen Elementen aus unterschiedlichsten Ecken dieser Erde einfängt und mit seiner Interpretation von instrumentaler Country-Musik und tiefenentspannter Americana in Verbindung bringt. Tyler ist ein Meister der filigranen, einfachen und unaufgeregten Strukturen, einer, der mit seinem exorbitanten Können nicht hausieren gehen muss, weil es für jeden Menschen mit halbwegs funktionierenden Gehörgängen in jedem Ton evident ist. Die technische Finesse ist das eine, ohne Seele bleibt das letztendlich immer nur antrainierter Sport, William Tyler musste sich über derart Eindimensionales hingegen noch nie den Kopf zerbrechen, heute nicht anders als in vergangenen Zeiten kommt in den aktuellen Arbeiten einmal mehr sein Talent für griffige, anrührende Melodien zum Tragen. Trotz sparsamer Tempi-Wechsel und unkomplizierter Kompositionen trägt das Konzept über die volle Distanz. Bill Frisell, ein weiterer hochverehrter Großmeister der sechs Saiten, steuert seine elektrischen Gitarren-Tunes auf der finalen Nummer „Our Lady Of The Desert“ bei, hier haben sich wahrlich zwei herausragende Vertreter ihrer Zunft in segensreicher Mission zusammengetan.
Vielleicht ist diese Welt nicht mehr zu retten, immerhin wird sie durch Ohrenschmeichler und Seelenmassagen, wie sie auf „Goes West“ zuhauf zu finden sind, etwas erträglicher. Seit Ende Januar als Naturheil-Präparat in analogen und digitalen Formaten beim Sound-Pharmazeuten Ihres Vertrauens vorrätig.
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„That’s fantastic that you’re passionate about cardboard and listening to music on multi colored plastic You’re a collector of rare vinyl, a total fanatic, that’s completely absolutely hip, motherfucking fantastic But I’m more concerned with how I feel“ (Jesu/Sun Kil Moon, Good Morning My Love)
Tonträger-Ranking 2016. Eine rein subjektive Zusammenstellung, die keinerlei Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt und selbstredend viele Lücken aufweist, man kann bei weitem nicht alles hören und gebührend würdigen, was von Interesse wäre.
Weg von der klassischen Songstruktur, hin zu instrumentalen Klang-Epen, so die individuelle Hörer-Tendenz im dahinscheidenden Jahr. Viele alte Helden haben sich reihenweise mit im besten Fall uninspirierter Durchschnittsware in die Belanglosigkeit verabschiedet, eine der wenigen rühmlichen Ausnahmen war Leonard Cohen mit seinem finalen „You Want It Darker“-Werk, aber der hat sich dann leider postwendend nach Veröffentlichung endgültig ganz woanders hin verabschiedet.
Kulturforum-Top-100 2016, ein paar Scheiben auch noch aus 2015, aufgeteilt in die Sparten Reguläre, Sampler, Bergungskommando, here we go:
(09) Russian Circles – Guidance (2016, Sargent House)
Das Postmetal-Trio aus Chicago bleibt eine verlässliche Größe des Genres und liefert mit „Guidance“ eine ihrer bis dato besten Arbeiten ab.
Das war’s für 2016. Kein schlechtes Musikjahr. Der schmutzige Rest in der realen Welt: Für die Zukunft viel Luft nach oben, keine Frage. Gerhard Polt würde sagen: „Wir stehen vor schwierigen Herausforderungen, die sehr schwierig sind.“
Kommt gut rüber ins neue Jahr, ich wünsche Euch für 2017 nur das Beste, bleibt auf Sendung, habt Glück und bleibt vor allem gesund. Danke an alle, die hier mitgelesen haben, danke für die Rückmeldungen, Anmerkungen, Kritik und Ergänzungen in den Kommentaren. Highly appreciated. Und jetzt hoch die Tassen…
Lambchop – FLOTUS (2016, City Slang / Merge)
Vier Jahre nach dem sehr traurigen, sehr getragenen „Mr. M“ (2012, Merge Records) kommen Kurt Wagner und die Seinen mit neuem Album und neuem Schwung zurück, viel war die Rede von Neu-Erfinden, Rundum-Reform, Weiterentwicklung des Lambchop-Klangbilds, und das ist auch soweit alles richtig, was sich die Fachpresse dahingehend zu „FLOTUS“ aus den Fingern gesaugt hat.
FLOTUS: „For Love Often Turns Us Still“ soll’s ausgeschrieben heißen, nicht „First Lady Of The United States“, wie einige anmerkten – die Nummer hat sich seit dem gestrigen Wahl-Sieg des durchgeknallten Immobilienmaklers für den Demokraten Wagner sowieso erledigt. Eingerahmt von dezent groovenden, überlangen Werken, die mit zum Besten gehören, was das Musikjahr 2016 zu bieten hat – fast 12 Minuten „In Care Of 8675309“ zum überwältigenden Einstieg und dem über 18-minütigen „The Hustle“ als glorreiches Finale – zelebrieren Wagner und Co. auf höchstem Niveau die Zusammenführung der vertrauten, tiefenentspannten Alternative-Country-/Soul-Welt, wie man sie seit vielen Jahren von Alben-Meisterwerken wie „Nixon“ oder „Is A Woman“ der Band kennt und schätzt, und dezenten, den Sound in eine neue Richtung treibende Electronica-/Ambient-/Triphop-Zutaten, Kurt Wagner hat dahingehend mit seinem HeCTA–Nebenprojekt bereits ordentlich vorgearbeitet und Erfahrungen gesammelt.
Weg vom orchestralen Sound, den die Band in der Vergangenheit mit Streichern und Bläsern zu perfektionieren wusste, hin zu abgespeckten Soundstrukturen, oft nur Piano, Bass, Drum-Machine und punktuell eingesetzte Electronica erschaffen einen Klang zwischen trägem, Ambient-artigem, kargem und unaufdringlichem Ruhe-Modus und einer dezent nach vorne drängenden, gedämpften Rhythmik, dem Salz in der Suppe, sozusagen, und über allem schwebt diese unnachahmliche, abgeklärte, nichts aus der Ruhe bringende Stimme des Ausnahme-Country-Crooners Kurt Wagner, die emotional wärmt und dafür sorgt, dass diesem geloopten und anderweitig nachbehandeltem Wunderwerk nicht zuviel technische Kälte innewohnt, da kann selbst der punktuell eingesetzte Stimmverzerrer TC-Helicon Voicelive 2 keinen Schaden anrichten.
Lambchop wissen immer noch zu überraschen, mit „FLOTUS“ vielleicht mehr denn je. Ein Schritt in die richtige Richtung und ein mutiger Ansatz Wagners, wie er in Langeweile erstarrten Kollegen wie etwa Jeff Tweedy offensichtlich seit einiger Zeit völlig abhanden gekommen scheint. 2016 ist ein wunderbares Lambchop-Jahr, neben dem aktuellen Band-Werk gab es bereits im Sommer die feine Solo-Instrumental-Arbeit „Modern Country“ des Meister-Gitarristen William Tyler zu bestaunen.
Lambchop spielen 2017 im Rahmen der anstehenden Europatournee am 15. Februar in den Münchner Kammerspielen.
(*****)
William Tyler – Modern Country (2016, Merge)
Post-Country, gibt’s den Begriff schon? Mindestens für den mutigen, experimentell angehauchten Opener „Highway Anxiety“ und den fulminanten Schlusspunkt „The Great Unwind“ müsste über diese Etikettierung nachgedacht werden, die fünf anderen Stücke des neuen William-Tyler-Albums dürften mit gängigeren Kategorisierungen wie Instrumental-Ambient-Folk und punktuellen, aber kaum dominanten Querverweisen zu Kottke, Knopfler, Frisell und Paris-Texas-Cooder auskommen, in allen Fällen ist eine exzellente Qualität der Aufnahmen garantiert.
Tyler, the unsung Hero der amerikanischen Alternative-Country-Gitarristen, hat in vergangenen Jahren stets, auch auf hiesigen Bühnen, als führender Saiten-Mann im Lambchop-Kombinat vom Wagner-Kurtl, bei dessen launigem Country-Nebenprojekt Kort oder auch auf diversen Silver-Jews-Tonträgern schwerst überzeugt, auf ‚Modern Country‘ liefert der junge Mann aus Nashville/Tennessee im Verbund mit dem Multi-Instrumentalisten Phil Cook, dem Tweedy-Bassisten Darin Gray und Wilco-Trommler Glenn Kotche einen wunderbaren Strauß an Gesang-freiem Wohlklang, der einmal mehr sein herausragendes Talent als hochtalentierter Gitarrist unter Beweis stellt. Das aktuelle Material besteht größtenteils aus melodischen Breitband-Kompositionen, es entfernt sich zusehends von den Akustik-Gitarren-Meditationen seiner früheren Solo-Einspielungen und setzt sich in Klangbildern gemäß den Statements zur Platte thematisch mit den verlorenen Werten Amerikas, dem Verfall nationaler Institutionen und zunehmender Unsicherheit in Bezug auf die Zukunft des Landes auseinander.
Der britische Starkoch Jamie Oliver haut gern mal den Spruch „Not my cup of tea“ raus, wenn ihm was gegen den Strich geht, die neue Platte vom William Tyler hingegen ist absolut/total/definitiv/sowas-von meine Teetasse, ohne jeden Zweifel…
(***** – ***** ½)
William Tyler Live @ Capitol Theatre, Port Chester/NY, 2016-02-02 + Mercury Lounge, New York/NY, 2015-06-26 -> nyctaper.com
Austin Lucas – Between The Moon & The Midwest (2016, Last Chance Records)
Der Mann aus Bloomington/Indiana hat die vergangenen zehn Jahren den Weg vom Punk-infizierten Folk hin zum Nashville-angelehnten Country beschritten, auf seiner jüngsten Veröffentlichung bietet er beseelte, herzzerreißende, mit empathischem Gesang vorgetragene Balladen, gestandene Honky-Tonk-Kracher und die mit viel Schmalz unterlegten ganz großen Prärie- und von Hoffnungslosigkeit durchwirkten Verlassenheits-Gefühle – lobenswerter Weise mit deutlich mehr Schlagseite zum Alternative Country als zu Garth Brooks.
Soviel Soul und tiefempfunden Authentisches war lange nicht mehr in der amerikanischen Sattelschlepper-Musik…
(**** – **** ½)
Bob Dylan – Fallen Angels (2016, Sony)
Lange überlegt, ob man über diese Belanglosigkeit überhaupt groß Worte verlieren soll, aber nachdem Mr. Zimmerman altersmäßig vor kurzem ein Dreivierteljahrhundert vollgemacht hat, dann doch ein paar Anmerkungen: (1) Alles Gute nachträglich zum Geburtstag. (2) Auf seinem 37. Studio-Album ‚Fallen Angels‘ nölt sich Bob der Meister mit einer vermutlich durch Einsatz entsprechender Studiotechnik aufgebrezelten Stimme durch 12 klassische amerikanische Fremdkompositionen, musikalisch unterlegt mit tendenziell leicht fadem Country-Swing und artverwandtem, unaufgeregtem Geplätscher, überwiegend etwas erträglicher als auf diesem Sinatra-Müll vom Vorjahr. (3) Im Zuge der Sozial-Reformen sollte dringend in Erwägung gezogen werden, in Zukunft altgediente Pop-Ikonen der Zwangsverrentung zuzuführen, allein schon als Schutzmaßnahme gegen die schleichende Demontage der eigenen Legende.
(** ½ – ***)